Razzia von Marseille

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Die Razzia von Marseille vom 22. bis 24. Januar 1943 war eine Erfassung von Menschen, die unter Verdacht standen, der Résistance anzugehören, illegal im Lande lebten oder Juden waren. Französische Polizeikräfte und deutsche SS-Ordnungspolizei sowie Wehrmachtstruppen nahmen 6.000 französische und ausländische Juden sowie Flüchtlinge und Nordafrikaner fest. 1.642 wurden in das KZ Royallieu bei Compiègne transportiert. Die 786 jüdischen Männer, Frauen und Kinder unter ihnen wurden mit zwei Transporten in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Nur fünf Menschen kehrten zurück.

Im Zuge dieser Razzia sprengten deutsche Pioniere das Altstadtquartier Saint-Jean; die 20.000 Bewohner evakuierte französische Polizei nach Fréjus. In einer zweiten Razzia wurden in Fréjus aus den Evakuierten heraus weitere 600 Personen festgenommen und von dort ebenfalls auf den Transport nach Compiègne gebracht. Mit Ausnahme der Juden kamen die meisten Personen wieder frei oder wurden dem Arbeitsdienst in Deutschland zugewiesen.[1].

Vorgeschichte

Marseille war nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 zu einem Zufluchtsort für aus politischen Gründen Verfolgte,  für Spanienkämpfer und für ausländische wie französische Juden geworden. Die Stadt lag im unbesetzten Teil Frankreichs und eröffnete als Fährhafen den Fluchtweg ohne Passzwang nach Französisch-Nordafrika, für Pass- oder Visuminhaber war die Ausreise nach Übersee möglich. Für die Juden erwiesen sich die beiden Judenstatute vom 3. Oktober 1940 und 2. Juni 1941 der Vichy-Regierung [2] als verhängnisvoll. Das Erstere definierte analog zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 die Zugehörigkeit zum Judentum und schloss die Juden von öffentlichen Ämtern aus. Es wurde durch das Zweite Statut ersetzt, das den Juden weitere Berufsgruppen versperrte und den Präfekten die Möglichkeit zusprach, Internierungen auszusprechen[3]. Damit war die Rechtsgrundlage für Internierungslager in Marseille geschaffen.

Es gab in Marseille 7 Internierungsstätten mit einer Kapazität von etwa 800 Menschen bei wechselnder Belegung. Viele von ihnen fielen den Razzien vom Sommer 1942 zum Opfer, wurden ins Internierungslager  Camp des Milles in Aix en Provence überführt, von dort ins Sammellager Drancy transportiert zur weiteren Deportation in die Vernichtungslager.

Wehrmacht und SS in Marseille

Am 11. November 1942 überschritten Wehrmachtstruppen die Demarkationslinie. Am Morgen des 12. Novembers rollten Panzer der 10. Panzerdivision über die Canebière. „Die Fluchtburg und Transitstadt Marseille war zur Falle geworden“[4]. Ende Dezember traf die 328. Infanteriedivision unter Führung von Generalmajor Joachim von Tresckow ein. Zugleich entstand in Marseille der Hauptverbindungsstab 894 unter Generalmajor Walter Mylo, der für militärisch-zivile Belange zuständig war. Diese auch in den anderen Generalpräfekturen Südfrankreichs eingerichteten Hauptverbindungsstäbe entsrachen der Aufgabenstellung nach den Feldkommandanturen im nördlichen Frankreich. Sie unterstanden nicht wie jene dem Militärbefehlshaber in Frankreich sondern dem neugeschaffenen „Kommandanten des Heeresgebietes Südfrankreich“ in [[Lyon], denn Südfrankreich "galt als Operationsgebiet, in dem eine deutsche Militärverwaltung nicht eingerichtet werden sollte"[5] .

Die SS war mit dem "Polizeiregiment Griese" (3. Bataillon des 4. SS-Polizeiregiments, benannt nach seinem Kommandeur, dem SS-Standartenführer und Oberst der Schutzpolizei Bernhard Griese, seit Anfang Dezember in Marseille vertreten. Zu den zunächst 570 Mann traten am 1. Februar 1943 weitere 2.000 Mann mit Panzern und schweren Waffen hinzu[6]. Das Regiment war eigens für den Einsatz in der südfranzösischen Hafenstadt gebildet worden. Keine andere französische Stadt war derart massiv von der SS besetzt. Griese und sein Verband unterstanden dem Höheren SS- und Polizeiführer in Frankreich, dem SS-Obergruppenführer und General der Polizei Carl Oberg mit Sitz in Paris.

Darüber hinaus hatte der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) in Frankreich, SS-Standartenführer Helmut Knochen die Kommandeursstelle der SiPo-SD, (KdS) Marseille eingerichtet: Ihr Leiter, SS-Obersturmbannführer Rolf Mühler, befehligte etwa 60 SS-Agenten; Dienstsitz war eine Villa in der repräsentativen Rue Paradis. In Aix-en-Provence, Avignon, Nimes und Alés befanden sich Außenstellen mit jeweils um 8 SS-Agenten. Die Abteilung IVe (SS-Hauptsturmführer Willi Bauer, Stellvertr. Amtsleiter) befasste sich mit der Unterdrückung der Résistance. Ihr aktivster und verbrecherischster Agent war der SS-Oberscharführer Ernst Dunker[7], der allein 70 französische Spitzel und Zuträger beschäftigte, darunter Mitglieder der korsischen Mafia[8].

Intervention Himmlers

 
Besprechung in Marseille, links der Kamera zugewandt: SS Standartenführer Walter Griese, nach rechts der Präfekt des Département Bouche du Rhone Antoine Lemoine, SS-Obersturmbannführer Rolf Mühle, Generalsekretär der französischen Polizeit René Bousquet, Marseille verwaltender Präfekt Pierre Barraud)
 
24. Januar 1943, Marseille, Gare d`Arenc. Von links: General Felber (Armeegruppe Felber), SS-Standartenführer Walter Griese, SS-Gruppenführer Carl Oberg (in Zivil)
 
Links inZivil, Carl Oberg im Gespräch mit Standartenführer Griese, dahinter General Felber
 
Straßenszene während der Razzia, im Vordergrund 4 Männer des Service d’ordre légionnaire (SOL), der späteren Milice française

Am 30. Dezember 1942 hatte der Reichsführer SS, Heinrich Himmler von Oberg "umgehend Bericht über Marseille" verlangt über "bisherige Maßnahmen, Erfassung und Verhaftung des Verbrechertums". Am 4. Januar 1943 präzisierte Himmler seine Forderung in Reaktion auf zwei Bombenattentate vor dem Hotel Splendide und einem Bordell in der Rue Lémaire, bei dem eine Deutsche und ein Franzose ums Leben kamen.: "Erwarte Ihr Fernschreiben über getroffene Maßnahmen Marseille. Verlange schärfstes und radikales Durchgreifen. Selbstverständlich sind Sie auch für das bisher unbesetzte Frankreich zuständig, jedoch muß die Form der französischen Regierung und ihre ausgesprochene Unabhängigkeit gewahrt bleiben"[9]. Am selben Tag verhängte General Mylo vom Hauptverbindungsstab den Ausnahmezustand über die Stadt. Da offenbar Unklarheit über die Zuständigkeit bestand, bat Divisionskommandeur von Tresckow den Chef der Armeegruppe Felber, später Armeegruppe G in Avignon, den General Hans-Gustav Felber, um Klärung. Dieser stellte klar, dass der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, ihn mit der Durchführung des Ausnahmezustandes beordert habe. Das SS-Polizeiregiment Griese sei nur mit der Durchführung polizeilicher Sondermaßnahmen betraut.

Himmler berief sich sogleich auf einen Führerbefehl, nach dem "Marseille SS-Standort wird, Standortkommandant der von mir (Himmler) persönlich vorgeschlagene Oberst Griese"[10]. Da Oberg dieser Intention offenbar nicht nachgekommen war, erhielt dieser am 6. Januar 1943 ein weiteres Fernschreiben Himmlers: "Die Angelegenheit Marseille ist eine rein polizeiliche Angelegenheit gegen einen dortigen Untermenschen- und Sabotageaufstand, und kein Angriff militärischer Kräfte von außen her. Sie haben mit Ihrer Stellungnahme den Führerbefehl von sich aus abzuändern versucht, und mit der Tatsache, daß Sie nicht selbst nach Marseille flogen, sondern sich im Zeitpunkt der größten dortigen Gefahr den Oberst Griese an Ihren Schreibtisch nach Paris bestellten, unverständlich gehandelt. Ich habe als neuen Befehlshaber der Ordnungspolizei den SS-Brigadeführer und Generalmajor Schimana bestellt. Dieser wird morgen zusammen mit SS-Oberstgruppenführer Daluege in Marseille eintreffen. Dort haben Sie sich ebenfalls einzufinden"[11].

Es folgte vom 6. bis 8. Januar 1943 eine Besprechung, vermutlich unter Leitung des Stellvertreters Heinrich Himmlers als Chef des Hauptamts der Ordnungspolizei, zugleich faktischer Reichsprotektor im Protektorat Böhmen und Mähren, SS-Oberstgruppenführer Kurt Daluege. Auf Seiten der SS waren zugegen der SS- Brigadeführer Schimana, Carl Oberg, dessen Stellvertreter, der SS-Sturmbannführer Herbert Hagen und der Marseiller KdS SS-Obersturmbannführer Mühler, wobei "konkrete Aktionen " beschlossen worden seien[12]. Am 13. und 14. Januar wurde das Vorgehen der "Konkreten Aktionen" zwischen Oberg und Bousquet besprochen, und am 16. Januar so auch von von Berlin bestätigt. Es handelte sich um eine Razzia zur Aufgreifung von Juden und Résistance-Leuten sowie um die Sprengung des nördlich an den Hafen angrenzenden Altstadtquartiers Saint-Jean.

Um keine Zweifel an seiner Absicht zu lassen, folgte am 18. Januar ein erneutes Fernschreiben Himmlers an den HSSPF Oberg: Ich wünsche für die Bereinigung der Verhältnisse in Marseille eine radikale und vollkommene Lösung. Wir haben heute nicht mehr die Menschen, für längere Dauer an solchen Brennpunkten eine große Anzahl von Angehörigen der Ordnungs- und Sicherheitspolizei zu versammeln. Sie wollen mir raschestens Ihren Plan für die Bereinigung von Marseille vorlegen. Bei diesem Plan wollen sie berücksichtigen, daß ich folgende Dinge verlange: 1. ) Verhaftung der großen Verbrechermassen von Marseille und deren Abfuhr in KL., am besten nach Deutschland. Ich stelle mir hier eine Zahl von rund 100000 vor. 2. ) Radikale Sprengung des Verbrecherviertels. Ich wünsche nicht, daß deutsche Menschenleben im Kampf in den unterirdischen Gängen und Höhlen aufs Spiel gesetzt werden. Diese Unterstadt von Marseille ist durch Fachleute zu sprengen, und zwar in der Form, daß allein schon durch den Explosionsdruck die darin Wohnenden zugrunde gehen. 3. ) Die französische Polizei und Garde mobile hat sich in größtem Umfang daran zu beteiligen. Der Saustall in Marseille ist ein Saustall Frankreichs. Lediglich die Tatsache, daß wir aus militärischen Gründen dort Ruhe haben müssen, veranlaßt mich, diesen Saustall auszuräumen. Die französische Polizei und Frankreich mögen sich darüber klar sein, daß sie uns dafür zu tiefstem Dank verpflichtet sind''[13]. Die Ungeheuerlichkeit dieses Befehls besteht darin, dass bei den vorgesehenen Sprengungen des Altstadtviertels Saint-Jean "allein schon durch den Explosionsdruck die darin Wohnenden zugrunde gehen" sollten.

Razzia vom 22.-24. Januar 1943

 
24. Januar 1943, Gare d`Arenc: Generalmajor Joachim von Tresckow (Bildmitte) erteilt Befehle an zwei Offiziere; rechts General der Infanterie und Chef der Armeegruppe Felber (später G) beobachtet den Vorgang
 
Jüdische Bewohner von Marseille erreichen mit Bussen den Gare maritime d` Arenc am Neuen Hafen und werden von SS-Polizei und Wehrmacht gezwungen, in Güterwaggons einzusteigen
 
Gries, Felber, Oberg
 
Oberg, Griese, Bild Pétain

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<gallery>Bilder vom Gare d`Arenc Bundesarchiv Bild 101I-027-1476-18A, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-21, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1476-21A, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg] Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-20, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-24, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-17, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-10, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-07, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg Bundesarchiv Bild 101I-027-1477-08, Marseille, Gare d'Arenc. Deportation von Juden.jpg <gallery>

Einzelnachweise

  1. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 127 u. Anm. 1-2, abgerufen am 24. Januar 2024.
  2. Eberhard Jäckel: Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. In: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Band 14. Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart 1966, S. 216.
  3. Loi du 14 juin 1941. (PDF; 7,4 MB) In: Légifrance. République Francaise, Gouvernement fr, abgerufen am 24. Januar 2024 (französisch).
  4. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 129 u. Anm. 7, abgerufen am 24. Januar 2024.
  5. Eberhard Jäckel: Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. In: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Band 14. Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart 1966, S. 257.
  6. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 132 u. Anm. 24, abgerufen am 24. Januar 2024.
  7. Dunker, Ernst (1912 Halle/Saale – 1950 Marseille). In: Gedenkorte Europa 1939-1945. Studienkreis Deutscher Widerstand, abgerufen am 10. Januar 2024.
  8. Gestapo Headquarters & Ernst Dunker die dunkle Legende von SIPO-SD. In: Tourisme Marseille. Abgerufen am 10. Januar 2024 (französisch).
  9. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 132 u. Anm. 27, abgerufen am 24. Januar 2024.
  10. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 135, abgerufen am 24. Januar 2024.
  11. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, S. 136 u. Anm. 38, abgerufen am 24. Januar 2024.
  12. Ahlrich Meyer: Die Razzien in Marseille und die Propagandaphotographie der deutschen Wehrmacht. (PDF;13 MB) In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Deutsches Historisches Institut, Paris, 1995, abgerufen am 24. Januar 2024.
  13. Eberhard Jäckel: Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. In: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte. Band 14. Deutsche Verlagsanstalt GmbH, Stuttgart 1966, S. 272.