
Michael Smuss (hebräisch מייקל סמוס, *15. April 1926, in der Freien Stadt Danzig) ist ein jüdischer Widerstandskämpfer, Überlebender des Holocaust,
autodidaktischer Künstler und engagierter Zeitzeuge.
Während des Zweiten Weltkriegs schloss er sich dem aktiven Widerstand an und kämpfte im Warschauer Ghettoaufstand - jenem verzweifelten, aber mutigen Aufbegehren gegen die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie. Michael überlebte Verfolgung, Internierung in Konzentrationslagern, Zwangsarbeit und schließlich den Todesmarsch bis zur Befreiung.
Heute lebt er mit seiner Frau in Tel Aviv, Israel, wo er als Künstler und Zeitzeuge seine Erinnerungen bewahrt - als mahnende Stimme gegen das Vergessen und für die Menschlichkeit.
Herkunft und Vertreibung - Die frühen Jahre in Danzig
Michael Smuss wurde in der Freien Stadt Danzig geboren - jener geschichtsträchtigen Stadt an der Ostsee die heute unter ihrem polnischen Namen Gdańsk bekannt ist. Er wuchs in einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf, deren Leben fest in der traditionsreichen Altstadt verwurzelt war.
Dort betrieb die Familie ein angesehenes Geschäft für Galanteriewaren und Parfümerie [1] - ein beliebter Treffpunkt für Einheimische wie auch für die internationale Kundschaft, die die Hansestadt mit ihren Schiffen und Handelswegen durchzog. Michaels Vater, ein weltoffener Mann mit beeindruckenden Sprachkenntnissen in zehn verschiedenen Idiomen, stand tagtäglich hinter dem Ladentisch und bediente mit Feingefühl und Höflichkeit Menschen aus aller Welt.
Doch so zentral und günstig das Geschäft auch gelegen war - inmitten der malerischen Gassen der Altstadt -, so gefährlich war seine Nähe zum Gaubüro der NSDAP [2]. Das Parteihauptquartier der Nationalsozialisten war ein Hort des Hasses und der Hetze. Immer häufiger wurden Jüdinnen und Juden zur Zielscheibe nationalistischer Agitation, die unter der zynischen Losung „Hakenkreuz oder Judenstern“ [3] ihre hässliche Fratze zeigte.
Mit dem Erstarken der NSDAP in den 1930er Jahren wandelte sich die Atmosphäre in der Stadt spürbar - Gewalt wurde zum Alltag, und Pogromstimmung griff um sich. Auch das Geschäft der Familie Smuss blieb davon nicht verschont: Die Schaufenster wurden eingeschlagen, der Vater brutal misshandelt. Der Alltag in der sogenannten „Freien“ Stadt geriet zum Spießrutenlauf. Die von Senatspräsidenten Rauschnigg einst feierlich zugesicherte „volle Freiheit zur Ausübung geschäftlicher Tätigkeit im Danziger Gebiet“ [4] war zu einer hohlen Phrase verkommen.
Im Jahr 1938 sah sich die Familie schließlich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Sie zogen nach Lodz - in der Hoffnung auf Sicherheit und ein neues Leben.
Zwischen Ghettomauer und Widerstand - Michael Smuss in Warschau
Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 und der rasch eskalierenden Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch das NS-Regime wurde auch das Leben der Familie Smuss jäh auseinandergerissen. Michael floh gemeinsam mit seinem Vater nach Warschau, während seine Mutter und Schwester in Łódź zurückblieben - sie sollten dort, wie durch ein Wunder, den Krieg überleben.
Warschau zu Beginn der 1940er Jahre war ein Ort der Hoffnungslosigkeit und des Schreckens. Die jüdische Bevölkerung wurde von den deutschen Besatzungsbehörden in einem abgeriegelten Stadtbezirk zusammengepfercht - zynisch als „jüdischer Wohnbezirk“ bezeichnet, in Wahrheit jedoch ein Ghetto: ein Sammellager auf dem Weg zur systematischen Vernichtung. Hier herrschten Hunger, Krankheit, Zwangsarbeit und ständige Angst vor der Deportation - ein Alltag am Abgrund.
Inmitten dieser Hölle schloss sich der 18-jährige Michael Smuss dem jüdischen Widerstand an. Als Teil der Warschauer Gruppe der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung 'HaShomer haZaʿir' mit dem Anführer Mordechaj Anielewicz, operierte er nun im Untergrund. Als Kurier schmuggelte er Botschaften aus dem Ghetto - und Waffen hinein. Jeder Schritt war ein Akt des Widerstands, jede Bewegung ein Risiko zwischen Leben und Tod.
Als am 19. April 1943 der bewaffnete Aufstand im Warschauer Ghetto begann - ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen gegen die übermächtige Vernichtungsmaschinerie, war Michael verdeckt an den Kampfhandlungen beteiligt. Der aktive Widerstand endete mit seiner Verhaftung an seinem Arbeitsplatz [5] - für ihn, seinen Vater und mehrere Arbeitskollegen eine gefährliche Situation mit zunächst ungewissem Ausgang.
Ein Bild aus dem berüchtigten Stroop-Bericht zeigt diesen Moment: Die Männer werden dort fälschlich als „jüdische Abteilungsleiter der Rüstungsfirma Brauer“ bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich um eine Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter dieser Firma bei ihrer Festnahme. [6] Im Bild erkennt man Michael Smuss - achter von rechts, in einem langen Mantel. Neben ihm sein Vater (siebter von rechts); der dritte Mann (sechster von rechts) wird von einem SS-Bewacher verdeckt. Im Hintergrund sind sogenannte „Rüstungsgüter“ zu sehen: ausgediente, beschädigte Stahlhelme von der Front, die im Ghetto zur Wiederverwertung vorgesehen waren.
Der Aufstand und das Ghetto wurden schließlich mit brutaler Gewalt niedergeschlagen - durch massiven Waffeneinsatz, systematische Brandstiftung, die Überflutungen unterirdischer Verstecke sowie gezielte Erschießungen. Was blieb, war ein Trümmerfeld - und der kalte Bericht des SS-Kommandeurs Jürgen Stroop über die „Vernichtung des jüdischen Wohnbezirks in Warschau“ (siehe: Stroop-Bericht). [7]
Zug ins Nichts - Die beinahe Deportation nach Treblinka
Nach der brutalen Zerschlagung des Warschauer Ghettos wurden die verbliebenen arbeitsfähigen Jüdinnen und Juden zum sogenannten „Umschlagsplatz“ getrieben - jenem Ort nahe der Bahnstation, an dem die Transporte in die Vernichtung organisiert wurden. Dort harrten sie stundenlang aus, ehe sie gewaltsam in bereitstehende Viehwaggons gedrängt wurden. Um die von der SS festgelegten Ladezahlen pro Zug zu erfüllen, ließ man kurzerhand weiteres, wie es zynisch hieß, „Menschenmaterial“ vom Warschauer Flughafen verschleppen. Erst nach zwei Tagen qualvollen Wartens war das „Soll“ erreicht: Der vermutlich letzte planmäßige Deportationszug aus dem Warschauer Ghetto mit dem Ziel Vernichtungslager Treblinka [8] stand zur Abfahrt bereit.
Doch der Transport nahm eine unerwartete Wendung: An der Abzweigung in Richtung Malkinia wurde der Zug von querstehenden Fahrzeugen der Wehrmacht zum Anhalten gezwungen. Unter schwerer Bewachung entspann sich ein hitziges Gespräch zwischen Offizieren der Luftwaffe und den SS-Begleitern des Zuges. Die Offiziere forderten die Rückgabe ihrer als „kriegswichtig“ eingestuften jüdischen Zwangsarbeiter. Und tatsächlich: Nach rund dreißig Minuten lenkten die SS-Offiziere ein - statt weiter nach Treblinka zu rollen, fuhr der Zug zurück zum Flughafen Warschau.
Nach der Ankunft wurden die angeforderten Facharbeiter aufgefordert, aus den Waggons zu treten. Doch weit mehr Deportierte, darunter auch Michael Smuss und sein Vater, nutzten das entstehende Chaos - und stiegen mit aus. Da weiterhin Arbeitskräfte gesucht wurden, gelang es Michael, sich durch seine Deutschkenntnisse selbst, seinen Vater sowie weitere Freunde und Widerstandskämpfer als vermeintlich „benötigte Fachkräfte“ auszugeben. Auf diese Weise entkamen sie der unmittelbaren Vernichtung in Treblinka.
Überleben unter SS-Kommando - Budzyń und Mielec
Die nächste Station auf dem Weg ins Ungewisse war das Zwangsarbeits- und Konzentrationslager Budzyń im Distrikt Lublin. Mit einem Lastwagen dorthin verbracht, landete Michael Smuss in einem der zahlreichen Lager des verzweigten Systems nationalsozialistischer Zwangsarbeit. Anfang 1943 bis Ende August stand Budzyń unter dem Kommando des SS-Oberscharführers Reinhold Feix - ein besonders brutaler Lagerführer, dessen Grausamkeit unter den Häftlingen gefürchtet war.
Michael wurde von seinem Vater getrennt und musste täglich mit seiner Arbeitsgruppe zur Flugzeugfabrik nach Mielec ausrücken - einem späteren Außenlager des KZ Krakau-Plaszow, in dem Werkstätten der Heinkel-Flugzeugwerke angesiedelt waren. Dort wurden jüdische Zwangsarbeiter als Mechaniker, Monteure und Hilfskräfte eingesetzt - ein Stück kriegswichtiger Industrie unter Kontrolle der SS.
Sein Vater arbeitete unterdessen isoliert im Lager Budzyń als Dolmetscher - jederzeit verfügbar. Eines Nachts durchbrachen Schüsse die Stille. Kurz darauf berichteten Mitglieder der Untergrundbewegung, Feix habe seinen Vater bei einem angeblichen Fluchtversuch erschossen. Um Michael vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, organisierten seine Mitstreiter einen externen Einsatzort in Mielec, außerhalb des direkten Machtbereichs des Lagerkommandanten.
Die Arbeit in der Rüstungsindustrie erwies sich als trügerischer Schutz. Michaels handwerkliche Fähigkeiten - und die seiner Kameraden - sicherten ihnen vorerst das Überleben. Denn der jüdische Widerstand hatte das NS-Regime in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Insbesondere der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór am 14. Oktober 1943 - bei dem rund 600 Häftlinge den Ausbruch wagten - gilt heute als möglicher Auslöser eines geheimen Befehls Heinrich Himmlers: Die noch existierenden Arbeitslager sollten „aus Sicherheitsgründen liquidiert“ werden.
Diese Entscheidung kulminierte Anfang November 1943 in der sogenannten „Aktion Erntefest“ - dem größten koordinierten Massenmord an einem einzigen Tag im Holocaust. Innerhalb kürzester Zeit wurden über 40.000 jüdische Zwangsarbeiter in den Lagern Majdanek, Trawniki und Poniatowa systematisch erschossen. Die Mordaktion gilt nicht als Teil der „Aktion Reinhardt“, sondern als eigenständiges Vernichtungsprogramm - ein Vorläufer der „Aktion 1005“, mit der das Regime seine Spuren zu tilgen versuchte.
Doch kleinere Lager wie Budzyń und Mielec blieben verschont - vermutlich, weil sie unter unmittelbarer Aufsicht der Wehrmacht standen und ihre Arbeitskräfte als unverzichtbar galten. Die Zuständigkeit für Mielec lag zwar formal bei der SS, doch der Druck der Rüstungsindustrie überwog. In dieser widersprüchlichen Konstellation - zwischen kriegswirtschaftlichem Kalkül und dem mörderischen Willen zur Vernichtung - entstand ein schmaler Spalt des Überlebens. Michael Smuss und wenige andere entkamen durch genau diesen Spalt dem sicheren Tod.
Literatur
- ERINNERUNG - Eine Ausstellung Kunst KZ Flossenbürg, Hrsg. H. Simon-Pelanda, Werke ehemaliger Gefangener aus dem KZ Flossenbürg und junge deutsche Künstler, Arbeitsgemeinschaft ehem. KZ Flossenbürg e.V., Panther Verlag, Ingolstadt 1996, ISBN 3-9802831-8-6, S. 2.
- Kunst und KZ. Künstler im Konzentrationslager Flossenbürg und in den Außenlagern. Ihrer Stimme Gehör geben, Hrsg. H. Simon-Pelanda, Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2001, ISBN 3-89144-332-3, S. 40, 41 u. S. 56.
- dem vergessen entrissen - Fünf Radiodokumentationen von Thomas Muggenthaler, BR-RADIOEDITION, Bayerischer Rundfunk, 2009, u.a. CD 2, Dem Vergessen entrissen, Terror im Lager, Track 5.
Weblinks
- THE TIMES OF ISRAEL, 82 Jahre nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto legt sein letzter lebender Kämpfer Zeugnis ab 24. April 2025 | Interview: „Gott hat mich gerettet, damit ich den Leuten erzählen kann, was passiert ist“.
- Der letzte Überlebende des Warschauer Aufstands 22.04.2025 | Bar-Ilan University Ramat-Gan, Faculty of Jewish Studies
- Michael Smuss on Yom HaShoa 2024: testimony from the last Ghetto Fighter 13.05.2024 | Tel Aviv, Deutsche Botschaft, Aussage des letzten Ghettokämpfers.
- JEWS ENGAGED WITH SOCIETY - Mentshes! Michael Smuss the last survivor of the Warsaw Ghetto.
- Holocaust survivor Mr. Michael Smuss 08.06.2022, | Youtube-Videovortrag (hebräisch), Bar-Ilan University - אוניברסיטת בר-אילן
- JÜDISCHES MUSEUM MÜNCHEN - Bringing Them Back 20.07.2022 | Workshop / Gedenkprojekt der Stadt, Begrüßung Michael Smuss.
- JEWS ENGAGED WITH SOCIETY - Großes Lob für engagierten Einsatz, Terry Swartzberg und Projekt -"Stolpersteine" 03.12.2021.
- Erinnerung 16.06.2021 | Ausstellung „Erinnerung - Kunst gegen das Vergessen. Bilder von Michael Smuss werden in Kopie ausgestellt (Originale im Holocaust Museum, Florida).
- Erinnerung 2019 | Zur Geschichte der Ausstellung: u.a. Kunstwerke nach der Befreiung oder Jahre später. Michael Smuss - ein Künstler dieser Gruppe.
- Oberpfalz ECHO, Zeitzeuge im Gespräch: Die Hoffnung nie aufgegeben 19.04.2016 | Weiden (D), im Klassenzimmer der Gustl-Lang-Schule.
- Überall war Tod 22.04.2015 | BR - Fernsehen, Videobeiträge, u.a. von Michael Smuss.
- TO PAINT THE EARTH 24.02.2003 | Musical mit integriertem Interview des Holocaust-Überlebender Michael Smuss (Vorbild für die Hauptfigur des Chaim).
- JECKES – Die entfernten Verwandten 20. April 1997 (Premiere) | München, Dokumentarfilm - über die deutschen Juden in Israel, auch Jeckes genannt. 7 Biografien, u.a. mit Michael Smuss, Regie Jens Meurer und Carsten Hueck.
- Reflections of a Survivor - Artwork by Michael Smuss St. Petersburg, FL (USA) | The Florida Holocaust Museum.
Einzelnachweise
- ↑ Heilige-Geist-Gasse 141, polnisch Ulica Świętego Ducha
- ↑ Gaubüro der NSDAP in der Danziger Jopengasse 11, Dieter Schenk: "Danzig 1930-1945. Das Ende einer Freien Stadt." Ch. Links Verlag Berlin, 2013, S. 36.
- ↑ Dieter Schenk: "Danzig 1930-1945. Das Ende einer Freien Stadt. Machtübernahme durch Terror." Ch. Links Verlag Berlin, 2013, S. 32.
- ↑ Dieter Schenk: "Danzig 1930-1945. Das Ende einer Freien Stadt." Ch. Links Verlag Berlin, 2013, S. 45.
- ↑ Die Arbeiter der Firma Brauer. Josef Wulf: "Das Dritte Reich und seine Vollstrecker. Die Liquidation der Juden im Warschauer Ghetto. Dokumente und Berichte." Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 1989, S. 109, 6 c.
- ↑ Josef Wulf: "Das Dritte Reich und seine Vollstrecker. Die Liquidation der Juden im Warschauer Ghetto. Dokumente und Berichte." Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 1989, S. 109, 6 c, Die Arbeiter der Firma Brauer.
- ↑ Jürgen Stroop: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk ~ in Warschau mehr!" Faksimile-Ausgabe des Berichtes über die Vernichtung des Warschauer Ghettos durch die SS 1943, Luchterhand, 1960, siehe Bilddokument S. 81 "Die jüdischen Abteilungsleiter der Rüstungsfirma ~ Brauer ~"
- ↑ Josef Wulf: "Das Dritte Reich und seine Vollstrecker. Die Liquidation der Juden im Warschauer Ghetto. Dokumente und Berichte." Fourier Verlag GmbH, Wiesbaden, 1989, S. 41 "Bericht vom 24. Mai 1943 und den Täglichen Meldungen, ... erfaßt, vernichtet, durch Transport nach T II (Vernichtungslager Treblinka) endgelöst."