Vertrag von Lausanne
Im Vertrag von Lausanne, der am 24. Juli 1923 im Schloss von Ouchy abgeschlossen wurde, konnte die Türkei, die Siegerin im türkisch-griechischen Krieg von 1922, die Bestimmungen des nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Vertrags von Sèvres nach ihren Vorstellungen revidieren lassen.

Die Türkei erhielt den Großteil Armeniens, Südostanatoliens, Ostthrakien (der europäische Teil der heutigen Türkei) sowie İzmir. Griechenland erhielt Westthrakien. Zudem stimmte die Türkei der durch Großbritannien am 5. November 1914 proklamierten Annexion Zyperns zu, das sie bis zu dieser Zustimmung formal besessen hatte.
Der Vertrag regelte in dem Abschnitt über den Schutz der Minderheiten (Art. 37-45) die Rechte der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei sowie der muslimischen Minderheiten in Griechenland und war somit ein auf Religionsangehörigen aber nicht auf Ethnien bezogener Vertrag.
Die am 30. Januar 1923 zwischen Griechenland und der Türkei vereinbarte separate Konvention zum Bevölkerungsaustausch war Teil dieses Vertrags (gem. Art. 142). Auf Grund dieser Konvention wurden die in Kleinasien ansässigen türkischen Staatsangehörigen griechisch-orthodoxen Glaubens (etwa 1,5 Mio) nach Griechenland ausgewiesen, die in dem nun Griechenland zugefallenen Teil Makedoniens beheimateten griechischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens (ca. 0,5 Mio) mussten in die Türkei auswandern. Von dem Bevölkerungsaustausch ausgenommen waren die alteingesessene griechische Bevölkerung und die griechisch-orthodoxen Roma Istanbuls, (ca. 150.000 Menschen), sowie die Einwohner der überwiegend von Griechen bewohnten, aber wegen ihrer strategischen Lage in Bezug auf die Kontrolle des Zugangs zum schwarzen Meer, der Türkei zugesprochenen Inseln Imbros (Gökçeada) und Tenedos (Bozcaada). Im Gegenzug fielen die Türken, Pomaken und die muslimischen Roma Westthrakiens (insgesamt ca. 110.000 Menschen) ebenfalls nicht unter die Konvention zum Bevölkerungsaustausch und sollten in Griechenland bleiben. Alle diese Türken, Pomaken und muslimischen Roma, die zum damaligen Zeitpunkt in der Region residierten, die östlich der 1913 im Vertrag von Bukarest festgelegten Grenzlinie liegt, erhielten mit dieser Konvention den Status der muslimischen Einwohner Westthrakiens. Der Haupttext des Vertrags von Lausanne verweist auf sie als muslimische Minderheiten Griechenlands, deren Minderheitenrechte in völliger Analogie zu den Minderheitenrechten der nicht-muslimischen Minderheiten der Türkei stehen. Griechenlands Ansprechpartner für diese drei muslimischen Ethnien Westthrakiens ist seitdem die Türkei.
Ziel der Maßnahme des Bevölkerungsaustausches war es, die durch nationale Minderheiten ausgelösten Spannungen zu vermindern. So sollte der Frieden auf Basis klarer definierter Nationalitätengrenzen gesichert werden. Allerdings brachte die durch einen zwischenstaatlichen Vertrag sanktionierte Vertreibung großes Leid über die betroffenen Menschen. Sie verloren ihre Heimat und ihren Besitz. Viele starben während der oft brutal durchgeführten Umsiedlungsmaßnahmen.
Der größte Teil der zur Umsiedlung vorgesehenen Bevölkerungsgruppen war schon vor 1923 gewaltsam vertrieben worden, wobei viele Angehörige der Minderheiten auch ermordet wurden. Der Vertrag legitmierte also in erster Linie schon geschehene Gewalttaten und sorgte dafür, dass die ethnischen Säuberungen auf beiden Seiten unter geordneten Bedingungen nach den Vorstellungen beider Regierungen zu Ende geführt werden konnten. Der britische Außenminister George N. Curzon bezeichnete den Vertrag von Lausanne als eine durch und durch schlechte und böse Lösung, für welche die Welt während der nächsten hundert Jahren noch eine schwere Buße werde entrichten müssen.[1]
Für viele Politiker des 20. Jahrhunderts, von Winston Churchill und Edvard Benesch bis hin zu Franjo Tudjman, galt der Nahostfriedensvertrag von Lausanne dennoch als Paradigma für die friedliche Lösung ethnischer Konflikte mittels Umsiedlung.
Die Praxis der Vertreibung von Minderheiten nach griechisch-türkischem Vorbild wurde durch das nationalsozialistische Deutschland im Gefolge des Münchener Abkommens wieder aufgenommen, als die Tschechen aus dem Sudetengebiet ausgesiedelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa in ähnlicher Weise durch das Potsdamer Abkommen bestimmt.
Literatur
- Karl Strupp (Hrsg.): Der Vertrag von Lausanne. Text mit Erläuterungen und ausführlicher Einleitung über die Entwicklung des Reparationsproblems. Roth, Giessen 1932
- ↑ Norman M. Naimark: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe. Havard 2001. ISBN 06-740-031-36, S.55