Judas Ischariot (Hebräisch יהודה איש־קריות Yəhûḏāh ʾΚ-qəriyyôt) erscheint im Neuen Testament als einer der zwölf Nachfolger des Jesus von Nazaret, die dieser persönlich als Apostel (Verkünder) berief. Nach allen vier Evangelien soll er in Jerusalem Jesu Festnahme im Garten Getsemane und Auslieferung an den Sanhedrin, das höchste Religionsgericht des damaligen Judentums, ermöglicht haben. Weitere Evangelienangaben zu ihm sind historisch ungewisse Einzelüberlieferungen.

Name
Der Name Judas ist die griechische Form von Juda. Dies war im damaligen Israel ein häufiger männlicher Vorname, der auf einen der zwölf Söhne Jakobs, des biblischen Stammvaters der Zwölf Stämme Israels, zurückgeführt wird. Diesen Vornamen trug auch ein anderer Apostel Jesu (Judas Thaddäus).
Der Beiname (nicht Nachname) Ischariot wird zum einen als Isch Kariot, Mann aus Kariot - ein Dorf in Judäa - gedeutet. Dann wäre Judas der vermutlich einzige Judäer unter den zwölf Jüngern gewesen, die sonst alle aus Galiläa stammten. Zum anderen wird vermutet, dass Judas Mitglied der Sikarier („Messerkämpfer“) war: So nannten die Römer, die Israel damals militärisch besetzt hatten, jene Angehörigen der nationalen jüdischen Befreiungsbewegung der Zeloten, die nach Art eines Guerillakampfes Attentate gegen römische Beamten und Soldaten verübten.
Biblische Überlieferung
(Maler: Unbekannter Künstler)
In den synoptischen Evangelien erscheint der Name Judas Iskariot erstmals jeweils in den Jüngerlisten, die die zwölf erstberufenen Jünger Jesu aufzählen. In Mk 3,19 EU, dem Mt 10,4 EU und Lk 6,19 EU fast wörtlich folgen, wird nur beim Namen Judas sofort auf dessen künftige Rolle in der Passionsgeschichte Jesu hingewiesen: ‚‘‘...der ihn später verriet‘‘.
Im näheren Kontext der Jüngerberufung gehört Judas nach Mk 3,34 EU jedoch zunächst ganz selbstverständlich zu denen, die Jesus als ‚‘Brüder“ anspricht mit der Begründung: Alle, die Gottes Willen ausführten, seien seine nächsten Verwandten. Auch in der Aussendungsrede Mk 6,13 EU gehört Judas zu den Jüngern, von denen es heißt:
- ‘‘‘Und sie gingen aus und predigten, man solle Buße tun, und trieben viele böse Geister aus und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund.‘‘
Er wird auch in der weiteren Darstellung nirgends als einer der Jünger hervorgehoben, die Zweifeln oder Fragen an Jesu Sendung stellten.
Erst nach dem Tötungsplan der Sadduzäer (Mk 14,1f EUwird Judas unvermittelt als der genannt, der Jesus an seine jüdischen Feinde verriet, wofür sie ihm Geld versprachen (Mk 14,10f EU). Im Bericht vom letzten Mahl (Mk 14,12-26 EU) kündet Jesus selbst diesen Verrat an , weist dabei auf Gottes vorherbestimmten Willen hin und warnt den Verräter dennoch, seinen Plan auszuführen: „Es wäre besser, jener Mensch wäre nie geboren“. Die Einsetzungsworte lassen dann aber keinen Zweifel daran, dass Judas vorweg Anteil an der Sündenvergebung erhielt: Er trank mit allen anderen Jüngern aus dem Kelch, den Jesus als „Blut des neuen Bundes“ deutete.
Das Johannesevangelium gibt der Person Judas auch in Texten eine Sonderrolle, wo er sie in den vorgefundenen Texten der älteren Evangelien nicht hatte. Während nach Mk 14,4 EU „etliche“ Jünger gegen die Salbung Jesu mit kostbarem Nardenöl protestierten und fragten, warum man dieses nicht lieber verkauft und den Erlös den Armen gegeben habe, tat dies nach (Joh 12,4ff EU) nur Judas. Der Folgesatz kommentiert dies wie folgt:
- ‘‘Das sagte er aber nicht, weil er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb und hatte den Beutel und nahm an sich, was gegeben wurde.‘‘
Demnach war Judas eine Art „Kassenwart“ der Jünger, der ihre Geldmittel verwalten sollte, aber einen Teil davon unterschlug. Die Aussage widerspricht der synoptischen Aussendungsrede, wonach keiner der zwölf Jünger unterwegs einen Geld- und Vorratsbeutel mitführen durfte (Mk 6,8 EU).
Judas soll Jesus nach dem letzten Mahl für 30 Denare ("Judas-Silberlinge") verraten haben, was etwa dem Monatslohn eines Handwerkers entsprach. Er führte nach allen Evangelien Jesu Verfolger zu dessen Aufenthaltsort im Garten Getsemani und identifizierte ihn für sie mit einem Kuss.
Das Motiv des Judas, Jesus zu verraten, wird bei Joh 12,4-6 mit Habgier angedeutet. Als tiefer liegende Motivation wird Enttäuschung vermutet: Judas habe in Jesus den erhofften Befreier und Kämpfer gesehen, der die Römer vertreiben sollte. Jesus aber verkündete stattdessen ein Gottesreich (Joh 18,36), das nichts mit weltlicher Herrschaft gemein habe.
Judas soll seine Tat später bereut haben und darüber verzweifelt sein. Nachdem Jesus verurteilt worden war, soll er sich nach Mt 27,3ff EU erhängt haben. Apg 1,18 EU zufolge barst er mitten entzwei, und alle seine Eingeweide traten heraus.
Apokryphe Überlieferung
In apokryphen gnostischen Schriften wie dem frühchristlichen Judasevangelium wird Judas als der Jünger gesehen, der die Erlösungsgeschichte durch seinen 'Verrat' erst ermöglicht hat und damit im Dienst Jesu stand.
Theologische Deutungen der Judasfigur
Judas ist als wichtige Person in der Heilsgeschichte immer wieder von christlicher Theologie betrachtet worden. Sein Verhalten wirft die Frage nach dem Verhältnis von Vorherbestimmung (Prädestination) und freiem Willen des Menschen auf. Die Frage bleibt offen, ob sich Judas hätte anders entscheiden können oder ob er sich so hat entscheiden müssen. Viele Kirchenväter tendierten eindeutig zu ersterem, anders z. B. Origenes, der in Judas einen Heiligen sieht.
Nach der jüdischen Überlieferung war Judas ein Zelot, ein "Eiferer". Das heißt, er gehörte zu der Gruppe jener Juden, die damals einen bewaffneten Kampf gegen die Römer wollten. Er habe Jesus zwingen wollen, sich als Messias zu offenbaren, weil er geglaubt habe, Jesus habe von JAHWE die Macht, die Juden von den Römern zu befreien. Er habe ihn an die Römer verraten, um ihn zu zwingen, seine Allmacht zu offenbaren. Als Judas jedoch gesehen habe, dass Jesus nur ein sterblicher Mensch sei (Rudolf Augstein: Jesus Menschensohn), habe er Selbstmord begangen. Jesus wiederum habe geahnt, dass Judas ihn verraten würde, und dies auch beim Abendmahl vorhergesagt. Er habe aber auch geahnt, dass Judas, wenn ihm klar werden würde, dass er, Jesus, nur ein sterblicher Mensch sei, Selbstmord verüben würde. Das habe Jesus in Kauf genommen, um "seine Mission" zu erfüllen.
(Fresko von Giotto di Bondone; Ausschnitt)
Die neuere Literatur[1] befasst sich mit der sukzessiven Entwicklung der Gestalt des Judas Ischariot in den Evangelien und in der frühen nachchristlichen Literatur. Während sich in den (paulinischen und anderen) Episteln (entstanden zwischen 48 und 65) kein Hinweis auf Judas Ischariot findet, ist erstmals im Markusevangelium (68 oder 70) eine Judas-Tradition zu verzeichnen.
Das Bild des Judas wird negativer, je weiter sich die Zeit vom Tode Jesu entfernt. Bereits im Johannesevangelium (ca. 100) und in der direkt nachfolgenden Literatur (z. B. bei Irenäus) sind Schauergeschichten über das Leben und den Tod Judas' zu verzeichnen. Johannes Chrysostomos verfasste, mit Bezug auf die angebliche Tat des Juden Judas Ischariot, Regeln für den Umgang mit Juden, die im Mittelalter und im Nationalsozialismus oft wörtlich in Gesetzesform gegossen wurden.
"Verrat" oder "Übergabe"?
Die Frage nach "Verrat" oder etwas milder "Übergabe" wirft nur scheinbar semantische Schwierigkeiten auf. Ein inhaltlicher Unterschied kann nicht durch ein Auseinanderdividieren von para-didomi und pro-didomi konstruiert werden, um Judas auf diese Weise in ein besseres Licht zu stellen: Das griechische Wort paradidomi, welches an den entsprechenden Stellen verwendet wird, heißt "übergeben" (bei Personen im Sinne von "ein Gerichtsdiener übergibt jemanden dem Richter" und oft "dem Feinde ausliefern" oder bei entsprechendem Kontext "zur Kreuzigung übergeben"). So gesehen, ist zwischen Verrat und Übergabe zur Hinrichtung kein wirklicher Unterschied. Genau das belegen Stellen wie Mk 14,10, wo der Autor Judas' Tun mit prodidomi ausdrückt, und Lk 6,16, wo Judas eindeutig als prodotes gebrandmarkt wird.
Abgrenzung vom Judentum
Es wird heute vielfach angenommen, dass die erste Kirche sich nach 70 vom Judentum absetzen musste und eine Klärung der Mitgliedschaft erreichen wollte. Im Abendmahl wurde daher auf die nun mehr negativ uminterpretierte Tat des Juden Judas rekuriert, um ähnlich wie im Birkat HaMinim ("Ketzersegen") im Achtzehngebet (Amidah) die eindeutige Zuordnung der Glaubensbrüder und -schwestern zu fordern.
Judas als Werkzeug
Eine weitere neuzeitliche Deutung besagt, dass Judas Ischariot mit Wissen Jesu gehandelt und mit den Hohepriestern verhandelt habe. Auf Grund von religiösen Bestimmungen konnte der Messias sich nicht selbst offenbaren, sondern musste von anderen erkannt und bezeugt werden. Die Hohepriester hatten ein Interesse daran, den Messias kennenzulernen, und offerierten - als zustimmendes Zeichen - die 30 Silberlinge[2], den Kaufpreis für einen Sklaven bzw. den Gottesknecht[3]. Beim Gespräch im Palast des Hohenpriesters schlug dann die ursprünglich positive Stimmung um, und der Vorwurf der Gotteslästerung durch Jesus wurde laut. Damit nahm die Entwicklung zu Kreuzigung und Auferstehung ihren Lauf - und nicht die Erlösung durch die Anerkennung des Messias im Tempel. Die Gelegenheit für eine andere Entwicklung als die der Kreuzigung und Auferstehung wird in dem Gebet im Garten Getsemani angedeutet.
Ohne Kenntnis der ein halbes Jahrhundert später begonnenen theologischen Diskussion hat Dietzenschmidt schon 1930 in seiner Judastragödie in vier Akten "Der Verräter Gottes" Judas als den Jünger vorgestellt, der als einziger den Willen des "Lammes Gottes" versteht. Nach Jesu Geheiß [4] bringt er dessen Übergabe in der Tat auf den Weg. Erst mit dieser Übergabe beginnen Opfertod und Erlösung wirklich. Innerlich aber scheitert Judas dann daran, dass er sich als vermeintlicher Lenker von Gottes Schicksal über Gott erhoben zu haben glaubt.
Jesus und Judas als gescheiterte Putschisten
Auch einige katholische Theologen stellen neuerdings den angeblichen "Verrat" des Judas in Frage. Viele Ungereimtheiten in den Überlieferungen wecken ihren Verdacht, dass Judas einen gemeinsamen Plan mit Jesus ausführen wollte. Vermutet wird, dass Judas einen Aufstand zum Passahfest provozieren wollte, indem er Jesus nur zum Schein an die Sadduzäer verriet. Dann sei Jesus zumindest eingeweiht gewesen und habe zugestimmt. Allerdings sei das gemeinsame Vorhaben gescheitert, und Judas habe sich aus Entsetzen über den fehlgeschlagenen Plan und die Folgen – Jesu Auslieferung an Pilatus – getötet (Mt 27,3-6 EU).
Diese Theorie schließt an die schon früher vertretene These an, Jesus sei ein Zelotenführer gewesen. Einige Hinweise in den Evangelien scheinen nahezulegen, dass er einen bewaffneten Aufstand vorbereiten wollte:
- Während Jesus seinen Jüngern in Galiläa befohlen hatte, das Reich Gottes ohne Waffen zu verkünden (Mk 6,7-13 EU), warnte er sie später vor Verfolgung und Martyrium (Mk 10,32-39 EU).
- Er betonte nun, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert und den Kampf (Lk 12,49-53 EU).
- Später, unterwegs nach Jerusalem, befahl er seinen waffenlosen Jüngern, Mäntel für Schwerter zu tauschen.
Der weitere Kontext widerspricht jedoch diesem Eindruck:
- Weil jeder seiner Jünger wie die meisten Bettelarmen nur ein Obergewand besaß, bekamen sie nur zwei Schwerter dafür. Das war Jesus dann „genug“ (Lk 22,35-38 EU).
- Dem entspricht, dass nur einer seiner Jünger Jesus mit dem Schwert zu verteidigen versuchte, als er festgenommen wurde (Mk 14,47 EU). Aber Jesus soll ihn sofort gestoppt und die Wunde des verletzten Soldaten geheilt haben (Lk 22,51 EU).
Die Evangelien haben die Erinnerung an eine Nähe Jesu zu den Zielen, nicht den Mitteln der Zeloten also nicht völlig getilgt. Dass die Jünger nicht seine Festnahme, sondern die messianische Befreiung Israels erwarteten und Jesu Tod eine Katastrophe für sie war, ist im NT unübersehbar, allerdings mit ihrem Verhalten nach Ostern nur schwer in Einklang zu bringen. Danach wurde Jesu Kreuzigung von der urchristlichen Gemeinde als Opfertod und seine Selbstauslieferung als vorherbestimmter Wille Gottes gedeutet (Mk 8,31 EU Mt 16,21 EU).
Referenzen
Literatur
- Andrew Cockburn: Das Judas-Evangelium. Wissenschaftler gelang es jetzt, den Text eines etwa 1700 Jahre alten Papyrus zu entziffern. Er lässt Judas, den Verräter Jesu, in neuem Licht erscheinen - Handelte der Apostel im Namen Gottes, als er seinen Meister auslieferte?, in: National Geographic Deutschland Mai 2006, S. 40-61
- William Klassen: Judas: Betrayer or Friend of Jesus? Augsburg Fortress Canada 1996, ISBN 080062968X
- Martin Meiser: Judas Iskariot. Evangelische Verlagsanstalt 2004, ISBN 3374022154
- Martin Hengel: Die Zeloten. Brill-Verlag, Leiden 1961
- Gregor Wurst: War er kein Schurke? Das Judas-Evangelium führt uns in jene unruhige Zeit, als die frühen Christen ihre Identität suchten, in: National Geographic Deutschland Mai 2006, S. 62-71
Weblinks
- Forschungsergebnisse über die Rolle Judas im Judasevangelium
- William Klassen: Judas war kein „Verräter“
Personendaten | |
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NAME | Judas Ischariot |
ALTERNATIVNAMEN | Judas Iskariot, Judas Iskarioth, Judas Ishkariot, Judas Ish-Kariot |
KURZBESCHREIBUNG | Jünger Jesu |
GEBURTSDATUM | unbekannt |
GEBURTSORT | vielleicht Karioth |
STERBEDATUM | 30 oder 33 oder unbekannt |
STERBEORT | vielleicht Jerusalem |