Gegenstand der Rhetorik (griechisch ρητορική [τέχνη], rhetorikè (téchne) - die Redekunst) war in der Antike im allgemeinen Sinne die Kunst der (freien, öffentlichen) Rede, nach Aristoteles eingeteilt in Pathos, Ethos und Logos. Aufgabe der Rhetorik war es, die Möglichkeiten zu erforschen und die Mittel bereitzustellen, die nötig sind, um eine Gemeinsamkeit zwischen Redner und Zuhörern herzustellen (Identifikation), auf deren Basis es ermöglicht wird, eine subjektive Überzeugung allgemein zu machen (Persuasion).
Heute wird unter Rhetorik zumeist Theorie und Praxis der Rede und des Gesprächs verstanden. Wissenschaftliche Arbeiten zur Rhetorik beschäftigen sich - vor allem seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts - überwiegend mit dem Gespräch sowie mit Fragen der Rede- und Gesprächspädagogik; die Forschungen kommen aus unterschiedlichen Wissensgebieten: der Sprechwissenschaft, der Linguistik, der Psychologie, der Pädagogik, der Soziologie u.a.
Geschichte der Rhetorik
Die Geschichte der Rhetorik beginnt in der Antike. Im antiken Griechenland und Rom entstanden Lehrbücher der Rhetorik, die alle Arbeitschritte von der Konzeption der Rede, dem Finden und Anordnen passender Argumente, ihrer wirkungsvollen sprachlichen Ausgestaltung bis zum Auswendiglernen der Rede und dem mündlichen Vortrag regelten.
Zwar hat es die praktische Beredsamkeit schon immer gegeben (bereits die Homerischen Epen reflektieren darüber), Theorie und Lehre dieser Kunst entwickeln sich jedoch erst im 5. Jahrhundert v. Chr aus praktischen Bedürfnissen heraus. Streitigkeiten beispielsweise um offene Grundstücksfragen nach Tyrannenvertreibungen oder um unterschiedliche politische Positionen, die für die Allgemeinheit relevant waren, führten dazu, sich tiefergehend mit der Kunst der öffentlichen Rede zu beschäftigen. Wer zu seinem Recht kommen wollte, musste sein Anliegen vor Gericht persönlich vortragen. Da die breiten Schichten der Bevölkerung längst nicht ausreichend gebildet waren, suchten sie sich Redelehrer – wie Korax oder dessen Schüler Gorgias – die ihnen beim Ausarbeiten der Reden halfen.
Wie Aristoteles anmerkt, befasste sich Korax wohl als erster mit der überzeugenden Rede und dem Wahrscheinlichkeitsschluss. Wesentliche Elemente der Rhetorik wie Beweismittel, Indizien und Schlussfolgerung, Überredung und der richtige Zeitpunkt eines bestimmten Argumentes tauchen hier bereits auf, wenn auch noch nicht systematisiert.
Auch in Platons Dialogen (Gorgias) werden Auseinandersetzungen über die Redekunst geführt. Die zentrale Unterscheidung ist dabei die zwischen Philosophen und Sophisten. Der Unterschied wird erkenntnistheoretisch wie ethisch begründet: Dem Sophisten geht es nur um die Überredungskraft der Rede, selbst wenn das Gegenüber von etwas Falschem oder Widersprüchlichem überzeugt werden soll. Diese Position ist zwar erfolgreich, aber ethisch fragwürdig; dem wahren Philosophen kann es nur darum gehen, durch die Rede zur Wahrheit hinzuführen. Sokrates wird dabei die Mäeutik (im metaphorischen Sinne) zugeschrieben, die "Hebammenkunst" des geschickten Fragens und Ausdeutens von Paradoxen, durch die ein Gegenüber "von selbst" zur Wahrheit findet. Eine positiv verstandene Rhetorik kann deshalb, wie Platon im Phaidros ausführt, nur Seelenleitungskunst (Psychagogie) sein. Es ist jedoch heute umstritten, ob nicht die gesamten platonischen Dialoge eine Sophistik ganz eigener Art vorführen.
Aristoteles entwickelte als erster eine systematische Darstellung der Redekunst (siehe Rhetorik (Aristoteles)). Er versteht diese als das „Vermögen, für jeden einzelnen Gegenstand und Fall das zu erkennen, was in ihm an Überzeugendem (oder Glaubwürdigem) liegt“. Rhetorik ist die Kunst zu überzeugen und damit wie bei Platon unterschieden von der sophistischen Überredung. Die Rhetorik muss sich zwar nicht immer im Bereich der Wahrheit bewegen, meistens genügt auch die Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit. Auf das Problem der Ethik der Rhetorik geht Aristoteles nicht ausführlich ein, vertraut aber auf die größere Wirksamkeit wahrer Argumente. Aristoteles unterscheidet erstmals systematisch die verschiedenen Überzeugungsmittel ethos - pathos - logos, die drei Gattungen der Rede und im zweiten Buch verschiedene Argumentationsweisen (Topoi), die in der Rede verwendet werden können. Das ursprünglich vermutlich separate dritte Buch der Rhetorik behandelt primär die rhetorische Stilistik, mit wichtigen Beobachtungen etwa zur Metapher.
Die systematische Rhetorik wurde zu einer langlebigen Textsorte. Die römischen Intellektuellen Cicero und Quintilian übersetzten und ergänzten die aristotelische "Rhetorik" und publizierten eigene Lehrbücher. Im Mittelalter wurden diese Quellen zur Grundlage des Triviums (Grammatik, Dialektik, Rhetorik), das an den Universitäten Europas das Grundstudium und die Grundlage jeder intellektuellen Tätigkeit bildete.
Für die gesamte Frühe Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) ist die Rhetorik die unbestrittene Grundlage der Literatur und ihrer Theorie, der Poetik. Dichter wie Martin Opitz oder Georg Philipp Harsdörffer verfassten deutschsprachige Poetiken, deren Struktur und Inhalt sich am Vorbild der Rhetoriken orientierte. Das Gedicht galt als Rede im Sinne der Lobrede, und vom Poeten wurde Gelehrsamkeit und rhetorische Schulung verlangt. Vorbild für diesen Prozess der Vernakularisierung war die lateinische Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit dem Aufkommen der Genieästhetik unter deutschen Intellektuellen die Rhetorik abgewertet. Reden sollten nunmehr überzeugend wirken, weil sie aus dem Inneren der Seele oder des Herzens flossen, und nicht mehr, weil eine bestimmte Technik möglichst geschickt angewandt wurde. Diese Abwertung führte dazu, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rhetorik als Lehrfach zunehmend verschwand. Goethe, der einer der größten Gegner der rhetorischen Kunstlehre war und diese als Schule des Verstellens bezeichnete, hatte dabei selbst eine rhetorische Ausbildung genossen. Die Rhetorik fördere das Aufwieglertum und sei eine Technik, mit der es dem Redner möglich sei, "gewisse äußere Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen". Immanuel Kant wertet in seiner Kritik der Urteilskraft die Rednerkunst als eine Methode ab, sich der Schwächen des Gegners zu bedienen, weshalb sie "gar keiner Achtung würdig" sei. Walter Jens führt das schlechte Ansehen der Rhetorik in Deutschland u.a. auf das feudalistische System vieler Territorialherren zurück. Die Rhetorik sei vom Wesen her Sprachmacht der Vernunft, die über Moral und Humanität reflektiere und keine bloße Technik. Die abendländische Beredsamkeit sei aber durch das Untertanendenken zur Dürftigkeit deutscher Zeremonialrhetorik abgesunken. Bismarck selbst, obwohl großer Redner, habe die Rhetorik verachtet und sei stolz darauf gewesen, kein Rhetor gewesen zu sein. In der Missachtung des Wortes gegenüber der Tat zeigten sich Reste einer Untertanengesinnung, die nur Befehlen und Gehorchen kenne. Dieses Fehlen einer rhetorischen Tradition in Deutschland gegenüber England und Frankreich sei ein Grund für die Anfälligkeit gegenüber massenpsychologischer Propaganda gewesen. Auch für Nietzsche beginnt die Bedeutung der Rede erst mit der politischen Form der Demokratie.
In Frankreich dagegen, wo seit dem Mittelalter der Einfluss der antiken Rhetoriker am meisten spürbar war (im geistlichen Bereich u.a. Bossuet und Louis Bourdaloue), wurde durch die Französische Revolution ein weiterer Aufschwung in der öffentlichen Beredsamkeit ausgelöst. In England förderte das Parlament die Ausbildung von Rhetorikern, wie William Pitt, Edmund Burke, William Ewart Gladstone, Charles James Fox und Thomas Babington Macaulay.
Im 20. Jahrhundert wurde die Rhetorik von einer Reihe von Theoretikern aus unterschiedlichen Perspektiven (Studium der Massenkultur, Theorie der Argumentation, Grundlegung der Literaturwissenschaft etc.) wieder 'entdeckt'. Zu den prominenten Beispielen dieses erneuerten Interesses an der Rhetorik zählen Roland Barthes, Ed Black, Wayne C. Booth, Kenneth Burke, Karlyn Kohrs Campbell, Dale Carnegie, Edward P.J. Corbett, Jacques Derrida, G. Thomas Goodnight, James Kinneavy, Richard A. Lanham, Paul de Man, Michael Calvin McGee, Marie Hochmuth Nichols, Jean Paulhan, Chaim Perelman, Robert Pirsig, I.A. Richards, Stephen Toulmin, Lucy Olbrechts Tyteca und Richard M. Weaver.
Nur an wenigen Universitäten (z. B. der Eberhard-Karls-Universität Tübingen) wird Rhetorik noch als eigenes Fach gelehrt. Die Sprechwissenschaft und Sprecherziehung hingegen beschäftigt sich lehrend und forschend überwiegend mit der angewandten rhetorischen Kommunikation. In der modernen Linguistik werden rhetorische Fragen z. B. im Rahmen der Gesprächsanalyse behandelt. Inzwischen wurde die rhetorische Tradition auch in der Literaturwissenschaft wieder rehabilitiert. Als Gebrauchsrhetorik (Rhetorik für Manager u. a.) hat sie auch wieder ihren Platz in den Bücherregalen, wenn auch meistens auf den unmittelbaren und manchmal zweifelhaften Gebrauchswert reduziert.
Begriff der Rhetorik
Dass der Gebrauch des Begriffes "Rhetorik" heute in so unterschiedlichen Kontexten und Bedeutungen erfolgt, hat mit ihren zwei wesentlichen Dimensionen zu tun: Einerseits ist sie Praxis, andererseits ist sie Theorie. Rhetorik war immer Kunstlehre und Kunstübung zugleich. Bis ins 17. Jahrhundert erfolgte eine Differenzierung zum einen in die 'rhetorica' oder 'rhetorica docens' als Bezeichnung für die Theorie ('Redekunst'), zum anderen in die 'oratoria', 'eloquentia' oder 'rhetorica utens' für die Praxis ('Beredsamkeit'). Heute bemüht sich die Wissenschaft um eine terminologische Unterscheidung in 'Allgemeine Rhetorik' (für die Theorie) und 'Angewandte Rhetorik' (für die Praxis). Rhetorik-Trainer und Ratgeber-Autoren ignorieren dies allerdings weitgehend. Insofern ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis hierzulande stark gekennzeichnet durch gegenseitige Arroganz und Ignoranz.
Unter "Angewandte Rhetorik" kann man die Disziplin der praktischen Rede verstehen. Dabei macht jemand bewusst oder unbewusst Gebrauch von den Regeln und Techniken, die im historisch entstandenen System der "Allgemeinen Rhetorik" formuliert sind. Als konkrete Anleitung zur verbalen wie schriftlichen Kommunikation umfasst sie Ausbildung und Übung des wirkungsorientierten Sprechens, Verhaltens und Schreibens. Erkenntnisse der Sprechwissenschaft und Sprecherziehung fließen dabei heute ebenso ein wie Erkenntnisse der Psychologie und Linguistik (Sprachlehre). Die Angewandte Rhetorik bezieht sich vor allem auf die Redepraxis in der Wirtschaft, in der Politik und vor Gericht; doch sind auch das therapeutische Gespräch oder die private Kontroverse von ihr geprägt. Da sie sich nicht nur auf den Monolog, sondern ebenso auf den Dialog bezieht, beschäftigt sie sich ebenso mit Dialektik (im sokratischen Sinne) und wird gelegentlich auch als 'Gesprächsrhetorik' (siehe Sprecherziehung) bezeichnet.
System der Rhetorik
Produktionsstadien einer Rede
Von der Idee bis hin zum Vortrag sind fünf Schritte (officia oratoris bzw. rhetorices partes) zu durchlaufen:
- inventio: Auffindung der Argumente. Wichtigstes Hilfsmittel ist dabei die Topik.
- dispositio: Gliederung des Vortrags
- elocutio: Einkleidung der Gedanken in Worte (Redeschmuck, ornatus); die sprachliche Gestaltung (Wahl der Worte, Rhetorische Figuren, kommunikative Direktion, Satzbau, Pausen)
- memoria: Einprägen der Rede für den auswendigen Vortrag (Memoria); Auswendiglernen durch Mnemotechnik, z.B. durch bildliche Vorstellungen
- pronuntiatio / actio: Öffentlicher Vortrag, bei dem stimmliche, mimische und gestische Mittel eingesetzt werden. Die stimmliche Ausführung (Lautstärke, Tempo und Pausensetzung, Artikulation, Timbre, Prosodie); Mimik, Gestik und Haltung (Blick- bzw. Augenkontakt, Physiognomie, persönliche Präsenz, Körpersprache)
In der klassischen Rhetorik gilt für die Entwicklung einer Rede die Differenz zwischen Gegenständen und Gedanken einerseits und ihrer sprachlichen Formulierung andererseits.
Redegattungen
Aristoteles unterscheidet in seiner Rhetorik drei Gattungen:
- Gerichtsrede (lat. genus iudiciale)
- Beratungsrede; politische Entscheidungsrede (lat. genus deliberativum)
- Lob- und Festrede (lat. genus demonstrativum)
Während in der Gerichtsrede über Vergangenes geurteilt wird (z.B. Hat der Angeklagte Herrn XY ermordet?), geht es in der politischen Entscheidungsrede um ein in der Zukunft liegendes Thema (z.B. Soll Krieg geführt werden oder nicht?). In beiden Fällen aber geht es um eine aktive Entscheidung, die durch die Rede beeinflusst werden soll. Im Falle der Lob- und Festrede dagegen bleibt das Publikum in einer passiven Rolle.
In der weiteren Geschichte der Rhetorik wurde diese Gattungstrias normativ verstanden. Erst in der Spätantike wurde sie um weitere rhetorische Textsorten wie den Brief, den Lehrvortrag (Sachrede) oder die Predigt erweitert. In der Sachrede werden dem Zuhörer feststehende Tatsachen nahegebracht. Die Predigt ist dazu da, dem Publikum aus der Bibel (vor allem dem Evangelium) zu erzählen und diese(s) zu erklären und verständlich zu machen.
Redeteile
Die einzelnen gedanklichen Abschnitte einer Rede werden bezeichnet als partes orationis (Teile einer Rede).
- Einleitung (exordium) - Der Redner versucht, das Wohlwollen des Publikums zu erlangen und seine Aufmerksamkeit sicherzustellen.
- Erzählung (narratio) - Darauf folgt eine Schilderung des Sachverhaltes, um den es geht; bei der Gerichtsrede wird hier der Fall erzählt.
- Beweisführung (argumentatio) - Der eigentlich argumentierende Teil der Rede, in dem der Redner für die Glaubwürdigkeit seiner Sache argumentiert. Kann auch die Widerlegung der gegnerischen Argumente umfassen.
- Redeschluss (peroratio) - Schluss: Hier kann z.B. noch einmal an die Emotionen des Publikums appelliert werden.
Wirkungsweisen einer Rede
Officia oratoris heißen die Wirkungsweisen der Rede:
- docere et probare (belehren, argumentieren)
- conciliare et delectare (gewinnen, erfreuen)
- flectere et movere (rühren, bewegen)
Stilhöhen einer Rede
Die antike Stiltheorie unterschied v. a. drei Stilebenen für Reden, die tlw. lose mit den Wirkungsweisen verknüpft wurden. Welche Stilebene wann zu wählen sei, war Gegenstand heftiger Debatten, von denen etwa Ciceros Orator Zeugnis ablegt. Cicero plädiert dafür, die Stilebene je nach dem Gegenstand der Rede zu wählen, ja ggf. so
- genus humile oder subtile: schlichter Stil ähnlich der Alltagssprache, arbeitet besonders mit einfacher Argumentation
- genus medium oder mixtum: mittlerer bzw. gemischter Stil, typisch etwa für den wissenschaftlichen Vortrag
- genus grande oder sublime: gehobener bzw. erhabener Stil, steht der dichterischen Sprache nahe, arbeitet stark mit Affekterzeugung
Monolog und Dialog
Für den freien Vortrag (Monolog) nutzt der Redner verschiedene rhetorische Figuren, Thesen, Prämissen und Argumente. Das Argument steigert hier die Prämisse oder These durch eine gezielte Konklusion, mit der der Redner sein Gegenüber zu überzeugen sucht. Durch die Anordnung dieser Elemente in der freien Rede (Steigerung, Reihung, Dialektik etc) erzeugt der Sprecher Aufmerksamkeit und Spannung beim Publikum.
Im Dialog eines Gespräches gewinnt die Interaktion besondere Bedeutung. Weit mehr als beim Vortrag, der durchaus auch gewisse Interaktionen bilden kann, hat der Redner nun auf die verbalen und nonverbalen Reaktionen seines Gegenübers zu reagieren. Hierbei spielen gerade die körpersprachlichen Signale als Gradmesser der emotionalen Verfassung eines Gesprächspartners eine besonders große Rolle, die mitunter ja widersprüchlich sein kann. Sind nonverbale und verbale Aussagen unstimming, spricht man von Inkongruenz. Die Anordnung der rhetorischen Elemente im Dialog hängt so vor allem von der Wirkung ab, die er erzielt.
Hermeneutik
Die Rhetorik ist auch literaturwissenschaftliche Hilfslehre für die zentrale Aufgabe der Hermeneutik. Hier fragt sie nach den Strategien der Darstellung, der Leserführung und der internen Wirkungsabsicht von Texten. Mit dem textkritischen Wissen der Rhetorik können schriftliche Quellen auf ihre Überzeugungsstrategien hin analysiert werden.
Ethik und Rhetorik
Gedanken zur Ethik sind seit jeher Bestandteil der Rhetorik. Wann handelt es sich bei einer Rede (noch) um ein legitimes Beeinflussen von Einstellungen? Wo beginnt Manipulation? Heiligt der Zweck alle Mittel? Ein Konflikt um diese Fragen entwickelte sich in der Antike bereits zwischen Sophisten (etwa Gorgias, Isokrates) und Philosophen (etwa Sokrates, Platon). Damit eng verbunden war die Frage nach einer "letzten" Wahrheit, die hätte Klarheit schaffen können, wie und wovon man überzeugen darf.
Viele antike Autoren entwickelten Vorstellungen davon, welche Mittel der Rhetorik ethisch legitim sind und so die Akzeptabilität der Rede erhöhen. Bei Aristoteles etwa heißt es: "Dadurch, wie der Redner erscheint, gewinnen wir Vertrauen, und das ist dann der Fall, wenn er als rechtschaffener oder freundlich gesinnter Mensch oder als beides erscheint" (rhet. 1366a). Ethik im Sinne der charakterlichen Prägung des Redners zählt für ihn - neben Leidenschaftserregung und Argumentation - zu den drei Überzeugungsmitteln. Vor ihm war es bereits Isokrates (370 v. Chr.), der in seiner Rede „Nikokles“ etwa die Goldene Regel als Empfehlung für den Redner formulierte.
Im antiken Rom sind es insbesondere Cicero, Quintilian und Seneca, die ein Idealbild des Redners als orator Perfectus (Cicero) oder vir bonus (Quintilian) entwerfen und somit Beredsamkeit, Weisheit und tugendhaftes Leben miteinander verknüpfen.
Im Mittelalter zeigt sich die Ethik als Form angewandter Rhetorik etwa darin, dass Thomas von Aquin strenge Regeln für einen "Scholastischen Disput" formulierte. Diese Streitgespräche erzwangen das Zuhören (als eine Form der Wertschätzung). Denn bevor jemand seinen eigenen Standpunkt in diesen Übungsreden darstellen durfte, musste er vorher den gegnerischen Redebeitrag sinngemäß richtig mit eigenen Worten wiedergeben (Paraphrasierung). Andernfalls wurde er disqualifiziert.
Wenn in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahllose Vorbehalte gegenüber der Rhetorik bestanden, so ist dies auch auf ihre einseitige Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus zurückzuführen. Das Dritte Reich selbst und seine Gräueltaten können auch als eine (!) Konsequenz einer Rhetorik ohne einwandfreies ethisches Fundament angesehen werden (siehe Joseph Goebbels). Es gibt nach verbreiteter Ansicht keine "böse Sprache" - nur "böse Sprecher".
Kritiker würden in dieser Argumentation allerdings einerseits selbst eine rhetorische Figur erkennen und andererseits auf das sprachwissenschaftliche Werk Victor Klemperers verweisen, der die Sprache des Dritten Reiches, ihre Euphemismen und Verschleierungen aus der Perspektive eines von Verfolgung bedrohten Juden erforschte. Schimpfworte, Diffamierungen und Kampfbegriffe sind ebenso Teil der Sprache, können jedoch kaum als neutral angesehen werden.
Dass in der deutschen Sprache das Verb "überreden" als anrüchig empfunden und statt dessen von "überzeugen" als Ziel der Rhetorik gesprochen wird - eine Differenzierung übrigens, die weder Griechen noch Römer kannten - mag auch als Beleg für die Relevanz einer ethisch orientierten Redekultur gewertet werden.
(Anmerkung: Griechisch: "anapeitho" heißt "überreden"; "peitho" kann dagegen zusätzlich auch "überzeugen" bedeuten [Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch,München, 1979, 58; 587]; Georges: Lateinisch-Deutsches Wörterbuch, Stichwort "persuadere", II: insbesondere überreden, konstruiert mit "ut"; sonst eher: persuadere plus Akkusativ: überzeugen. D.h., die semantische Differenz liegt in den alten Sprachen nicht im lexikalischen, sondern im syntaktischen Bereich, ist aber durchaus sichtbar.)
Berühmte historische Reden
- Gorgias: Lob der Helena, *ca. 480 v.Chr.
- Sokrates: Verteidigungsrede, 399 v. Chr., Athen
- Demosthenes: Kranzrede, 330 v. Chr., Athen
- Marcus Tullius Cicero: Reden gegen Verres, 70 v.Chr., Rom
- Jesus von Nazaret: Bergpredigt, um 29 n.Chr.
- Martin Luther: Verteidigungsrede, 18. April 1521, Worms
- Elisabeth I.: Tilbury-Rede, 9. August 1588, Tilbury
- Häuptling Seattle: Meine Worte sind wie die Sterne, Januar 1854
- Abraham Lincoln: Gettysburg Address, 19. November 1863, Gettysburg (Pennsylvania)
- Mahatma Gandhi: Über die Gewaltlosigkeit, 1922
- Adolf Hitler: Rede nach der Machtergreifung, 10. Februar 1933, Berlin
- Winston Churchill: Blut, Schweiß und Tränen, 19. Mai 1940, London
- Joseph Goebbels: Sportpalastrede, 18. Februar 1943, Berlin
- Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen, 6. Juni 1945, Washington D.C.
- John F. Kennedy: „Ich bin ein Berliner“, 26. Juni 1963, Berlin
- Martin Luther King: I have a dream, 28. August 1963, Washington D.C.
- Richard von Weizsäcker: Die doppelte Befreiung, 8. Mai 1985, Bonn
Zitate
- „Eine gute Rede hat einen guten Anfang und ein gutes Ende – und beide sollten möglichst dicht beieinander liegen.“ (Mark Twain)
- „Ehe wir uns anschicken, andere zu überzeugen, müssen wir selbst überzeugt sein.“ (Dale Carnegie)
- „Die Redekunst ist die allerumfassendste Kunst.“ (Aurelius Augustinus)
- „Daher ist es erforderlich, Kunstfertigkeit anzuwenden, ohne dass man es merkt, und die Rede nicht als verfertigt, sondern als natürlich erscheinen zu lassen – dies nämlich macht sie glaubwürdig.“ (Aristoteles)
- „Beherrsche die Sache, dann folgen auch die Worte − rem tene, verba sequentur.“ (Cato der Ältere, 234–149 v. Chr.)
Siehe auch
Quellentexte zur Geschichte der Rhetorik
Klassische Texte:
- Platon: Gorgias.
- Platon: Phaidros.
- Aristoteles: Rhetorik.
- Rhetorica ad Herennium.
- Cicero: De inventione - Über das Finden des Stoffes.
- Cicero: Brutus.
- Cicero: Orator.
- Cicero: De oratore - Über den Redner.
- Quintilian: Institutio oratoria - Ausbildung des Redners.
- Tacitus: Dialogus de oratoribus - Gespräch über die Redner.
Humanistische Texte:
- Johannes Susenbrot: Epitome troporum
Literatur zu Geschichte und Theorie der Rhetorik
Geschichte der Rhetorik
- Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001, ISBN 3-534-14486-4
- Michael Cahn: Kunst der Überlistung, München 1986.
- Urs Meyer: Politische Rhetorik, Paderborn 2001.
- Marc Fumaroli (Hg.): Histoire de la rhétorique dans l'Europe moderne, Paris 1999.
- Craig R. Smith, Rhetoric & human consciousness : a history, 2. ed., Prospect Heights, Ill. 2003, ISBN 1-577-66174-5
Theorie der Rhetorik:
- Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. 4., durchges. Aufl. München 1971.
- Heinrich F. Plett: Textwissenschaft und Textanalyse. Semiotik, Linguistik, Rhetorik. Heidelberg 1975 (UTB 328).
- Heinrich F. Plett (Hg.): Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung. München 1977.
- Chaim Perelman: Das Reich des Rhetorik, München 1980.
- Chaim Perelman / Lucie Olbrechts-Tyteca: Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren. Hg. von Josef Kopperschmidt. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004.
- Helmut Schanze / Josef Kopperschmidt (Hgg.): Rhetorik und Philosophie. München 1989.
- Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 3. Aufl., Stuttgart 1990.
- Peter Oesterreich: Fundamentalrhetorik, Hamburg 1990.
- Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 9. aktualis. u. erw. Aufl., Hamburg 1991.
- Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1ff., Tübingen 1992ff. [bisher erschienen: Bd. 1-7: Pos-Rhet].
- Ottmers, Clemens: Rhetorik, Stuttgart u. Weimar 1996 (Slg. Metzler 283).
- Karl-Heinz Göttert: Einführung in die Rhetorik, München 1998.
- Joachim Knape: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000.
- Heinrich F. Plett: Systematische Rhetorik. Konzepte und Analysen. München 2000 (UTB 2127).
- Peter Oesterreich: Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003.
- Gert Ueding / Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte. Technik. Methode, 4. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2005.
- Gert Ueding (Hg.): Rhetorik. Begriff - Geschichte - Internationalität. Tübingen: Niemeyer 2005 [= die einschlägigen Rhetorik-Artikel des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik].
Praxis der Rhetorik:
- Bremerich-Vos, Albert: Populäre rhetorische Ratgeber, Tübingen 1991.
- Soudry, Rouven (hrsg.): Rhetorik - eine interdisziplinäre Einführung, Heidelberg 2006
Ratgeberliteratur:
- Birkenbihl, Vera F.: "Rhetorik", München 2004³
- Bredemeier, Karsten: Provokative Rhetorik? Schlagfertigkeit!, Zürich u. Köln 2000.
- Dale Carnegie: Besser miteinander reden, Scherz Verlag, New York 1969.
- Herrmann, Paul: Reden wie ein Profi, München 1991.
- Höller, Ralf: 50 Mal Rhetorik. Richtig reagieren in 50 Standardsituationen. Zürich 2006.
- Kessels, Jos: Die Macht der Argumente, Weinheim u. Basel 2001.
- Kirchner, Alexander/ Kirchner, Baldur: Rhetorik und Glaubwürdigkeit, Wiesbaden 1999.
- Mühlbauer Winni, Fenner Joachim: NLP-Rhetorik - Die neue Schule der Rhetorik. Ein Seminarkonzept, 2. Aufl. München 2002
- Matthias Pöhm Vergessen Sie alles über Rhetorik, Frankfurt 2002
- Rupert Lay: Führen durch das Wort, Frankfurt 2001.
- Samy Molcho: Alles über Körpersprache, München 1995.
- Thiele, Albert: Überzeugend Argumentieren, Wiesbaden 1999.
- Ulonska, Ulrich: Rhetorik, Stuttgart 2003.
- Wachtel, Stefan: Rhetorik und Public Relations, München 2003.
- Wolfhagen, Thies O.: Relevanz von Rhetorik in verschiedenen Praxisfeldern (Personalführung, Jugend- & Erwachsenenbildung), Eckernförde 2005.
Weblinks
- International Society for the History of Rhetoric / Internationale Gesellschaft für die Geschichte der Rhetorik
- Reden-Archiv der Zeitung "Die Zeit"
- Liste der klassischen rhetorischen Figuren
- Grundzüge der klassischen Rhetorik
- Silva Rhetoricae: Wörterbuch klassischer rhetorischer Figuren (englisch)
- Was ist Rhetorik? Einführung in die Theorie und Geschichte der Rhetorik von Gert Ueding (dort auch Link: Rhetorik im Internet)
- Tipps für freies Reden und Handbuch der Rhetorik von Holger Münzer
- Umfangreiche Sammlung von Tipps für freies Reden von Marcus Knill
- Online-Checklisten zu Rhetorik-Themen
- Manfred Kienpointner, Rhetorik im 21. Jahrhundert. Probleme, Positionen und Perspektiven (RhetOn, 02/2005)
- RhetOn - Online Zeitschrift für Rhetorik & Wissenstransfer