Genre-Theorie

klassifiziert typische Merkmale erzählerischer literarischer oder filmischer Werke
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Die Genre-Theorie stammt aus der Literaturwissenschaft und geht auf Texte von Aristoteles zurück, der erstmals bestehende Schriften in verschiedene Kategorien zu unterteilen versuchte. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde die Theorie wieder verstärkt aufgegriffen und hat sich in verschiedene Richtungen weiterentwickelt, die Schwierigkeit dabei blieb aber immer dieselbe: Wie will man feststellen, zu welchem Genre ein Werk gehört, wenn ein Genre lediglich ein Kanon von Werken ist, die man mehr oder weniger willkürlich festlegen muss, da eine vollständige Beschreibung aller Merkmale eines Genres nicht oder nur aus den Werken selbst hergeleitet werden kann (die ja zu dem Zeitpunkt noch gar nicht zu dem Genre gehören).

Ein Beispiel: Wenn man sagt, Zwölf Uhr Mittags ist ein Western, so sagt man damit, dass der Film gewisse Merkmale, Strukturen oder Handlungsabläufe mit anderen Filmen teilt, die dann ja ebenfalls Western sein müssen. Das Problem besteht darin, dass Zwölf Uhr Mittags mit Für eine Handvoll Dollar vermutlich einige Merkmale teilt, andere aber wiederum nicht, trotzdem würde man beide Filme als Western bezeichnen. Die Glorreichen Sieben ist ein weiterer archetypischer Western, der mit den anderen beiden wohl auch Gemeinsamkeiten hat, die aber schon deutlich kleiner werden. Das kann man beliebig lange fortsetzen, bis irgendwann kein einziges Merkmal mehr übrig bleibt, das tatsächlich in allen Western vorkommt. Das Problem ist einfach, dass man nicht sagen kann Wild Wild West ist ein Western, weil er mit Zwölf Uhr Mittags diese oder jene Gemeinsamkeiten hätte, weil man dadurch im Grunde willkürlich Zwölf Uhr Mittags zur Messlatte aller Western erhebt, was bedeutet, dass jeder Film, der genug Gemeinsamkeiten mit ihm aufweist, automatisch als Western durchgeht, während alle Filme, die das nicht tun, automatisch keine Western sind. Letzen Endes wird jeder Film im Vergleich zu anderen Filmen als zum Genre gehörender bezeichnet, es gibt also keine feste Bezugsgröße, da ja die so genannten "Klassiker des Genres" auch nur im Vergleich zu anderen Filmen von irgendjemand einmal als "Western" bezeichnet wurden, auf eine mehr oder weniger zufällige und damit willkürliche Weise.

Was als Schwierigkeit hinzukommt, ist, dass jedes neue Werk in einem Genre natürlich neue Elemente einführt und alte entweder weglässt oder uminterpretiert. Täte es das nicht, wäre es vorhersehbar und klischeehaft, da sein Publikum mit dem Genre-Begriff gewisse Erwartungen verknüpft. Werden sie alle erfüllt, ist das Werk stereotyp, werden alle enttäuscht, dann ist es mehr oder weniger unverständlich.

Ein weiteres Beispiel: Geht das Publikum mit dem Wissen ins Kino, einen Western zu sehen, so wird es eine gewisse Erwartung bezüglich des Inhalts und der Form mitbringen, die durch frühere Filme aufgebaut wurden. Wenn sich zwei Männer auf der Straße gegenüberstehen, wird das Publikum mit einer Schießerei rechnen, bei anderen Handlungsmustern gibt es ähnliche Erwartungen. Werden sie alle erfüllt, ist der Film nach einer statischen Definition zwar ein lupenreiner Western, aber bestimmt kein großer Kassenerfolg, da sich das Publikum irgendwann langweilt.

Wenn ein neues Genre-Werk also unweigerlich neue Elemente einbringen muss, verändert sich die Definition eines Genres im Laufe der Zeit, Genres sind also historischen Prozessen unterworfen und beziehen sich immer auf bereits vorhandene Werke, neue können sie nicht vollständig beschreiben. In diesen Prozessen spielen auch gesellschaftliche Veränderungen eine wichtige Rolle, da der Konsens über ein Genre letztlich ein gesellschaftlicher Konsens ist.

Wieder ein Beispiel: Lange Zeit wurden in Western-Filmen Indianer nur als primitive Bösewichte gezeigt, die in riesigen Massen über harmlose Siedler herfielen und im letzten Moment von der Kavallerie vertrieben wurden (was in Teilen eine Anspielung auf den Kalten Krieg und die damit verbundene "Rote Gefahr²" darstellt). Filme wie Little Big Man oder Der mit dem Wolf tanzt änderten in einem neuen gesellschaftlichen Umfeld dieses Bild, und wiesen den Ureinwohnern einen neuen Platz zu.

Verschiedene Parteien tragen also zur Bildung und Weiterentwicklung von Genres bei: Einmal der Produzent, der eine bestimmte Sichtweise auf Genre-Strukturen und auf die Reaktion des Publikums hat, zum anderen das Publikum selbst, das eine Vorbildung und damit eine Erwartungshaltung aufgebaut hat und nicht zuletzt die Kritiker, die als Motor der Entwicklung dienen und den analytischen Hintergrund liefern.

Die Genre-Theorie beschäftigt sich mit all diesen Fragen und hat komplexe Erklärungssysteme entworfen, trotzdem bleiben viele Fragen offen, zum Beispiel die nach dem Verhältnis von Autor und Genre.

Siehe auch:

Filmgenres
Auteur-Theorie

vergleichbare Probeleme:

Prototypensemantik (Linguistik)