Feindesliebe
Als Feindesliebe bezeichnet man im jüdisch-christlichen Kulturraum eine bestimmte Auslegung des biblischen Gebots der Nächstenliebe (3. Mose 19, 17-18), die in der hebräischen Bibel mit dem Völkersegen Israels verbunden ist und besonders im rabbinischen Reformjudentum vertreten wird. Sie wurde dann auch in der Verkündigung des Juden Jesus von Nazareth vertreten und praktiziert.
Feindesliebe ist im bhuddistisch beeinflussten Kulturbereich ein grundlegender Bestandteil der Achtsamkeit allen fühlenden Wesen gegenüber und eine entscheidende Motivation, das Loslassen von negativen Emotionen mit dem Feind und von ihm zu lernen.
Feindesliebe als Segensauftrag des erwählten Volkes
Gottes Bund mit Abraham enthält die Verheißung für das ganze Volk Israel (1. Mose 12, 2-3):
- Ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in Dir sollen gesegnet werden alle Generationen der Erde.
Dieser Segen bestimmt Israels Aufgabe in der hebräischen Bibel. Darum segnet das Befolgen der Tora in Israel zugleich alle übrigen Völker der Erde. In der Sinnrichtung dieser Erwählung Israels zum Völkersegen liegt ebenfalls von vornherein die Feindesliebe. Denn weil Gottes Ziel die Durchsetzung des Völkersegens ist, übergreift "Ich will segnen, die dich segnen" die negative Kehrseite "Ich will verfluchen, die dich verfluchen". Dort, wo Israel seine Aufgabe wahrnimmt und die Völker segnet, kann und muss der Fluch gegen das erwählte Volk überwunden werden: "Ich werde auch die segnen, die dich (noch) verfluchen."
Feindesliebe als Gebot in der hebräischen Bibel
Das Gebot der Nächstenliebe ist ein Zentralgebot des Heiligkeitsgesetzes. Es erscheint als Offenbarung an Mose und lautet vollständig (3. Mose 19, 17-18):
Du sollst Deinen Bruder nicht hassen in Deinem Herzen, sondern Du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; (denn) Ich bin JHWH!
Die Begründung dafür lautet (3. Mose 19, 2):
Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig, JHWH, euer Gott.
Damit ist Nächstenliebe als Zentralforderung des Exodus- und Bundesgottes definiert: Kein Angehöriger des erwählten Volkes Israel kann sich diesem Gebot entziehen.
Im gleichen Kontext steht auch das Gebot (3. Mose 19, 33-34):
Den Fremdling, der bei euch in eurem Land wohnt, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland: Ich bin JHWH, euer Gott.
Der Nächste ist jeder Angehörige des Bundesvolkes. Und der Nächste ist genauso jeder Fremde, der in Israel wohnt. Sein Schutz erfährt die direkteste und stärkste Begründung, die in der Tora möglich ist: "ICH bin JHWH, euer Gott!"
So lässt sich Nächstenliebe von vornherein nicht einschränken, sondern verpflichtet zum Schutz der Fremden. Damit liegt die Einbeziehung der Feinde in und außerhalb Israels bereits nahe und entspricht der Sinnrichtung des Gebots.
Jesu Toraauslegung: Versöhnung, Gewaltverzicht und Entfeindung
Jesu Aussagen zur Feindesliebe stehen im Kontext der Bergpredigt. Die "Antithesen" (Toraauslegung) folgen den "Seligpreisungen" (Heilszusagen). Darin wiederholt sich das gefälle der hebräischen Bibel: Befreiung und Bundesverheißung gehen der Gesetzesoffenbarung voraus und bestimmen ihren Sinn.
Die "Antithesen" beziehen sich insbesondere auf den Dekalog, das ius talionis (Vergeltungsrecht) und das Gebot der Nächstenliebe. Sie gehören zusammen und interpretieren sich gegenseitig.
Mose: Mt 5, 21: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist (apodiktischer Rechtssatz): "Du sollst nicht morden!" (kasuistischer Rechtssatz: Tat - Sanktion) "Wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein."
Jesus: Mt. 5, 22: Ich aber sage euch (Tat - Sanktion): Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen. Und wer zu seinem Bruder sagt: "Du Nichtsnutz!", der soll dem Urteilsspruch des Hohen Rates verfallen sein. Wer aber zu ihm sagt: "Du gottloser Narr!", soll dem Feuer der Hölle verfallen sein.
Jesus bezieht sich also auf tradiertes kasuistisches Recht: Ein bestimmtes verwerfliches Tun – Mord – hat eine bestimmte Sanktion – Gerichtsverfahren mit Todesurteil – zur Folge. Dieser Rechtssatz wird auf Mose, Israels Gesetzgeber, zurückgeführt. Er gilt damit als Wille Gottes.
Dem stellt Jesus pointiert ebenfalls formale Rechtssätze gegenüber, die er in seiner eigenen Person begründet. Diese provokative Gegenüberstellung ("Mose" -"Ich") wird noch dadurch gesteigert, dass Jesus in den 3 Fallbeispielen einer weit geringeren Tat als Mord je eine im Vergleich zur Tradition größere Strafe folgen lässt: Schon auf Zorn folgt ein Strafprozess, schon auf Beschimpfen folgt ein Verfahren vor dem obersten Gerichtshof, der für Todesurteile zuständig war. Und wer einen anderen Juden verbal aus Gottes Volk ausschließt, dem droht ewiger Tod im Endgericht Gottes.
Jesus stellt sich damit aber nicht gegen das von Mose autorisierte jüdische Gesetz. Denn er leitet seine neuen formalen Rechtssätze betont subjektiv ein: „Ich aber sage euch!“ Eine solche individuelle Anmaßung kann keinen Anspruch auf allgemeingültiges Recht erheben. Das „Ich“ und das „wenn – dann“ schließen einander aus. Jesus wollte also kein neues Gesetz, keine Sonderfälle und Straferhöhungen einführen. Sondern er übertreibt ganz bewusst die weiter gültigen Forderungen der Tora. Er übersteigert und radikalisiert sie provokativ, um so auf das Wesentliche hinzuweisen: Gottes Willen !
In jedem denkbaren Fall geht es um die Grundeinstellung zum Mitmenschen. Sie ist entscheidend, nicht die Schwere der Tat. Genau genommen ist Jeder ein potentieller Mörder, der seinen Nächsten hasst und beschimpft. Genau genommen droht Jedem von uns die Hölle!
Mt 5, 23f: Wenn Du Deine Opfergabe zum Altar bringst, denk nach: Mit wem habe ich noch Streit? Fällt Dir dabei ein, dass Dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass Deine Gabe dort vor dem Altar liegen. Geh und versöhne Dich zuerst mit Deinem Bruder: Dann komm und opfere Deine Gabe.
Das ist die Rettung aus der Hölle: Denk nach, welche ungelösten Konflikte du lösen musst, bevor du Gott gegenüber trittst. Jesus stellt dem Gottesdienst die nötige Versöhnung mit dem Mitmenschen gegenüber. Er gibt dieser Versöhnung Vorrang vor jeder kultischen Handlung.
Auch damit stellt Jesus sich nicht gegen biblische Überlieferung. Bei Hosea (6, 6) z.B. heißt es: "Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer." Hier fordert Gott durch seinen Propheten Liebe und Erkenntnis seines wahren Willens: nämlich Recht und Gerechtigkeit für die Armen! Die Opfer dagegen sind lieblos und blind, weil sie die Armen verhungern lassen.
Auf diesem Hintergrund wird Jesu Anliegen um so klarer. Denn er lehnt den für seine Hörer so wichtigen Gottesdienst im Tempel nicht pauschal ab. Aber er relativiert die Opfer für Gott zu Gunsten der Liebe zum Nächsten. Er macht klar: Wer Gott liebt und erkennt, der ist unbedingt bereit zur Versöhnung mit seinen Mitmenschen. Erst wer seinen Streit opfert, dessen Opfer wird Gott annehmen. Erst wer seinen Egoismus überwindet, seine Konflikte löst und sich seinen „Feinden“ zuwendet, dem wird Gott sich zuwenden.
Nächstenliebe ist also höchst konkret. Sie bedeutet Arbeit an sich und den mitmenschlichen Beziehungen. So macht Jesus Liebe zum Nächsten sogar zur Bedingung für die Liebe zu Gott. Genauer: Die Liebe zum Nächsten ist wahre Liebe zu Gott.
Unausgesprochen steht die Drohung im Raum: Ohne diese Liebe wird Dein Opfer Gott nicht erreichen, sondern erzürnen. Dann droht Dir wiederum das Gericht. Das erinnert an die Geschichte von Kain und Abel (1. Mose 4). Gott nahm das Opfer des Mörders nicht an, weil dieser seinen Bruder zu opfern bereit war.
So wird hier nochmals klar, wie Jesus das Verbot „Morde nicht!“ zuvor verstanden wissen wollte: Von der Nächstenliebe her gebietet es Versöhnung. Es fordert die Klärung, Lösung, Beilegung von Streit. Es meint: Überwinde, was zum Morden führt.
Mt 5, 25f: Schließ ohne Zögern Frieden mit Deinem Gegner, solange Du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird Dich Dein Gegner vor den Richter bringen, und der Richter wird Dich dem Gerichtsdiener übergeben, und Du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, das sage ich dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis Du den letzten Pfennig bezahlt hast.
Am Beispiel eines Menschen, der vor dem zuständigen Gericht Recht sucht, macht Jesus deutlich: Einige Dich in Frieden mit Deinem Mitmenschen. Und zwar möglichst sofort, bevor Du mit Nachteilen zur Einigung gezwungen wirst.
Auch hier erhellt der biblische Hintergrund das Gemeinte. Im Gebot der Nächstenliebe erscheint Versöhnung als Ergebnis einer gerichtlichen Auseinandersetzung: „Weise Deinen Gegner zu Recht!“ Jesus befürwortet stattdessen einen konkreten Rechtsverzicht: Geh ohne Zögern auf Deinen Feind zu. Warte nicht bis zur Verhandlung der Streitsache. Einige Dich mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht! Versuche nicht, unbedingt Recht zu behalten. Das provoziert ihn nur, auch auf seinem Recht zu bestehen. Dann musst Du die volle Strafe verbüßen. Das ist die Folge, wenn wir gnadenlos sind. Lass Gnade vor Recht ergehen, damit Versöhnung zustande kommen kann.
Hier wird bereits klar: Feindesliebe ist nichts anderes als angewandte Nächstenliebe. Es kommt gerade dort auf sie an, wo wir sie meist heraushalten: nämlich in einem harten, rechtlichen, unter Umständen tödlichen Konflikt. Gerade dort ist Versöhnung nötig. Gerade da kann sie Hass überwinden, der zum Morden führt!
Mose Mt 5, 38: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist:(Rechtssatz) Ein Auge für ein Auge und ein Zahn für einen Zahn.
Jesus Mt. 5, 39: Ich aber sage Euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern: (Rechtssatz Tat - Tatfolge) Wenn Dich einer auf die rechte Wange schlägt, halt ihm auch die andere hin. 5, 40: Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel. 5, 41: Und wenn dich einer zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm.
Wieder bezieht sich Jesus auf ein Gebot der Tora, das als Gottes Wille galt. Er zitiert das Ausgleichsprinzip in Ex. 21, 23f: Dort ist der Fall vorausgesetzt, dass jüdische Männer in Streit geraten, kämpfen und einander oder Angehörige dabei verletzen (v. 22). Als Sanktion dafür wird ein Schadensersatz festgelegt: Der Angreifer muss dem Geschädigten "ein Leben für ein Leben, ein Auge für ein Auge, einen Zahn für einen Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme" usw. erstatten.
Hier ist nicht von Rache und Vergeltung des Geschädigten die Rede. Sondern der Satz verpflichtet den Verursacher, für jeden Schaden eine Wiedergutmachung zu leisten, indem er ihn angemessen ersetzt. Dieses Prinzip wehrte maßlose Schadensersatz-Forderungen gerade ab: Das Verlangen des Geschädigten nach Vergeltung wurde auf das Ausmaß des erlittenen Schadens begrenzt. Das schloss “Blutrache“, Selbstjustiz und Rechtswillkür aus. Es verlangt ein Rechtsverfahren und begrenzt die Strafe auf rechtmäßig Verurteilte. Andere dürfen nicht in Sippenhaft genommen werden. Nur der Verursacher ist haftbar, und seine Bestrafung muss auf jeden Fall verhältnismäßig sein.
Wieder radikalisiert Jesus bekanntes Recht, um seine Aussage pointiert zuzuspitzen. Wieder setzt er das Rechtsprinzip – ein Schaden ist angemessen zu ersetzen – nicht außer Kraft: Sondern er will genau dieses Prinzip überhaupt erst wieder herstellen. Dazu fordert er anstelle der Schadensabgeltung einen Prozess der Entfeindung zwischen Schädiger und Geschädigtem.
Um das zu verstehen, muss man die damalige Lage Israels kennen. Schaden an Leib und Leben, Verletzungen mit Todesfolge entstanden damals oft zwischen sehr ungleichen Streitgegnern: etwa einem verarmten Juden und einem „Zöllner“, der Abgaben für die römische Besatzungs-macht eintrieb, oder einem Soldaten, der mit Waffengewalt irgendwelche Dienste erzwang. Diese konnten selber nur gut leben, wenn sie mehr verlangten als ihnen zustand. Römer und jüdische Oberschicht arbeiteten daher eng zusammen, beuteten das Volk brutal aus, missachteten die jüdische Rechtstradition und herrschten mit willkürlicher Gewalt. Die Geschädigten konnten ihr Recht nicht einklagen, da es keine unabhängigen Gerichte gab. Sie konnten ihre Peiniger nicht zwingen, den Schaden durch eine angemessene Ersatzleistung gut zu machen. Diese Entrechtung des jüdischen Volkes erzeugte natürlich Hass und Widerstand. Darauf reagierte die römische Besatzung nur mit noch mehr Gewalt. Mit dieser Situation angemessen umzugehen und dabei menschlich zu bleiben: Das ist Jesu Anliegen, das will er seinen Hörern nahe bringen.
„Wer Dich auf die rechte Backe schlägt...“:
Die Ohrfeige eines Rechtshänders landet normalerweise auf der linken Wange. Landet sie rechts, dann kann sie nicht mit der Handfläche, sondern nur von links mit dem Handrücken ausgeführt worden sein. So ein Schlag ist zwar weniger schmerzhaft, aber doppelt so verächtlich und demütigend. Der Talmudtraktat über Körperverletzungen legte demnach als Strafe dafür fest:
"Gibt jemand seinem Nachbarn eine Ohrfeige (...), so zahlt er ihm vor dem Richter 200 Sus als Wiedergutmachung. ... Geschah es aber mit verkehrter Hand (also mit dem Handrücken), so zahlt er ihm 400 Sus."
Jesus fordert stattdessen: Halte ihm auch noch die linke Wange hin. Das ist keine Einladung zu weiteren Schlägen. Im Gegenteil: Es soll den Schläger verblüffen und zum Einhalten bringen. Es meint: Demütige den, der Dich demütigt, indem Du nicht zurückschlägst. Reagiere genau andersherum, als er es erwartet. Zeig ihm Deine andere Seite, Dein wahres Gesicht! Verzichte auf Gegengewalt!Das zwingt ihn, Dich als Mensch zu sehen. Das kann die Situation eher verändern, als wenn Du zurückschlägst.
Daran hielt Jesus sich. Als Kaiphas ihn verhörte und sein Diener ihn dabei ins Gesicht schlug, protestierte er im Einklang mit der Tora (Jh. 18, 23): "War Unrecht, was ich gesagt habe, dann weise es nach! War es aber Recht, warum schlägst du mich dann?" Der Geschlagene muss den Schläger in rechtloser Lage an geltendes Recht erinnern und lehren, ihn als Mensch zu achten. Das kann er nur, indem er keine Gegengewalt ausübt.
„Wer Dir das Hemd nehmen will, dem lass auch noch den Mantel“:
Die Tribute an die Römer zwangen viele Juden in die Schuldenfalle. Sie mussten ihren Besitz an die Gläubiger verpfänden und verloren sämtliche Habe. Dann konnten sie nur noch als Tagelöhner, Erntearbeiter, Viehhirten oder Bettler überleben. Sie hatten kein Haus und mussten oft im Freien lagern. Der einteilige Leinenmantel war ihr einziger Schutz. Er diente nachts, wenn es empfindlich kalt werden konnte, als Zudecke. Auch Jesu Jünger hatten nur dieses eine Gewand und sollten sich damit begnügen, um den Armen als Arme die Befreiungsbotschaft zu bringen (Mk. 6, 9/ Mt. 10, 10).
Nach jüdischem Gesetz durfte man diesen Mantel von einem Schuldner nur befristet pfänden (Ex 22, 25/ Dtn 24, 10-13): "Nimmst Du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, sollst Du ihn bis Sonnenuntergang zurück geben. Denn es ist seine einzige Decke, die seinen nackten Leib bedeckt. Worin soll er sonst schlafen?"
Diese Pfändungsgrenze sollte ein Existenzminimum sichern, damit ein total Verarmter das Nötigste zum Überleben behielt. Genau diese Grenze wurde zur Zeit Jesu sehr oft überschritten. Darum plädiert er auch hier für eine „paradoxe Intervention“:
Wer Dich vor Gericht enteignet, statt seine Forderung mit Dir menschlich zu regeln, dem gib außerdem, was ihm rechtmäßig gar nicht zusteht. Beschäme ihn, um ihm an seine Grenze zu erinnern: Dein Leben! Bewege ihn also indirekt, Dich doch noch als Mensch zu sehen, sich mit Dir zu versöhnen und so Dein Leben zu schützen. Indem Du dem Ausbeuter entgegen kommst, der Dich nackt auszieht, kannst Du ihn zur Umkehr bewegen. – Auch dieses Verhalten hat Jesus selber vorgelebt: Er bewegte den Steuereintreiber Zachäus durch unvermuteten Besuch, geraubten Besitz den Armen vierfach zu erstatten.
„Wer Dich nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen...“:
Jeder römische Legionär konnte jeden Juden zwingen, ihn zu begleiten und ihm das Gepäck zu tragen. Die Wegstrecke war auf höchstens eine Meile begrenzt. Das änderte nichts daran, dass dieses „Recht“ die Juden demütigte. Denn sie waren ja Nachfahren der Sklaven, die Gott aus Ägypten befreit und zu seinem Volk erwählt hatte. Der Missbrauch als Lasttier für die römischen Besatzer erinnerte sie täglich an ihre Sklaverei. Eine solche Nötigung provozierte Widerstand, der dann oft tödlich für den Schwächeren endete.
Jesus nimmt eine Alltagserfahrung der Unterdrückten, um ihnen die Augen für ihre Macht zu öffnen: Behandelt Dich jemand als Sklaven, beschäme ihn. Ertrage die Last und gehe mit ihm freiwillig die doppelte Strecke. Der gemeinsame Hin- und Rückweg gibt euch beiden genug Zeit, euch menschlich näher kennen zu lernen. Damit wahrt ihr eure Menschenwürde und die Chance zur Versöhnung mit dem Feind!
Die 3 Beispiele decken die Lage der Juden auf: Wer Dich entwürdigt (Schlag auf die rechte Wange), wer Deine Existenz gefährdet (Enteignung, Pfändung), wer Dich zum Lasttragen nötigt (Frondienst für die Römer), dem begegne genau dann so, dass aus dem Feind ein Freund werden könnte. Wage den ersten Schritt, um den Teufelskreis der Feindschaft und unmenschlichen Gewalt zu durchbrechen: Du bist frei dazu!
Jesus fordert damit keine heroische Kraftanstrengung, die uns überfordert. Er verlangt auch keine Verbrüderung, Anbiederung, Unterwerfung von den Unterdrückten. Es geht ihm nicht um Selbstaufgabe und Machtverzicht. Wie sollen die Armen auf etwas verzichten, was sie ohnehin nicht haben? Wie sollen sie ihre Peiniger dafür auch noch lieben?
„Liebe Deinen Feind“ meint kein Sympathiegefühl, sondern ein konkretes Handeln, das die Macht des Ohnmächtigen wahrnimmt und wiederherstellt. Es geht darum, die eigenen Möglichkeiten in rechtloser Lage zu erkennen und zu bewahren. Jesus ist überzeugt, dass jeder Mensch sogar in Lebensgefahr eine Chance hat, seine Lage zu verändern. Er fordert deshalb ein Verhalten, das völlig quer zu den allgemein üblichen Reaktionsmustern steht: eine Souveränität, die zur Entfeindung und Versöhnung beiträgt. Menschliche Begegnung kann tödliche Feindschaft brechen und überwinden! Das ist das Gegenteil von Selbstaufgabe.
Mose Mt 5, 43: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist (Norm): Du sollst Deinen Nächsten lieben, aber Deinen Feind hassen.
Jesus Mt. 5, 44-48: Ich aber sage euch (Norm): Liebet eure Feinde! (Das heißt:) Segnet die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Ge-rechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also genauso vollkommen sein, wie es euer himmlischer Vater auch ist.
Jesus nimmt mit der Einleitungsformel erneut ausdrücklich auf die Tora Bezug (3. Mose 19, 18): "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Der Evangelist Matthäus lässt die Begründung weg, die Jesus gewiss zitierte: „Ich bin der Herr.“ Er ergänzt stattdessen: „...aber Deinen Feind hassen.“
Dieser Fortsatz stammt nicht von Jesus. Es gibt im Judentum kein Gesetz, das Feindeshass verordnet: weder im Alten Testament noch in der rabbinischen Literatur. Im Gegenteil: Nach der Tora soll der Feind eines Juden in Israel "nicht bedrückt noch beraubt" werden (3. Mose 19, 13). Er gehört zur "Verwandtschaft Jahwes" und verdient deshalb Wohlwollen. Vergeht sich ein Volksgenosse gegen einen anderen, soll er vor Gericht zurecht gewiesen werden. Aber Zorn und Rache dürfen innerhalb des erwählten Volkes Gottes keinen Raum haben. Sie müssen auf jeden Fall überwunden werden, um Israel vor dem Gericht – Fremdherrschaft, Untergang – zu bewahren!
Stehen "hassen" und "lieben" als Kontrast im Hebräischen nebeneinander, dann ist eine relative Nachordnung gemeint: Liebe die Einen besonders, die Anderen erst danach. „Lieben“ heißt dann: "bevorzugen, Vorliebe haben für". „Hassen“ heißt dann: "hinten anstellen, weniger lieben, geringer schätzen". Damit wurde vor allem Gottes Erwählung, z.B. Abels statt Kain, Jakobs statt Esau, Israels gegenüber seinen Nachbarvölkern hervorgehoben. Dieses Privileg zielte aber gerade darauf, dass Gottes Liebe alle Völker erreicht: Die Zurückgesetzten sind nur befristet ausgeschlossen, damit zuletzt alle in Israels Exodus eingeschlossen werden (z.B. Jes. 49).
Matthäus formuliert hier bewusst einen Gegensatz zur Tora, um Jesu Forderung noch deutlicher zu machen. Dass der "Feind" keine Privatperson ist, zeigt der Kontext bei ihm wie bei Lukas: Die Seligpreisungen setzen eine Situation voraus, die von Verfolgt- und Verfluchtwerden geprägt ist. Hier wird konkret an die römische Besatzungsmacht gedacht, die damals – in der Zeit nach dem Tempelverlust 70 n. Chr. – sowohl die Juden als auch die Christen bedrohte.
Die Feinde, die Juden und Nachfolger Jesu als Nächste ansehen, also vorrangig lieben sollen, sind hier eben keine Israeliten: sondern Ausländer, die nicht zur "Verwandtschaft Jahwes" gehören. Es sind die Feinde Israels und der Nachfolger Jesu. Es sind die, die beide –Juden wie Christen – gegenwärtig so sehr bedrücken und bedrohen wie in den Beispielen zuvor: die Römer!
Für Jesus war Israel der "Sohn Gottes", Gottes erwähltes Volk. Zu diesem, nicht zu den Nichtjuden, sah er sich gesandt. Aber er bezog bereits Ausländer, „Heiden“, Andersgläubige in den Kreis der Erwählten ein. Darum konnte Matthäus sein Gebot der Feindesliebe mit Recht auf die Römer ausdehnen. Liest man es nicht isoliert, sondern im Kontext, dann wird klar, um was es hier geht.
„Liebet eure Feinde“: Damit verlangt Jesus, wie gesagt, keine unnatürliche Zuneigung, auch keine totale Selbstaufgabe. Solche Liebe kann man nicht befehlen. Lieben heißt hier Segnen: Das meint Gebete und Taten, die das Wohl des Feindes im Blick haben und so zu seiner Entfeindung führen. Auf diesem Umweg dienen sie dem eigenen Überleben. Der Umweg ist nötig, weil die Lage von Ausbeutung, Unterdrückung und Verfolgung beherrscht wird, die Gegengewalt nur verschlimmern würde.
Jesus antwortet darauf mit derselben paradoxen Umkehrreaktion wie in den vorigen Beispielen: Er lehrt ein Handeln, das die Feinde verblüfft, beschämt, verändert. Nicht Gegengewalt, sondern konkrete Zuwendung soll Gewalt beantworten. Dieses Handeln der Juden (Adressaten Jesu) und Christen (Adressaten der Evangelisten) will beiden – „Opfern“ und „Tätern“ der Feindsituation – ermöglichen, gemeinsam „Kinder Gottes“ zu werden.
Darum lehnt Jesus die Einschränkung der Nächstenliebe auf das eigene Volk ab. Er widerspricht der Vergeltungspraxis, die Gottes Gericht an Israels Feinden vollstrecken zu dürfen meinte. Damit führten die Zeloten Israel in den Untergang. Jesus bewahrt dagegen in tödlicher Verfolgung die Aufgabe des Volkes Gottes: den Völkersegen (1.Mose 12, 3)!
Feindesliebe ist konkreter Gewaltverzicht: Aber das heißt nicht bloß „der Klügere gibt nach“. In einem Tauziehen nachzugeben lässt beide Parteien umfallen. Jesus geht es nicht um Nachgeben, sondern um Vorangehen: Er ermutigt gegenüber maßloser Gewalt zum Verzicht auf Gegengewalt. Er will die ungleichen Kontrahenten auf einen gemeinsamen Weg bringen. Er lässt sich die Wahl der Mittel nicht vom Gegenüber vorschreiben und aufzwingen. Er setzt sich mit dem Feind auseinander, indem er sich der Gewalt verweigert, die dieser vorgibt: Er vergilt eben nicht Gleiches mit Gleichem, weil das unter Ungleichen nur zum Untergang führt. Sondern er versucht beharrlich, die Feindsituation für beide gemeinsam zu verändern.
Das ist ein Konzept der Konfliktlösung mit dem Feind, das die Chance hat, beider Menschlichkeit zu wahren und wiederherzustellen. Es schließt Kampf, Leiden, Rückschläge ein, hat aber langfristig Aussicht auf Erfolg. Das ist keine Selbstaufgabe, sondern eine realistische Selbstverteidigung.
Jesu Ziel ist, Gewalt durch unerwartete, überraschende Akte der Entfeindung zu überwinden. Sein Weg dorthin ist, den ersten Schritt zum Abbau der Feindschaft zu tun. Es ist also durchaus ein Kampf mit dem Feind, der aber nie aus dem Blick verliert, diesen zu verwandeln. Darum lässt sich der gewaltlose Kämpfer nicht von der Gewalt des Gegners anstecken und beherrschen. Er gibt das Ziel eines gerechten Zusammenlebens nicht auf, sondern bewahrt es im Kampfverlauf. So zeigt er dem Feind seine unerschütterliche Bereitschaft, getragen vom Geist der Liebe gegen eine ungerechte Situation vorzugehen. „Vorgehen“ ist „Aggression“: Gewaltlosigkeit ist also gerade nicht passiv, sondern höchst aktiv!
Diese Idee des Gewaltverzichts als „Kampfmethode“ ist keine Erfindung Jesu. Es gab damals in seinem Volk deutliche Analogien: Als Pilatus die jüdische Bevölkerung provozierte und 26 n. Chr. Kaiserbilder in Jerusalem aufstellen ließ, wurde die Konfrontation unvermeidbar. Eine große Menschenmenge sammelte sich im Tempelvorhof und forderte immer wieder die Entfernung der "Götzen". Pilatus ließ die Demonstranten von Soldaten umringen. Ein Massaker schien unausweichlich. Doch Josephus Flavius berichtet:
"Die Juden aber warfen sich wie auf Verabredung hin dicht gedrängt auf den Boden, boten ihre Nacken dar und schrieen: Sie seien eher bereit zu sterben, als dass sie die väterlichen Gesetze überträten."
Dieser Widerstand für die Bewahrung der Tora hatte in Israel schon eine lange Vorgeschichte. Auch die Makkabäerkriege 200 Jahre zuvor wurden durch ein Götzenbild im Tempel ausgelöst. Sie endeten mit einem Sieg der Aufständischen, forderten aber viele Opfer und brachten Israel an den Rand der Vernichtung.
Diesmal aber war ihr Protest tatsächlich erfolgreich: Pilatus machte einen Rückzieher und ließ die Kaiserbilder wieder aus dem Tempel bringen. Sonst hätte er jede Autorität in Israel verloren. Die Geste der Unterwerfung war in Wahrheit eine gelungene Selbstverteidigung der scheinbar Machtlosen!
Matthäus fixierte Jesu Torapredigten nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Er blickte also auf die fatale Niederlage des Zelotenaufstands von 68-70 n. Chr. zurück. Danach wurde die Verfolgung der Juden wie der Christen im römischen Reich noch intensiver.
Der Evangelist erinnerte seine Hörer an den viel aussichtsreicheren gewaltlosen Widerstand davor: So gab er sowohl den Christen als auch den Juden in der verzweifelten Nachkriegszeit ein Stück ihrer gemeinsamen Identität, Trost und Hoffnung zurück. Im Kontext der vorangegangenen Ereignisse konnten seine Hörer Jesu Feindesliebe verstehen: nicht als sinnlose Unterwerfung unter die siegreichen Römer, nicht als heroische Selbstaufgabe oder Befehl zum Martyrium, sondern als sinnvollen Aufruf zu einer erfolgversprechenden Verhaltensstrategie, die sie vor tödlicher Verfolgung schützt, ihr Leben bewahrt und ihre Zukunft mit den Feinden neu eröffnet.
Feindesliebe im Bhuddismus
Der Bhuddismus lehrt Barmherzigkeit, Geduld, Achtsamkeit und Überwindung von negativen Emotionen, die Gewalt erzeugen, seit Jahrtausenden. Toleranz und Mitgefühl für alle leidensfähigen Wesen sind für Bhudda zentral. Feindesliebe ist durch und durch bhuddistisch.
Wir lernen daraus: Jesu Lehre ist nicht einzigartig. Sie ist durch und durch jüdisch - und sie ist gerade so analogiefähig für dieselbe Grundidee in einer anderen Religion, Kultur und Sprache. Sie ist vor allem kein Privileg des christlichen Glaubens. Wo sie als solche missverstanden wird, fördert sie die Feindschaft statt die friedliche Begegnung verschiedener Religionen und Kulturen.
Feindesliebe will gelernt sein. Das Segnen des Feindes, das Lösen von Streit, das Überwinden von Hass ist nicht leicht und lässt sich nicht befehlen. Es kommt also darauf an, wirklich zu üben, was Jesus geboten hat: Wendet eure Liebe den Fremden, den Andersgläubigen, den Völkern zu!
Christliche Missionare behandelten Bhuddisten häufig als zu bekehrende Gegner, statt das Einüben der Feindesliebe von ihnen zu lernen und sich mit ihnen zu verbünden. Die christianisierten Völker tun sich bis heute schwer, die Kulturen Asiens, Afrikas und Amerikas mit ihren Religionen zu achten.
Feindesliebe im Dialog der Religionen
Eine bhuddistische Exegese von Mt. 5, 38-48
Tenzin Gyatso, der heutige 14. Dalai Lama, sieht den Dialog der Religionen als wichtigen Beitrag zum Völkerfrieden. Er sieht die Vielfalt der Religionen als Reichtum und möchte helfen, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln, ohne die „metaphysischen“ Differenzen zu verwischen. Er will die Religionen nicht vereinen, sondern ihnen Mitgefühl und Toleranz von ihren eigenen Glaubensvoraussetzungen her nahe bringen.
1994 liest und kommentiert er öffentlich Texte des NT. Er legt sie von Bhudda her aus und fragt deshalb: „Wie kann ich den Christen, die ihren Glauben schon praktizieren, einen Dienst erweisen?“
An erster Stelle behandelt der Dalai Lama Jesu Gebot:
„Liebet eure Feinde! Leistet dem Bösen keinen Widerstand...“
Er stellt fest: Dieser Text wäre innerhalb einer bhuddistischen Schrift nicht als Bibeltext zu erkennen. Er ist ein Plädoyer, sich in Toleranz und Geduld zu üben. Seine Aussagen ähneln außerordentlich dem Ideal des „bhodisattva“: Jeder, der Leid erfährt, wird ermutigt, darauf gewaltlos und mitfühlend zu reagieren.
„Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, worin unterscheidet ihr euch dann von Zöllnern und Heiden?“
Auch Shantideva, ein großer Lehrer des Dalai Lama, fragte wie Jesus: Wenn ihr eurem Feind kein Mitgefühl zeigt, wem dann? Selbst Tiere lieben ihresgleichen. Wir sollten zu Besserem fähig sein als sie.
Dazu kommt es auf die richtige Einstellung dem Feind gegenüber an. Feinde sind die besten Lehrer, weil ihr Dasein uns ermöglicht, unsere Toleranz zu entwickeln. Durch Toleranz wächst Mitgefühl, und dadurch handeln wir uneigennützig. Dazu brauchen wir den Feind!
Die Aufforderung, den Feind zu lieben, bewirkt noch keinen Wandel. Wir sind von Natur aus voreingenommen: Wir fühlen Feindschaft gegen die, die uns Leid zufügen, und hängen an denen, die uns lieb sind. Es kommt darauf an, eine starke Motivation für Mitgefühl zu entwickeln. Denn diese Emotion basiert auf Vernunft und Erfahrung, nicht auf Instinkt.
Meditation bedeutet: sich mit einem bestimmten Thema vertraut machen. Um Mitgefühl zu entwickeln, ist also Geistesdisziplin nötig: Es bedarf kontinuierlicher, täglicher Übung. Mitgefühl kann man lernen, weil das Potential dazu in uns ist.
„Gott lässt seine Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte“:
Dieses Argument Jesu leitet uns dazu an, allen Geschöpfen gegenüber unparteiische Empfindungen zu hegen. Denn die Sonne unterscheidet nicht, wohin sie scheint! Christen sehen die Natur als Schöpfung: Alle Lebewesen sind Geschöpfe desselben Gottes. Alle Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen. Demnach haben wir Anteil an derselben göttlichen Natur! Dies ist ein starker Grund, allen Wesen gegenüber Gleichmut zu entwickeln. Er ähnelt sehr der Idee von der Bhudda-Natur.
Gleichmut ist die Basis von Toleranz und Mitgefühl. Um Gleichmut zu lernen, muss man nicht an die Reinkarnationslehre glauben. Christliche Meditation kann z.B. bedenken: Gott hat dich als Individuum geschaffen. Du bist frei, gemäß seinem Willen, also ethisch zu handeln. Mitgefühl und Toleranz gegenüber anderen Wesen erfüllt diesen Willen. Das bestmögliche „Opfer“ ist, gemäß den Grundwahrheiten des göttlichen Wesens zu leben. Das ist wirkungsvoller, als zu beten, ohne dem Gebet gemäß zu leben. Damit erfreust du deinen Schöpfer!
Gleichmut ist nicht Apathie: Es geht nicht um das Abtöten von Gefühlen, sondern um das „freie Feld“ für ein neues Denken und Fühlen. Gleichmut entwickeln ist der erste Schritt, um Mitgefühl möglich zu machen.
Schau dir deine Emotionen an. Analysiere sie: Was ist der Vorteil von Toleranz und Mitgefühl gegenüber Wut und Hass? Wozu führt das eine, wozu das andere? Wer die Beziehung zwischen Geist und Körper untersucht, stellt fest: Wer viel Geduld und Toleranz hat, ist ruhig und gelassen, glücklich und emotional stabil, auch körperlich gesünder. Er hat einen starken Willen, guten Appetit und guten Schlaf. Das weist darauf hin, dass wir von Natur aus eine starke Bereitschaft für Mitgefühl und Sympathie besitzen. „Im Grunde seines Wesens ist der Mensch sanft, nicht aggressiv oder gewalttätig.“ Das liegt an unserer göttlichen Natur!
Sind wir aufgrund dieser Motivation überzeugt und bereit, Mitgefühl, Toleranz und Geduld zu entwickeln, dann können wir drei Arten davon unterscheiden:
a. Unbeirrbare Indifferenz: Schmerz und Leid ertragen, ohne davon überwältigt zu werden.
b. Solches Leid bewusst auf sich nehmen und darauf vorbereitet sein. Freiwillig die Entbehrungen des spirituellen Weges akzeptieren.
c. Innere Gewissheit über die Natur der Wirklichkeit haben.
Besonders die zweite Art von Mitgefühl ist dem Christentum vertraut. Diese Auslegung der Feindesliebe Jesu zeigt:
1. Der Dalai Lama hat in seiner barmherzigen Weisheit genau erkannt, was unser Problem mit Jesu Gebot ist. Wir wissen nicht, wie wir es befolgen können! Darum erscheint es uns als unerfüllbare Forderung. Daher neigen wir dazu, uns selbst dafür zu verurteilen, dass wir nicht so können, wie wir sollen und wollen.
Gerade im Einflussbereich Luthers wurde aus Jesu Weisung ein Spiegel unserer Sünde, der uns auf Gottes Vergebung hinweisen soll. Das hat unsere aktive Bemühung um wirkliche Nachfolge Jesu geschwächt.
2. Der Dalai Lama hebt die geistige Motivation des Handelns hervor. Denn nur aus einer sehr starken Überzeugung heraus können wir Wut und Zorn, unsere natürliche Reaktion auf Gewalt, loslassen und in Liebe umwandeln.
Der Dalai Lama versteht unseren Glauben an einen Schöpfer allen Lebens als eine solche Motivation: Alle Geschöpfe Gottes sind miteinander verbunden. Wir sind als Wesen, die Gott geschaffen hat, wesensmäßig gleich. Dieser Glaube ergibt sich aus der Betrachtung der Natur. Diese Einsicht müsste uns befähigen, alle Wesen zu achten und zu lieben. Wir müssen dazu nicht Bhuddisten werden, sondern nur unseren eigenen Glauben ernst nehmen.
3. Der Dalai Lama übersetzt die Seligpreisungen in den bhuddistischen Glauben an die Wechselwirkung alles Geschaffenen: Alle Menschen sind miteinander verbunden, so dass das, was wir anderen antun, uns selbst verletzt. Daraus folgt umgekehrt, dass das, was wir uns selbst Gutes tun, auch unser Verständnis für andere erweitert. Im Feind den Bruder zu sehen heißt also, unser eigenes Schicksal zum Guten hin zu beeinflussen.
Dieses Gesetz des „Karma“ ist nicht identisch, aber verwandt mit dem Tat-Folge-Gesetz der orientalischen Weisheit: Was wir hier und jetzt tun, hat Folgen für alles Leben und unsere Zukunft. Das Entscheidende, was uns befähigt, den Feind als Bruder anzusehen, findet also in uns selbst statt. Die Erleuchtung Bhuddas ist ganz auf unser „Selbst“ bezogen.
Verschiedene Begründungen - gemeinsames Ziel
Die vom Schöpfer gegebene Gottebenbildlichkeit jedes Menschen ist zwar ein wichtiger, aber noch nicht der entscheidende Grund für die Feindesliebe Jesu: Denn er ist der Bringer des Reiches Gottes. Er preist die Armen glücklich: nicht wegen ihrer Einsichtsfähigkeit, sondern einfach weil sie die sind, die Gottes Gerechtigkeit brauchen. Er begründet Feindesliebe vor allem mit Gottes schöpferischem Eingreifen.
Jesus verwirklicht das Gebot der Feindesliebe, indem er den Armen Gottes zuvorkommende Liebe schenkt. Er verheißt ihnen Gottes gerechte Zukunft. Er nimmt diese in seiner Gnadenzusage für sie vorweg. Er stirbt an unserem Hass und deckt unsere Feindschaft gegen den gnädigen Gott auf. Aber er bittet für uns, überwindet unsere Sünde und schafft unsere Versöhnung mit Gott. So ist gerade das Kreuz Jesu der entscheidende Grund für das Gebot der Feindesliebe: Indem er uns aus Gnade freispricht, traut Gott uns alles zu. Darum gebietet er uns, andere ebenso zu lieben wie er uns!
Für Bhudda ist die eigene Einsicht in die Natur unseres Geistes - das Erlöschen allen Anhaftens - der Grund für das tägliche Einüben der Feindesliebe. Sie ist Ausdruck unserer wahren mitfühlenden Natur, die wir durch ein distanzierendes Analysieren unserer negativen Emotionen wiederentdecken können. So ist jedem fühlenden Wesen der Ausstieg aus dem Rad der ewigen Wiedergeburt möglich.
Doch wo wir danach handeln, kommt es auf diese Unterscheidung im Grunde nicht mehr an. Nicht der Grund, sondern das Ziel ist ja das Entscheidende: wirkliche Veränderung dieser Welt. Es geht um Überwindung von Hass, Gewalt, Feindschaft, Krieg und ihren Ursachen.
Jesus sagt: „Du kannst deinen Feind lieben, weil du selber schon längst geliebt wirst und Gott dir alles verziehen hat.“
Bhudda sagt: „Du kannst deinen Feind lieben, weil du tief in dir ein mitfühlendes Wesen bist. Wo du deine negativen Emotionen loslässt, da kannst du dein wahres Wesen erfahren und Mitgefühl für andere entwickeln.“
Die Begründungen sind keine ausschließenden Gegensätze, sondern ergänzen sich. So können Juden, Christen und Bhuddisten einander heute gegenseitig helfen im gemeinsamen Engagement gegen zerstörerische Gewalt.