Bassam Tibi

syrisch-deutscher Sozial- und Politikwissenschaftler und Hochschullehrer
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Bassam Tibi, arabisch بسام طيبي (geb. 4. April 1944 in Damaskus) ist ein liberaler Politologe syrischer Herkunft, seit 1976 deutscher Staatsbürger. Seit 1973 ist er Professor für Internationale Beziehungen an der Georg-August-Universität Göttingen; zudem A.D. White Professor der Cornell University, USA.

Bassam Tibi, Mitbegründer der „Arabischen Organisation für Menschenrechte“, المنظمة العربية لحقوق الانسان (al-munazzama al-'arabiya li-huquq al-insan), trägt außerdem den „Islamisch-Jüdischen Dialog“ und den „Cordoba-Trialog“ für den jüdisch-islamisch-christlichen Austausch mit. Er ist ein harter Kritiker des Islamismus und verlangt von in Europa lebenden Moslems eine Abgrenzung vom Terrorismus.

Leben und Werk

Bassam Tibi stammt aus einer alten Damaszener Familie (Banu al-Tibi), ist Muslim, kam 1962 nach Deutschland und studierte Sozialwissenschaft, Philosophie und Geschichte an der Universität Frankfurt am Main, wo er 1971 auch promovierte. Er hörte die Frankfurter Schule und lernte, was Individualismus bedeutet (wichtig für seine interkulturellen Betrachtungen später). (Vortrag 16. Juli 2006 Kulturzone der Frankfurter Messe). Er habilitierte sich 1981 an der Universität Hamburg.

Neben seiner Professur in Göttingen war er Visiting Scholar und Research Associate an der Harvard-Universität (1982-1993) und dort auch Bosch Visiting Professor von 1998 bis 2000. Im akademischen Jahr 2003/2004 war er Gastprofessor für Islamologie an der Universität St. Gallen und im Herbst 2003 Gastprofessor an der Islamischen Universität Jakarta in Indonesien. Seit 2004 ist er A.D. White Professor-at-Large an der Cornell University, zuvor wirkte er als Erma O’Brien Distinguished Professor am kalifornischen European Union Center, Scripps College.

Von 1986-1988 hatte er mehrmals Gastprofessuren des Deutschen Akademischen Austausch-Diensts (DAAD) in Asien und Afrika, unter anderem in Khartum im Sudan sowie in Yaoundé in Kamerun. Er hatte eine Harvard-Fellowship und weitere in Princeton und Ann Arbor, (Michigan). Von 1989 bis 1993 war er Mitglied des „Fundamentalismusprojekts“ der „American Academy of Arts and Sciences“. 1994 war Tibi Gastprofessor an der University of California in Berkeley und 1995 und 1998 an der Bilkent Universität in Ankara. Zur Zeit ist er Mitglied des Projekts "Culture Matters" an der Harvard Academy for International Studies, und der Fletcher School an der Tufts University.

Bassam Tibi wurde 1995 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und 1997 vom „Amerikanischen Biographischen Institut“ zum Mann des Jahres gewählt. 2003 erhielt er zusammen mit dem jüdischen Professor Michael Wolffsohn den Jahrespreis der „Stiftung für Abendländische Besinnung“ (Zürich) für seinen Einsatz für europäische Werte.

Im Rahmen seines umfänglichen publizistischen Schaffens hat Tibi mehrere Begriffe geprägt oder mitgeprägt, darunter europäische Leitkultur, Parallelgesellschaft, Euro-Islam und „Scharia-Islam“. In dem Essay Traum von der halben Moderne, einer kritischen Auseinandersetzung mit den Entwicklungstendenzen der islamischen Staatenwelt, unterscheidet er zwei Aspekte: Zum einen die institutionelle Moderne, welche Wissenschaft und Technik sowie die traditionellen Lebensbereiche besetzt, und zum anderen die kulturelle Moderne, die für freiheitliche Grundwerte, Menschenrechte, Demokratisierung und Chancengleichheit steht. Die halbe Moderne ist demnach eine partielle Modernisierung insbesondere auf den Gebieten Wissenschaft und Technologie bei gleichzeitiger Ablehnung kultureller westlicher Einflüsse.

Angesichts ausgreifender islamistischer Strömungen hat Tibi 1998 in seinem Buch „Europa ohne Identität“ eine „europäische Leitkultur“ gefordert und im Rahmen der Diskussion über die Integration von Migranten in Deutschland diesen Begriff gegen einen wertebeliebigen Multikulturalismus ins Feld geführt, auch um der fortschreitenden Ausbildung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. In diesen Zusammenhang gehört auch seine Forderung, die in die europäischen Staaten eingewanderten Muslime müssten sich zu einem die jeweiligen Rechts- und Verfassungsordnungen ihrer Aufnahmeländer respektierenden Euro-Islam bekennen.

2000 wollten die CDU und ihr nahestehende Medien (Focus) ihn als Unterstützer ihrer Forderungen nach deutscher Leitkultur interpretieren. Er hat sich davon allerdings distanziert.

In seinem 2005 erschienenen Werk „Mit dem Kopftuch nach Europa?“ markiert Tibi deutliche Vorbehalte gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei, die er in der gegenwärtigen Verfassung nicht auf dem Weg in die europäische Wertegemeinschaft sieht. Die mit deutlicher Mehrheit im türkischen Parlament vertretene Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) werde von ihren führenden Repräsentanten zwar als islamisch-konservativ dargestellt, verfolge aber tatsächlich islamistische Ziele. Ein Beleg dafür sei die zunehmende Uniformierung der Frauen unter dem Kopftuch, das nicht mehr vorrangig überkommenes Volksbrauchtum ausdrücke, sondern immer mehr als islamistisches Zugehörigkeitsbekenntnis propagiert und eingefordert werde. Außerdem fördere Erdoğans Regierung Imam-Hatip-Schulen (Schulen „der predigenden Imame“) als Konkurrenz zu den kemalistisch-laizistischen staatlichen Schulen. Beide Ansätze würden auch in die türkischen Migrantengemeinden insbesondere in Deutschland exportiert und förderten dort die Ausbildung islamistisch geprägter Parallelgesellschaften, die die Scharia (Gottesgesetz) über das jeweilige staatliche Recht stellten. Mit einem Beitritt der Türkei in die EU unter den gegenwärtigen Voraussetzungen verbindet sich daher für Tibi die Gefahr eines Marsches verkappter Islamisten durch die europäischen Institutionen. Dem hätten die Altmitglieder wegen ihrer multikulturellen Ausrichtung und des zu weit gefassten Toleranzbegriffs wenig entgegenzusetzen.

Allerdings lehnt Tibi eine künftige EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht rundweg ab. Sein Prüfkriterium ist die vollständige Integration und Akzeptanz türkischer Migranten in Deutschland. Zu deren Gelingen müssten beide Seiten mit vereinten Kräften beitragen, indem sie sich von ihrer bisherigen Linie lösen: zum einen die einstweilen fahrlässig uninteressierte deutsche Zivilgesellschaft, zum anderen die ihrerseits noch wenig konstruktiv handelnden politisch und sozial gestaltenden Kräfte in der Türkei. Scharia-Islam und Kopftuch-Uniformierung jedenfalls sind für Tibi geradezu Gegenindikatoren des anzustrebenden Integrationsprozesses.

Im Gelingensfall wäre der Integrationsprozess nach Tibi aber sehr wohl geeignet zu zeigen, dass die Türkei für Europa die ihr bisher nur zugedachte Brückenfunktion zu anderen islamisch geprägten Gesellschaften ausüben könnte. Dies wird sich aber wohl erst in einem längeren als dem jetzt für den Beitrittsprozess anvisierten Zeitraum erweisen können, schon weil Tibi einstweilen eher hinderliche Tendenzen erkennt und aufzeigt.

2006 kündigte er an, Deutschland nach seiner Pensionierung 2009 verlassen und künftig an der Cornell-Universität lehren zu wollen, an der er zur Zeit als A.D. White Professor-at-Large tätig ist. [1][2][3][4]

Kritik

Der Soziologe Gazi Çağlar wirft Tibi Affinität zu konservativen Positionen vor - Tibi stelle angeblich ein Zivilisationsparadigma auf, dessen geschichtsphilosophische Grundlage an Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee erinnere. In dem Buch "Krieg der Zivilisationen" folge Tibi der Theorie Samuel Huntingtons vom Kampf der Kulturen.[5][6] Dieser Kritik ist jedoch entgegenzusetzen, dass Tibi stets auf den Unterschied zwischen Zivilisationskonflikt und Kampf der Kulturen hingewiesen hat und im oben angeführten Buch "Krieg der Zivilisationen" gegen die Theorie Huntingtons ausführlich Stellung nimmt (Kap.7).

Quellen

  1. Islam-Kritiker Bassam Tibi verlässt Deutschland, Die Welt, 23.9.2006
  2. "Gastarbeiter niedrigster Stufe", SPIEGEL online, 26.9.2006
  3. Bericht über ein scheinbar verlorenes Leben im Dienst der deutschen Universität, Homepage von Bassam Tibi, Stand März 2006
  4. Warum ich gehe: Bittere Bilanz nach 44 Jahren Deutschland: Dieses Land gibt Zugewanderten keine Identität, Tagesspiegel Berlin, von Bassam Tibi, 7. Oktober 2006
  5. Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen, Zusammenfassung, Unrast Verlag
  6. Die Neuerfindung des Islam, Tagesspiegel, 19.2.2006

Werke

  • 1969: Die arabische Linke. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.
  • 1971: Zum Nationalismus in der Dritten Welt - am arabischen Beispiel. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt (zugleich Dissertation, Universität Frankfurt). ISBN 3434400257
  • 1973: Militär und Sozialismus in der Dritten Welt. Allgemeine Theorien und Regionalstudien über arabische Länder. Frankfurt am Main: Suhrkamp (zugleich Habilitationsschrift, Universität Hamburg). ISBN 3518106317
  • 1979: Internationale Politik und Entwicklungsländer-Forschung. Materialien zu einer ideologiekritischen Entwicklungssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3518109839
  • 1981: Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. München: C. H. Beck. ISBN 3518284894
  • 1985: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3518281313
  • 1987: Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3518282506
  • 1989: Konfliktregion Naher Osten. Regionale Eigendynamik und Großmachtinteressen. München: C. H. Beck. ISBN 3406353649
  • 1991: Über die Schwierigkeiten der Europäer, arabische Politik zu verstehen in: Nachgedanken zum Golfkrieg. Hg. Georg Stein. Heidelberg: Palmyra. ISBN 3980229823. Übriger Inhalt [1]
  • 1992: Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik. München: C. H. Beck. ISBN 3406340768
  • 1992: Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 3518285904 (erweiterte Neuausgabe der Dissertation von 1971).
  • 1993: Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik. Hamburg: Hoffmann und Campe. ISBN 345508477X
  • 1994: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. München: Piper. ISBN 3492222854
  • 1995: Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus. Hamburg: Hoffmann und Campe. ISBN 3455110606
  • 1996: Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart. München: Piper. ISBN 3492227139
  • 1996: Pulverfaß Nahost. Eine arabische Perspektive. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. ISBN 3421050880
  • 1998: Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München: Bertelsmann. ISBN 3570001695 (Neuausgaben 2000/2002 mit dem Untertitel: Leitkultur oder Wertebeliebigkeit)
  • 1998: Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus. München: Diana. ISBN 3828450121
  • 1995: Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus Hamburg: Hoffmann und Campe. ISBN 3455110606
  • 1995: Der religiöse Fundamentalismus im Übergang zum 21. Jahrhundert. Mannheim: BI-Taschenbuchverlag. ISBN 3411105011
  • 1999: Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus. Berlin: Propyläen. ISBN 3549057881
  • 1999: Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die westliche Welt. München: Bertelsmann. ISBN 3570003809.
  • 2000: Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. ISBN 3421053855
  • 2000: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden? Darmstadt: Primus. ISBN 3896781634
  • 2001: Einladung in die islamische Geschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. ISBN 3896784099
  • 2001: Die neue Weltunordnung. München: Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG 2001.
  • 2002: Der islamische Fundamentalismus und die Moderne - Zwischen Islam-Reform, religiöser Orthodoxie und dem islamischen Traum von der halben Moderne, aus: Perspektive 21, Heft 15, 03/2002.
  • 2002: Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt. ISBN 3421056331
  • 2004: Der neue Totalitarismus. Heiliger Krieg und westliche Sicherheit. Darmstadt: Primus. ISBN 3896784943
  • 2005: Mit dem Kopftuch nach Europa? Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union. Darmstadt: Primus. ISBN 3896785370

Literatur

  • Gazi Çağlar: Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen: der Westen gegen den Rest der Welt; eine Replik auf Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Unrast, Münster 2002, ISBN 3-89771-414-0
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