Wing Chun (chinesisch 詠春 / 咏春 – „immerwährender Frühling“) ist ein (süd-) chinesischer Kampfkunststil (in China mit dem Oberbegriff Wushu, im Westen mit dem Begriff Kung Fu bezeichnet).
Gelehrt wird Wing Chun in Deutschland, Österreich und der Schweiz in zahlreichen kommerziellen und nicht-kommerziellen Schulen, Verbänden und Vereinen (siehe: Liste von Wing Chun-Verbänden). Der Name der Kampfkunst stammt aus dem Kantonesischen, deswegen gibt es keine eindeutige Romanisierung des Begriffes. Aus markenrechtlichen Gründen und um sich von anderen Schulen und Verbänden abzugrenzen (siehe weiter unten), sind zahlreiche Schreibweisen gebräuchlich, so z.B. Wing Tsun (W.T.), Ving Tsun (V.T.), Wing Tzun, Wing Chung, Wing Shun, Wing Tsung, Dragos WingTsun, Ving Chung, Weng Chun, Wyng Tjun, aber auch gänzlich andere Namen, wie z.B. Taonamics oder Tao Concepts. Auf Hochchinesisch (Mandarin) lautet die Bezeichnung Yong Chun (nach dem offiziellen Romanisierungssystem Pinyin).
Charakteristik
Im Wing Tsun wurden alle Techniken auf ihre Wirkung hin maximiert. Die Bewegungen sind meist kurz und gerade (i.S. entlang einer Geraden) oder angedeutet spiralförmig. Der Einsatz von Kraft ist anders als in vielen anderen Kampfkunststilen. Es wird in der Regel keine starre Muskelkraft, sondern durch eine Mischung aus Gewichtsverlagerung (Schritttechniken) und spontaner schneller Streckbewegung (so genannter Peitschenkraft) mit einem relativ kleinen Anteil eigener Muskelkraft die Elastizität des eigenen Bewegungsapparates ausgenutzt.
Ein typisches Element einiger Wing-Tsun-Stile ist der Kettenfauststoß. Man sagt, ein geübter Wing-Tsun-Kämpfer könne davon ca. 8-10 Schläge pro Sekunde ausführen. Darüber hinaus finden alle Techniken erst in Verkettung ihre effektive Anwendung, wobei es letztlich unerheblich ist, ob hier Fauststöße oder Handflächenschläge zum Einsatz kommen. Die Kraft des Gegners wird durch die Anwendung von Winkel- und Drehprinzipien neutralisiert und gegen ihn verwendet (Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr), d.h. während ein Schlag abgewehrt wird, erfolgt ein Angriff zur selben Zeit. Es gilt: Der Angriff ist die Verteidigung. Ein Schlag des Gegners wird so z.B. durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.
Der Stil ist auch durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im Allgemeinen nur niedrige Ziele (bis Hüfthöhe) angegriffen werden. Ein Ziel dieser Tritte ist insbesondere das Kniegelenk und der Oberschenkelansatz des Gegners.
Anders als bei Kampfsportarten mit genau definierten Regeln wie zum Beispiel Judo und Karate gibt es bei Wing Tsun keine Wettkämpfe mit Punktesystem. Da in den höheren Graden Techniken erlernt werden, mit denen man einen Gegner in kürzester Zeit effektiv außer Gefecht setzen kann, würden solche Wettkämpfe schwerwiegende Verletzungen hervorrufen.
Aufgrund der hier kurz erläuterten allgemeinen Charakteristik gilt Wing Chun bisweilen als der Stil der Meister fortgeschrittenen Alters: Diese konnten sich auf diese Weise gegen die jungen, kräftigen und biegsamen Meister behaupten und sich somit den Respekt verschaffen, den manch junger Mönch vermissen ließ.
Prinzipien
Eine besondere Charakteristik von Wing Tsun ist das Denken in Prinzipien. Man könnte sie auch als Weisungen oder Orientierungshilfen bezeichnen. Diese Prinzipien sind bewusst in der reflexiven Befehlsform formuliert, so dass klar definiert ist, was zu tun ist.
Die hier aufgeführten Prinzipien stellen eine kleine, beispielhafte Auswahl dar, wie sie in unterschiedlichen Wing-Tsun-Stilen vorkommen können. Die Prinzipien variieren von Stil zu Stil mitunter sehr stark. Im Wing Tsun und dessen Derivaten z.B. lehrt man folgende Prinzipien:
Die Kraftprinzipien:
- Befreie dich von deiner eigenen Kraft (Verspannung).
- Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
- Nütze die Kraft des Gegners.
- Füge deine eigene Kraft hinzu.
Die Kampfprinzipien:
- Ist der Weg frei, stoß vor!
- Bekommst du Kontakt, bleib kleben!
- Ist der Gegner stärker, gib nach!
- Weicht der Gegner zurück, folge.
Weitere Prinzipien können u.a. sein:
- Greife auf dem direkten Weg an.
- kombinierte Kraft aus zwei Techniken,
- Gleichzeitigkeit mehrerer Techniken,
- Gegensätzlichkeit der Bewegung
Dies sind nur einige Beispiele von sogenannten Kuen Kuits.
Besondere Berücksichtigung anderer Kampfsysteme
Eine Besonderheit von Wing Tsun ist, dass sich die Techniken des Systems nicht nur auf sich selbst beziehen. Bei einem Wing-Tsun-Kämpfer ist es nicht von Bedeutung, welchen Stil der Aggressor hat. Das ist auch nicht die Frage. Ein Straßenkämpfer zum Beispiel ist völlig stillos und daher von den potentiellen Aggressoren am gefährlichsten einzustufen. Daher lernt der Kämpfer im Wing Tsun, sich so vor dem Angreifer zu positionieren, dass alle möglichen Angriffsvarianten des Gegners im Vorfeld schon gestört werden: Man versucht möglichst früh mit dem Aggressor Kontakt aufzunehmen. Durch das Chi-Sao-Training ist ein erfahrener Wing-Tsun-Kämpfer in der Lage, die Kraft des Angreifers zu "erfühlen" und kann dementsprechend reagieren. Dabei befolgt er die Regeln der vier Kampf- und Kraftprinzipien (siehe oben).
Training
Das Training des Wing Chun ist von Partnerübungen dominiert, bei dem die Trainingspartner bestimmte mögliche Bewegungsmuster eines Kampfes wiederholen. Je nach Erfahrung der Übenden variiert die Geschwindigkeit und Intensität, wie auch die Komplexität dieser Übungen hin bis zum Freikampf/Sparring. Ziel dieser Übungen ist es, den Lernenden durch langsame und sich oft wiederholende Übungen bestimmte Bewegungen einzuprägen, die im Stressfall unbewusst abrufbar sind. Einen Schwerpunkt legt das Wing Chun auf das sog. Chi Sao, ein Gefühlstraining, das ermöglicht, auf bestimmte Berührungen und Impulse eines Trainingspartners oder Gegners sehr schnelle und überraschende Reaktionen zu bieten. Obwohl die Grundlagen des Wing Chun sehr schnell erlernbar sind, erfordert gerade dieses Gefühlstraining eine jahrelange Übung und Ausbildung, damit es sinnvoll in einem Kampf zum Einsatz kommen kann. Somit ist die schnelle Erlernbarkeit des Systems nur bedingt korrekt.
Formen
Die erste grundlegende Methode, das Wing Chun zu erlernen, sind die Formen. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die in einem bestimmten Ablauf ausgeführt werden. Dabei werden die Formen als Einzelübung „in die Luft“ ausgeführt. Die Formen in den chinesischen Kampfkünsten entsprechen ungefähr dem, was in den japanischen Kampfkünsten als Kata bekannt ist. Die Formen von Wing Chun bauen alle aufeinander auf. Während man auf der ersten Stufe noch nicht genau weiß, wie und in welchen Situationen/Positionen eine Technik verwendet wird, sieht man mit jeder weiteren Stufe mehr und mehr vom Sinn und Zweck der einzelnen Übungen.
Die Formen sind:
- Siu Nim Tao / Siu Lim Tao („eine kleine Idee“) - Hier werden die grundlegendsten Armtechniken isoliert für sich oder in einfachen Kombinationen geübt. Beintechniken kommen hier nicht vor. Ein wichtiger Aspekt dieser Form ist auch das Verhältnis von Spannung und Entspannung.
- Chum Kiu / Cham Kiu („Suchende Arme“ / „eine Brücke bauen“) - Basistechniken mit ersten Fußtechniken. Hier werden verschiedene Techniken in Kombinationen geübt, insbesondere das Zusammenspiel von beiden Armen, Beintechniken, sowie Schritttechniken.
- Bju Tse / Biu Tze („Stoßende Finger“) - Ist die 3. Form.
- Mok Jan Chong / Mok Jan Jong („Holzpuppe“) - Dient in erster Linie als Ersatz für einen Trainingspartner. Bewegungen werden hier einstudiert und Fehler beseitigt.
- Luk Dim Bun Guan / Luk Dim Ban Kwun („Langstock“) - Wurde erst später in das Wing Chun eingebracht. Sinn ist hier unter anderem, die Hüfte zu stabilisieren und Fauststöße hart zu machen.
- Pa Cham Dao / Bart Cham Dao („Doppelkurzschwerter" oder „Doppelmesser“ oder „Schmetterlingsmesser“)
Der Ablauf der Formen ist seit Jahrhunderten überliefert. Yip Man und Wong Shun Leung erarbeiteten eine systematische Lehrmethode der Formen. In der Entwicklungsgeschichte des Wing Chun haben viele Lehrer immer wieder Weiterentwicklungen und Änderungen eingeführt, sowohl was die Ausführung im Detail betrifft, als auch in Bezug auf den ganzen Ablauf. In den verschiedenen Stilvarianten des Wing Chun finden wir heute deshalb recht unterschiedliche Varianten der Formen - vor allem außerhalb der Linie von Yip Man und Wong Shun Leung. Diese Unterschiede spiegeln natürlich auch das unterschiedliche Verständnis der Techniken und Prinzipien in den verschiedenen Stilvarianten bzw. die unterschiedlichen Wissensstände der Lehrer wider.
Auch heute noch werden von verschiedenen Lehrern zuweilen Änderungen in der Ausführung eingeführt, was mit der Lebendigkeit der Kampfkunst erklärbar ist. Hierzu gibt es Meinungsverschiedenheiten bei den Anhängern verschiedener Stilrichtungen.
Fast jede Schule variiert zumindest die Siu Nim Tao minimal - etwa indem vier anstelle von drei Schlägen einer festen Abfolge ausgeführt werden - oder andere belanglose Kleinigkeiten werden verändert. Insider können an winzigen Details der Ausführung, die wie ein „Markenzeichen“ wirken, erkennen, bei wem der Schüler gelernt hat.
Chi Sao
Ein essentieller Bestandteil des Wing Chun ist das Chi Sao („Klebende Hände“). Chi Sao trainiert in erster Linie die taktilen Reflexe und damit auch die Standfestigkeit und Balance, den richtigen Abstand zum Gegner in der Nahdistanz, die Sensibilität für Lücken in der gegnerischen Abwehr sowie deren Schaffung und den Eigenschutz.
Das Chi Sao gehört zu den wichtigsten Partnerübungen im Wing Chun. Dabei stehen sich zwei Trainingspartner in einer festgelegten Ausgangsstellung gegenüber und nehmen mit den Armen Kontakt zueinander auf („fühlende Hand“). In der Regel wird dann mit festgelegten Anfangsbewegungen (z. B. „rollende Arme“) begonnen, worauf dann zu freier Anwendung verschiedener Techniken übergegangen wird.
Chi Sao kann entweder als feste Folge von Techniken mit verschiedenen Übergängen trainiert werden, die dann frei variiert werden können, oder es wird das sogenannte Go Sao trainiert, welches eine Art Sparring auf Chi-Sao-Distanz darstellt. Hierbei gibt es keinerlei Regeln zu Abläufen, es ist ein freier Kampf in der Nahdistanz.
Die Besonderheit am Chi Sao ist, dass der Schüler von den langsameren visuellen Reflexen weg zur taktilen Wahrnehmung hin erzogen wird. Es wird hier davon ausgegangen, dass es in der Nahdistanz, die oft auch als Trappingdistanz bezeichnet wird, nicht mehr rechtzeitig möglich ist, gegnerische Aktionen visuell zu erkennen und abzuwehren. Daher wird mit dieser Trainingsmethodik der Kontakt zum Gegner ausgenutzt, um dessen Aktionen über den schnelleren Sinn der Taktilität erkennen zu können.
Da Chi Sao auf unterschiedliche Weise trainiert und interpretiert werden kann, differiert es innerhalb der einzelnen Wing-Chun-Stile. So legt „Wing Tsun“ viel Wert auf das „Kleben der Arme“, um den Gegner zu fesseln, während „Ving Tsun“ den Kontakt leichter löst, um direkte Schläge anzubringen. Chi Sao ist keine eigenständige Technik für den freien Kampf sondern ein Trainingshilfsmittel. Es bildet durch fortgesetzte Übung eine hervorragende Grundlage für schnelle, instinktive Abwehr samt daraus resultierendem Gegenangriff.
Im Wing Chun verstehen sich Chi Sao und andere Formen auch nicht als „Technik“, vielmehr als Prinzip, welches je nach Anforderung angewendet wird. Dabei spielt der Körperbau des Gegners nur noch eine untergeordnete Rolle.
Waffen
Wing Chun war ursprünglich eine Kampfkunst ohne Waffen. Doch schon im späten 17. Jahrhundert erweiterten Wong Wah Bo (Schüler des Shaolin-Mönchs Ji Sin) und Leung Yee Tai (Schüler des Ehemannes der Stilgründerin Yim Wing Chun) den Kung-Fu-Stil um 2 Waffenformen:
- Langstock (Luk Dim Boon Kwun)
- Kurzschwerter (Baat Jam Do / Dao)
Beide konnten gut mit diesen Waffen umgehen und passten die Übungen und Formen den Idealen von Wing Chun an. So wurde zum Beispiel in die Langstock-Form der Aspekt der Zentrallinie eingebracht.
Dies ist allerdings historisch nicht belegbar.
Entstehungslegenden
Zur Entstehungsgeschichte des Wing Chun existieren verschiedene Überlieferungen. Inwieweit diese den Tatsachen entsprechen, kann aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht mehr überprüft werden. Entwickelt wurde es über Hunderte von Jahren und hat angeblich seine Wurzeln im berühmten Shaolin-Kloster.
In der am weitesten verbreiteten Version der Entstehungsgeschichte wird beschrieben, dass die Nonne Ng Mui versuchte, ein Kampfsystem für körperlich Unterlegene zu entwickeln, das mit der kraftvollen Shaolin-Kampfkunst der Mönche konkurrieren konnte. Ihr Wissen gab sie an ein Mädchen weiter, das sich gegen einen lokal ansässigen Kämpfer zur Wehr setzen musste, der sie immer wieder bedrängte. Dieses Mädchen hieß Yim Wing Chun (Yim = Geheimnis; Wing = ewig; Chun = Frühling).
Die andere Version der Entstehungsgeschichte besagt, dass sich einige sehr gute Kämpfer im alten China in einem Kloster in der Halle des "ewigen Frühlings" trafen und dort zusammen diesen hoch effektiven Stil entwickelten.
Die beiden ersten Versionen berichten von einem südlichen Shaolin-Kloster, das zu der damaligen Zeit bestanden habe. Die Existenz dieses Klosters ist heute weder bewiesen noch widerlegt (im Gegensatz zum nördlichen Shaolin-Kloster, das bis heute besteht).
Die Legende von der Shaolin-Nonne und ihrer Schülerin Yim Wing Chun
Die folgende Erzählung beruht auf mündlicher Überlieferung: Während der Qing-Dynastie (1662-1722) waren die Anhänger des Shaolin-Quan Stiles wegen ihrer Kampfkunst so berühmt, dass sich die damalige Regierung unter Kaiser Kangxi Sorgen machte und beschloss, die Mönche zu töten und das Kloster am Song-Berg der Henan-Provinz in Zentral-China zu vernichten. So wurden Soldaten mit dem Befehl ausgesandt, das Kloster zu zerstören und die Religionsgemeinschaft auszulöschen. Die Mönche des Shaolin-Klosters leisteten jedoch derart starken Widerstand, dass selbst nach langem und hartem Kampf das Kloster noch immer stand. Chan Man Wai, der bei der Beamtenprüfung als Bester des Jahres abgeschnitten hatte, wollte sich bei der Regierung einen Namen verschaffen und trug ihr seinen Plan vor. Um den Plan durchzuführen, verschwor er sich mit einigen Mönchen des Shaolin-Klosters. So ließ sich Ma Ning Yee überreden, seine Kameraden zu verraten, indem er hinter ihrem Rücken das Kloster in Brand steckte. Die meisten Klosterbewohner kamen dabei ums Leben. Allerdings konnten die buddhistische Meisterin Ng Mui, der Abt des Klosters Meister Chi Sim mit den meisten Schülern, Meister Pak Mei, Meister Fung To Tak und Meister Miu Hin entkommen. Sie waren die Führer der fünf Shaolin-Stile und wurden die "Fünf Älteren" genannt. Außerdem gelang Miu Hins Schüler Fong Sai Yuk und Chi Sims Schüler Hung Xi Guan und Luk Ah Choy die Flucht. Nach der Zerstörung des Shaolin-Klosters trennten sich die Überlebenden, um den Nachstellungen der Manchu-Regierung leichter zu entkommen. Meister Chi Sim nahm zum Beispiel eine Tarnidentität als Koch auf einer "Roten Dschunke" an. Als Rote Dschunke wurden Transportschiffe einer Operntruppe bezeichnet, die üblicherweise mit roter Farbe gestrichen und bunten Fahnen geschmückt waren. Die Nonne Ng Mui dagegen ließ sich im Weißer-Kranich-Tempel am Tai-Leung-Berg nieder, wo sie sich ungestört der Kampfkunst und dem Zen widmen konnte.
Am Tai-Leung-Berg machte Ng Mui die Bekanntschaft mit einem gewissen Yim Lee und dessen Tochter Wing Chun, was so viel bedeutet wie "ewiger Frühling". Diesem jungen Mädchen hat das System der Nonne Ng Mui angeblich auch seinen wohlklingenden Namen zu verdanken. Zu jener Zeit lebte Ng Mui im Weißen Kranich-Tempel am Tai Leung-Berg. Dort pflegte sie mehrere Male im Monat den Marktplatz des nahen Dorfes zu besuchen, um einzukaufen. An einem Stand verkaufte das junge Mädchen Yim Wing Chun mit ihrem Vater Tofu. Die beiden waren aus ihrer Heimat in der Kwantung-Provinz geflüchtet, da ihr Vater unglücklicherweise in eine Gerichtssache verwickelt war (man sagt unschuldig), die ihn das Leben hätte kosten können. Als Schüler des Shaolin-Klosters hatte er, Yim Lee, einige Kampftechniken erlernt und sorgte in seiner Gegend für Gerechtigkeit, wenn es sich als nötig erwies. Dadurch geriet er in Schwierigkeiten, die ihn zwangen seine Heimat zu verlassen und an die Grenze der Provinzen Szechwan und Yunnan zu fliehen und sich am besagten Tai Leung-Berg niederzulassen. Yim Wing Chun entwickelte sich zu einem aufgeweckten und hübschen Mädchen. Ihre Schönheit und ihr freundliches Wesen sollten aber auch die Ursache für ein schlimmes Problem werden. Im Ort gab es einen notorischen Schläger namens Wong, der ständig Streit suchte. Aber die Dorfbewohner konnten ihm nichts anhaben, da er ein Kampfkünstler war und einer Geheimgesellschaft angehörte. Angezogen von der Schönheit Yim Wing Chun hielt er um ihre Hand an. Doch Wing Chun war schon als kleines Kind dem Jüngling Leung Bok Chau, einem Salzkaufmann aus Fukien versprochen. Wong schickte ihr daraufhin einen Boten, setzte ihr eine Frist und drohte Gewalt anzuwenden, falls sie sich ihm verweigerte. Vater und Tochter lebten also in großer Sorge um ihre Zukunft. Ng Mui war im Laufe der Zeit zur regelmäßigen Kundin von Yim Lee und seiner Tochter geworden und unterhielt sich oft mit den beiden. Eines Tages erkannte sie, dass die beiden von großen Sorgen gequält wurden. Auf ihre Fragen erzählte ihr Yim Lee von Wong. Da Ng Mui einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte, beschloss sie Wing Chun zu helfen. Aber sie wollte den Bösewicht nicht selbst bestrafen, da sie einerseits nicht ihre Tarnidentität aufgeben wollte, andererseits wäre ein Kampf zwischen ihr, der berühmten Meisterin aus dem Shaolin-Kloster und einem unbekannten Dorfschläger unfair und ruhmlos gewesen. Deshalb wollte sie Yim Wing Chun helfen, indem sie ihr die Kunst des Kämpfens mit ihrem neuen Kampfsystem beibrachte. Nach nur drei Jahren Privatunterricht hatte sie die ihr gezeigte Methode gemeistert. Ng Mui schickte sie nach der Ausbildung im Weißen Kranich-Tempel wieder zurück zu ihrem Vater. Kaum kehrte Wing Chun ins Dorf zurück, wurde sie wieder von dem Schläger Wong bedrängt. Doch dieses Mal lief sie nicht vor ihm davon, sondern forderte ihn zum Kampf auf. Der Rowdy war sich seines Sieges sicher und freute sich darauf, das schöne Mädchen endlich zu erringen. Aber er sollte sich getäuscht haben, denn Wing Chun schlug ihn zu Boden, wo er hilflos liegen blieb. Nachdem Wing Chun den Schläger ohne Probleme besiegt hatte, setzte sie ihre Kampfübungen fort. Als Ng Mui beschloss, wieder weiterzureisen, ermahnte sie Wing Chun, einen würdigen Nachfolger zu finden und nur die richtigen Schüler zu unterweisen. Diese Mahnung wurde auch von den folgenden Generationen befolgt.
Neuere Geschichte
Die meisten heute in Deutschland bekannten Varianten des Wing Chun gehen auf den Kampfkünstler Yip Man (1893-1972) zurück. Er hatte im Laufe seines Lebens in Hong Kong zahlreiche Schüler (u.a. Bruce Lee). Als Yip Man im Alter von 77 Jahren starb, ohne einen Nachfolger zu benennen, begann ein Streit um seine Nachfolge.
Yip Man soll Wing Chun nicht von einem einzigen Meister, sondern von zweien erlernt haben. Der eine Lehrer soll ein Geldwechsler (Chan Wah Shun) gewesen sein, der andere war Leung Bik, Sohn des legendären Leung Jan, eines bekannten Kräuterarztes und Apothekers aus Foshan in der Provinz Guangdong. Diese Geschichte ist allerdings umstritten. Leung Bik ist selbst den Schülern von Yip Man nicht bekannt. Die Figur wurde vermutlich von einem Reporter in Hong Kong erfunden.
Der Konflikt um die Schreibweise
Da es für die kantonesische Sprache bislang keine einheitlichen überall anerkannten Transkriptionsregeln zur Übertragung in die lateinische Schrift gibt, existieren zahlreiche Schreibweisen für die Kampfkunst Wing Chun, die sich aber i. d. R. phonetisch sehr ähnlich sind.
Dieses Problem wurde vor allem in jüngster Zeit noch dadurch verstärkt, dass Wing Chun durch zunehmende Popularität immer besser kommerziell verwertbar wurde und einige Schreibweisen in manchen Ländern als Warenzeichen angemeldet wurden.
Die Schreibweise Ving Tsun wird international häufig als übergreifende Bezeichnung aller auf Großmeister Yip Man zurückgehenden Stile benutzt. In Europa hat sich allerdings Wing Chun als übergreifende Bezeichnung weitgehend durchgesetzt.
Die direkten Schüler Yip Mans prägten die folgenden Schreibweisen:
- Ving Tsun (VT) - wurde von Yip Man selbst verwendet. Hintergrund für diese Namenswahl war vermutlich das "V" von Victory (engl. Sieg). Auch Wong Shun Leung und Moy Yat übernahm diese Schreibweise von Yip Man.
- Wing Chun - wird von den beiden Söhnen Yip Mans, Yip Ching und Yip Chun, von Lo Man Kam, dem Neffen und langjährigen Schüler Yip Mans, von Lok Yiu und anderen direkten Schüler Yip Mans verwendet. In Europa wird Wing Chun meist als übergreifende Bezeichnung verwendet.
- Wing Tsun (WT) - steht für den Stil von Leung Ting.
In Deutschland werden heutzutage zahlreiche Namensvarianten verwendet, wie sie auch am Anfang des Artikels zu finden sind.
Graduierung
In Südchina wie auch in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong wurde Wing Chun traditionell ohne ein Graduierungssystem gelehrt. Der Unterricht erfolgte ohne feste Lehrpläne. Sogenannte Lehrergrade wurden erst in Hongkong eingeführt, Schülergrade in Europa. In dieser Zeit wurden auch feste Lehrpläne eingeführt. Über Sinn und Zweck der Graduierungen bestehen unterschiedliche Ansichten, sie existieren nicht in allen Verbänden und Vereinen.
Entwicklung der Unterrichtsform: Vom Familiensystem zum Verbandswesen
Im alten China wurde das Wing Chun in einem „familiären“ Charakter jeweils von Lehrer zu Schüler weitergegeben. Der Lehrer, der die persönliche Verantwortung für die gesamte Ausbildung der Schüler hatte, wurde als „Vater-Lehrer“ (Sifu) angesehen. Der Unterricht fand gegen Bezahlung oft im Wohnhaus des Lehrers statt, eine persönliche Bindung zwischen Lehrer und Schüler, mit bestimmten gegenseitigen Verpflichtungen, war die Regel. In Hongkong wurden die ersten öffentlichen Schulen gegründet. Seitdem nahm der Unterricht im Wing Chun stärker einen kommerziellen und „modernen“ Charakter an.
Heutzutage ist in Europa und insbesondere in Deutschland eine starke Kommerzialisierung des Wing Chun erkennbar. Zahlreichen Sportvereinen mit ihrer gemeinnützigen Struktur und ihrer breitensportlichen Ausrichtung stehen viele kommerziell orientierte Wing-Chun-Verbände gegenüber. Manche der Verbände sind in einem Franchise-System organisiert.
Die Selbstdarstellung und interne Struktur einiger Verbände gerät dabei immer wieder in Kritik. Einerseits wird das Training in vielen Schulen möglichst massentauglich gehalten, andererseits wird dem Anfänger teilweise eine vollkommen falsche Vorstellung vom eigenen Potential und der Kampfkunst vermittelt.
Dabei tritt bisweilen der Widerspruch auf, dass in Anlehnung an das Familiensystem der Schüler zwar traditionelle Verpflichtungen gegenüber seinem Sifu hat, dieser jedoch an der Ausbildung seiner Schüler kaum mehr beteiligt ist.
In manchen Verbänden werden neben der eigentlichen Kampfkunst Wing Chun auch noch weitere Inhalte vermittelt. Besonders häufig werden in den Verbänden die philippinische Kampfkunst Eskrima oder eigene Neuentwicklungen und Kombinationen mit anderen Kampfkünsten unterrichtet. Bisweilen haben die Verbände auch philosophische, medizinische und esoterische Sparten.