Albert Schweitzer (* 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Oberelsass bei Colmar, Deutsches Reich; † 4. September 1965 in Lambaréné, Gabun) war elsässischer Evangelischer Theologe und Pfarrer, Orgelkünstler, Musikforscher (Musiker), Philosoph und Arzt. In der Evangelischen Kirche ist sein Gedenktag am 4. September.

Schweitzer stammte aus einer alemannisch-elsässischen Familie. Er gründete das Krankenhaus in Lambaréné im Gabun und war 1952 Friedensnobelpreisträger. Er spielte sich selber in einem Film von Gilbert Cesbron über sein Leben. Unter seinen theologischen Werken kann man Die Mystik des Apostels Paulus (1962); Das Christentum und die Weltreligionen, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906) nennen. Seine philosophischen Werke: Die Weltanschauung der indischen Denker (1936); Kultur und Ethik, Verfall und Wiederaufbau der Kultur, Das Problem des Friedens in der Heutige, Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Seine autobiographischen Werke: Zwischen Wasser und Urwald, Aus meinem Leben und Denken, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, die Linde von Gunsbach. Musikologische Werke: Johann Sebastian Bach (Biographie), Die Orgelwerke Johann Sebastian Bachs. Er war auch Organist und Mitherausgeber einer Ausgabe von Bachs Orgelwerken.
Leben und Werk
Frühe Jahre und Ausbildung
Albert Schweitzer war durch Geburt in dem seit 1871 zum Deutschen Reich gehörenden sog. Reichsland Elsass-Lothringen zunächst deutscher Staatsbürger. In seinem Elternhaus wurde jedoch Französisch gesprochen. Schweitzer beherrschte aber das Deutsche vollkommen, das auch die Sprache seiner Schulausbildung und seines Studiums war. Albert Schweitzer studierte an der Reichsuniversität Straßburg die Fächer Theologie und Philosophie; daneben studierte er in Paris bei Charles-Marie Widor Orgel und war Mitglied der Wilhelmitana-Studentenverbindung im Schwarzburgbund.
Nach dem Studium in Straßburg und Paris promovierte er 1899 in Berlin im Fach Philosophie mit einer Dissertation über „die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. 1901 folgte die theologische Dissertation „Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen“ (Erstauflage 1906) - die in der zweiten Fassung den weitaus bekannteren Titel „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ (Tübingen 1913) trägt.
1902 erfolgte an der Universität Straßburg die Habilitation in Evangelischer Theologie mit der Schrift „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis“. Mit der Habilitation wurde er Dozent für Theologie an der Universität Straßburg und Vikar an der Kirche St. Nikolai. Seine Theologie fand unter anderem bei Fritz Buri Nachhall. Schweitzer schrieb 1905 die französische Ausgabe von Johann Sébastien Bach, auf die drei Jahre später 1908 seine neu verfasste deutsche Bach-Monographie folgte.
Leben als Mediziner in Afrika und Europa
Ab 1905 studierte Albert Schweitzer, Medizin mit dem Ziel, in Gabun als Missionsarzt dem Ruf Jesu Christi nachzufolgen und Menschen helfen zu können. 1912 wurde er zum Arzt approbiert, im gleichen Jahr wurde ihm der Titel eines Professors verliehen auf Grund seiner "anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistungen". 1913 folgte seine medizinische Doktorarbeit „Die psychiatrische Beurteilung Jesu: Darstellung und Kritik“. In dieser Arbeit widerlegt er, analog seiner theologischen Dissertation, zeitgenössische Versuche, das Leben Jesu aus psychiatrischer Sicht beleuchten zu können. Somit war er, im Alter von 30 Jahren und bevor er nach Afrika ging, in drei verschiedenen Gebieten promoviert, hatte sich habilitiert und war Professor.
1913 gründete er in Französisch-Äquatorialafrika (heute Gabun), an einem Fluss der afrikanischen Westküste, das Urwaldspital Lambaréné. Als Deutsche wurden er und seine Frau Helene Schweitzer-Bresslau ab 1914 zeitweise von den Franzosen interniert. Diese Zeit nutzte er zur Entwicklung und zum Ausbau seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Zentral für diese Ethik ist der Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
1917 wurde das Ehepaar Schweitzer von Afrika nach Frankreich überführt und in Bordeaux, Garaison und St. Rémy de Provence interniert. 1918 kamen sie ins Elsass zurück, das inzwischen von Frankreich annektiert worden war. Dort nahm Albert Schweitzer wieder die Stelle als Vikar in St. Nicolai an und trat als Assistenzarzt in ein Straßburger Spital ein.
Dank des schwedischen Bischofs Nathan Söderblom konnte Albert Schweitzer ab 1920 in Schweden Vorträge über seine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ halten, mittels Orgelkonzerten seine Schulden bezahlen und Geld für die Rückkehr 1924 nach Afrika verdienen, um dort das Urwaldhospital auszubauen.
Bekannt wurde Albert Schweitzer vor allem durch sein Buch „Zwischen Wasser und Urwald“, das er in kurzer Zeit 1921 geschrieben hatte. In seiner Rede zum 100. Todestag Johann Wolfgang von Goethes 1932 in Frankfurt am Main warnte Schweitzer vor dem aufkommenden Nationalsozialismus.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde ihm viel öffentliche Ehre zuteil. In seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1952 warnte Schweitzer davor, alle Verbrechen der Weltgeschichte allein „den Deutschen“ und dem Nationalsozialismus anzulasten und deren Verbrechen als „einzigartig“ hinzustellen, vielmehr sei jede Art von Gewalt zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleichermaßen zu verurteilen.
Albert Schweitzer war 44 Jahre alt, als seine elsässische Heimat 1918 als Folge des ersten Weltkrieges vom Deutschen Reich getrennt und von Frankreich annektiert wurde. Damit erhielt er die französische Staatsangehörigkeit. Er selbst bezeichnete sich jedoch gern als Elsässer und „Weltbürger“; das Deutsche und das Französische beherrschte er gleichermassen gut. Mit Frankreich verband ihn u.a. Jean-Paul Sartre, der Sohn von Schweitzers Cousine Anne-Marie. Die kritische Auseinandersetzung mit der gerade in Frankreich populär gewordenen Existenzphilosophie beschäftigte ihn noch in seinen letzten Lebensjahren. Schweitzers Großneffe Louis Schweitzer war von 1992 - 2005 Vorstandsvorsitzender des französischen Automobilkonzerns Renault. Günsbach ist Sitz der Internationalen Albert Schweitzer Vereinigung.
Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben
Albert Schweitzers Alterswerk aus dem Jahre 1962 ist die Quintessenz seines philosophischen Denkens. Bei der Darstellung des (Das) Problem(s) der Ethik in der Höherentwicklung des menschlichen Denkens geht er davon aus, dass sich Menschen beim Nachdenken über ihre Grenzen und sich selbst wechselseitig als Brüder erkennen und im Zuge der Entwicklung der Zivilisation die Ethik, die ursprünglich auf den eigenen Stamm bezogen war, nach und nach auf alle Menschen übertragen. In den Weltreligionen und Philosophien sind diese Stadien konserviert.
In den Religionen des brahmanistischen Kulturkreises gilt die Verneinung der materiellen und trügerischen Welt, in der man im ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt gefangen ist. Entsprechend ist die Ethik sehr stark an das metaphysische wahre Sein gebunden. Im Brahmanismus wird Teilnahmslosigkeit gefordert, da Mitleid und Ethik nur ein Teil der trügerischen Welt sind, im Buddhismus wird zwar Mitleid gefordert, aber auf das metaphysische Sein (Metaphysik)und nicht auf die trügerische Welt bezogen, im Hinduismus stehen Teilnahme und Teilnahmslosigkeit in dem harmonischen Gleichgewicht eines Spieles der Götter, dass diese zu ihrem Zeitvertreib betreiben, und in dem Menschen als Teilnehmer mitspielen (Bhagavad Gita). Dem Entwicklungspfad vom Brahmanismus über den Buddhismus und Hinduismus entspricht die Stärke des Leids und des Mitleids, das zur trügerischen Welt gehört. Je hinduistischer, desto weniger fristen Leid und Mitleid ein Scheindasein. Man ist in der Welt der Weltverneinnung zivil und zeigt im unterschiedlichem Maße Courage, ist aber durch die Teilnahmslosigkeit zum Pazifismus und grundsätzlichen Friedfertigkeit bestimmt.
Im Zoroastrismus und in den Religionen und Philosophien des griechisch-römischen Kulturkreises gilt die Weltbejahung: Im Zoroastrismus wird der Kampf der gläubigen Siedler gegen die ungläubigen Nomaden und Zivilcourage in der wirklichen Welt gefordert, man wird nicht wiedergeboren, sondern kommt nach dem Tode zur Belohnung in den Himmel oder zur Strafe in die Hölle. Die Griechen sind noch stärker zur Weltbejahung verdammt, denn nach dem Tod muss jeder Sterbliche in den unwirtlichen Hades. Der Stoiker Panätios geht von der allumfassenden Vernunft in der Welt aus und entwickelt eine humanistische Philosophie, in deren Tradition Seneca, Epiktet und Marc Aurel aus dem Römischen Imperium die Menschenliebe als die Tugend aller Tugenden sehen, wobei die Zivilcourage nur die zehn Prozent der Tonangebenden umfasst.
Im Judentum und im Christentum ist die materielle Welt wahr, aber unvollkommen. Die Forderung der Urchristen nach guten Taten für alle Menschen im Zeichen der Weltbejahung angesichts eines befürchteten Weltuntergangs (das Reich Gottes ist nahe) weicht während der Romanisierung der Forderung nach Weltentsagung und Selbstvervollkommnung, weil die Gedanken auf das Jenseits nach dem Tod gerichtet werden. Deshalb sucht man zur Begründung von Geboten und Pflichten nach dem Gebot aller Gebote und gelangt ebenfalls zum Ideal des Humanismus durch eine tiefergehende Erforschung des grundlegenden Wesens des Guten.
Griechisch-römische und christliche Weltsicht bleiben sich im Grunde wesensfremd bis zur Renaissance, in der man das Gebot der Menschenliebe erkennt, das im Spät-Stoizismus und im Epikureismus enthalten ist, und das von der Vernunft zum Aufbau einer tugendhaften Zivilisation in einer Welt der Weltbejahung verkündet wurde. Die Ethik wird jetzt nicht nur von der Religion offenbart, sondern vom Denken als Wahrheit bestätigt. Erasmus von Rotterdam fordert im 16. Jahrhundert ein ethisch begründetes Recht, der Utilitarist Jeremy Bentham betrachtet über 200 Jahre später die Ethik unter ihrem Nützlichkeitsaspekt, denn dem Wohl der Gesellschaft und dem Wohl des einzelnen ist mit der Nächstenliebe am besten gedient. Liebe ist also eigentlich egoistisch. David Hume beruft sich dagegen auf die Erfahrung, dass die natürlichen Triebkräfte der Ethik die Mitempfindsamkeit ausmachen, weshalb man die Freuden und Leiden der anderen wie die Freuden und Leiden von sich selbst erlebt und Sympathie empfindet. Immanuel Kant koppelt diese String-Theorie der Gutmütigkeit mit dem Utilitarismus, indem er ihn – a priori – in die innere Natur des Menschen verlegt. Der Mensch lebt in der materiellen Welt und ist Subjekt in der geistigen, in der der kategorische Imperativ Entscheidungszwänge erzeugt, wie weit man in der Welt überhaupt das Moralgesetz in sich verwirklichen will. Man kann unmöglich in jeder Situation ihrem Anspruch gerecht werden, bekommt ein schlechtes Gewissen, das gute Gewissen wird zum Mythos.
In der Moderne besteht hundert Jahre nach Kant keine verbindliche Weltsicht mehr, denn diese wird durch die Suche nach einer immer genaueren Erkenntnis der Naturgesetze und ihrer Anwendung aufgelöst. Die Fortschritte des Wissens überfordern und entmutigen den einzelnen, den Sinn des Geschehens in einer Welt zu begreifen, in der sich eine Existenz durch die Vernichtung von anderen Existenzen erhält. Die existentielle Hoffnungslosigkeit erzeugt eine resignierte Vernunft der Gedankenlosigkeit inmitten einer trügerischen Welt, in der sich jeder eine sentimentale Scheinweltsicht phantasiert, an der er ängstlich festhält.
Was tun, um der existentiellen Hoffnungslosigkeit zu entkommen? Da man eh phantasiert, kann man auch phantasieren, dass in der Welt, egal, wie sie ist, ein Geist existiert, der im Verlaufe des Unvollkommenen schließlich das Vollkommenere schaffen wird. Die Welterkenntnis ist zwar unvollkommen und einseitig, gibt aber der Ethik eine Chance, mit der man in der Welt seine Erfahrungen macht, und die sich so ihren eigenen Boden schafft. „Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will,“ und aus dieser offenbarenden Erkenntnis macht Albert Schweitzer die Erfahrung, dass es das Geheimnis seines Willens zum Leben ist, dass ihn quasi zwingt, bei allem anderen Willen zum Leben als Teilnehmer mitzuwirken und sich von der Erkenntnis leiten zu lassen, dass das Wesen des Guten lebenserhaltend ist, das Wesen des Bösen lebensvernichtend.
Dieses Prinzip der Ehrfurcht vor allem Leben trägt die Begründung des Gebotes der Liebe in sich selbst und umfasst so auch die Ehrfurcht vor dem eigenen Leben. Zur Ganzheitlichkeit vervollständigt überwindet sie die Trennung zwischen der eigenen Weltsicht und der realen Welt, verzaubert (Max Weber) sie in Liebe und Verantwortung vor allem Leben und unterfüttert den kategorischen Imperativ mit der Ehrfurcht vor dem Leben.
Man gelangt in ein geistiges Verhältnis zu einem Universum, in dem der Wille zum Leben in Konflikt mit sich selbst steht, doch im Inneren in Frieden mit sich selbst sein will. In der Welt tut sich der Wille zum Leben kund, im Inneren offenbart er sich. Die Ehrfurcht vor dem Leben zwingt dazu, überall dort anders zu sein als die Welt, wo das Böse Leben bedroht, und überall dort liebevoll beteiligt zu sein, wo das Gute Leben erhalten will. Diesem Anspruch wird man nicht immer gerecht, doch dem Schicksal der Schuld kann man mit einem bewussten Umgang mit diesem Schicksal entgegentreten, ohne sich dadurch von Schuld befreien zu können.
Wie kann man an der Entstehung einer ethischen Kultur teilnehmen? Mit dem Fortschritt seiner Geistigkeit bezieht sich der Mensch auf die Fortschritte im Wissen und Können und in der Vergesellschaftung. Dabei erkennt er das metaphysische Sein in sich selbst und das Unwirkliche der Welt wie im brahmanistischen Formenkreis. Eine ethische Lebensbejahung führt ihn zu einer vertieften Welt- und Lebensbejahung und richtet gleichzeitig sein Denken auf die Ethik wie in der griechischen Philosophie. Damit erhebt sich aus seiner unmittelbaren Wirklichkeit, erlebt die Ethik als Wahrheit und Zweckmäßigkeit und begibt sich auf den Weg von der Unkultur zur Kultur. Dabei überwindet die Ehrfurcht vor dem Leben die relative Ethik und widmet sich der Verwirklichung des Ideals einer umfassenden ethischen Kultur, sie entwickelt sich von der Teilnahmslosigkeit bis zur Erfurcht vor dem Leben, erweitert dabei ständig den Kreis der Liebe und wird zur denknotwendig erkannten Ethik im Geiste Jesu. Der Mensch gibt seinem Dasein einen Wert, tritt mit seinem Willen in der Welt auf, und je mehr Menschen die Ziele des Humanismus verwirklichen, desto mehr verwandelt sich die Humanitätsduselei zum Sauerteig einer ethischen Überzeugung der einzelnen und der Gesellschaft.
Durch die gesellschaftliche Zurückhaltung ist das Verhältnis von Mensch zu Mensch zunächst von Fremdheit geprägt. „Viel Kälte ist zwischen den Menschen, weil wir nicht wagen, uns so herzlich zu geben, wie wir sind“, so Schweitzer, und die Herzlichkeit, die in der Ehrfurcht vor dem Leben wurzelt, verhilft zu einer Güte, in der man sich selbst mutig beurteilen und richten kann. Bescheiden und nicht rechthaberisch wird man immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen und sucht den letzten Grund des Verlaufes aller Erlebnisse in sich selbst. Im Gegensatz zur gereiften Persönlichkeit mit seiner resignierten Vernünftigkeit verfügt die jugendliche Persönlichkeit über die Energie und den Mut, die Ethik von der Ehrfurcht vor dem Leben anzunehmen und in einer neuen Renaissance durchsetzen zu wollen.
Das ethische Verhältnis von Mensch zu Kreatur fordert ein noch höheres Maß an Verantwortung, denn das Aufstellen von Wertigkeitsunterschieden bedeutet eine Beurteilung von Leben nach seinem eigenen subjektiven Maßstab. Die Kreatur ist wehrlos dem Willen des Menschen ausgesetzt. Ethik und Notwendigkeit machen den Unterschied zwischen einem selbst und der Welt aus und erzwingen immer wieder Entscheidungen. Die Ehrfurcht vor dem Leben weiß um die Willkürlichkeit ihrer Entscheidung und schädigt deshalb Leben nicht aus Gedanken- oder Teilnahmslosigkeit. Daraus ergeben sich Abwägungen zwischen der Ehrfurcht und der Notwendigkeit von Tierversuchen, Transporten, Schlachtungen u.a. Weil Descartes den Tieren keine Seele und nur scheinbare Schmerzen zugestanden hat, wird das Mitleid mit Tieren als Sentimentalität belächelt. Die Ehrfurcht vor dem Leben betont dagegen, dass alles notwendige Töten ein Grund zu tiefer Trauer ist. Man nimmt die Schuld aus Notwendigkeit auf sich und kann ihr nicht entkommen. Man kann sie lediglich verringern.
Aus dem bilateralen Abschreckungsszenario der fünfziger Jahre heraus fragt Schweitzer nach Friede oder Atomkrieg, denn Kriegsbefürworter idealisieren die Gewalt und vergessen die Millionen Kriegstoten. Früher konnte der Pazifismus noch als Utopie belächelt werden, seit dem 20. Jahrhundert sollte er als Notwendigkeit erkannt werden. Die Patt-Situation der Abschreckung enthält eine Dynamik des Schreckens, die immer außer Kontrolle zu geraten droht. Die Anwendung von Massenvernichtungswaffen in beiden Weltkriegen führte zu einer Steigerung von Unmenschlichkeit, Verrohung und Unmenschlichket. Die Gesinnung dieser Unmenschlichkeit fordert deshalb aus Angst zur Vermeidung dieser Angst eine immer stärkere Aufrüstung: Krieg oder Frieden gelten als ein politisch-militärisches Problem der Verantwortlichen, deren Entscheidungsfreiheit erst die Voraussetzung für die Abschreckung schafft, die wiederum die Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit ist, den Frieden zu erhalten. Die Gesinnung der Unmenschlichkeit schafft sich die Angst vor dem Ausgeliefertsein selber und verstärkt die Kriegsgefahr, die sie eigentlich verhindern will, und die Erkenntnis, dass der Unterlegende dem Sieger so viel Schaden zufügen kann, dass dieser nichts mehr von seinem Sieg hat, bleibt im blinden Fleck.
Los von der Gesinnung der Unmenschlichkeit! Los von den Atomwaffen! Trotz aller Ängste vor anderen militärischen Mächten muss die Ehrfurcht vor dem Leben aus elementarer Angst vor dem Geist der Unmenschlichkeit eine einseitige Abrüstung fordern. Die resignierte Vernunft ist von der Angst vor dem Gegner zu befangen, obwohl die Menschlichkeit doch das eigentliche Wesen der Menschheit ist, und erkennt nicht, dass Vernichtungskriege in keinem Verhältnis zu den Problemen stehen, die mit ihnen gelöst werden sollen. Nur mit dem Mut der Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben kann der Massenvernichtung begegnet werden, ohne diesen Mut hat die Menschheit keine Chance. Sie muss die Hoffnung und das Pflichtgefühl entwickeln, dass die Öffentlichkeit die Verantwortung über Krieg und Frieden übernehmen kann und muss und muss die Idee einer weltbejahenden Kultur entwerfen, die Kriege gegen Mensch und Kreatur unmöglich macht.
Kritisch kann bemerkt werden, dass das Schema des christlich und rationalistisch begründeten Entwicklungspfades von der Weltverneinung über die Weltentsagung bis zur Weltbejahung in der europäischen (Eurozentrismus) philosohischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts enthalten ist. Den Islam als bedeutende und jüngste monotheistische Religionsausprägung erwähnt er mit keinem Wort und ordnet ihn folgerichtig auch nicht in sein Schema der Evolution der religiös motivierten Ethik ein. Außerdem wertet er die Religionen mit brahmanistischen Hintergrund als niedrigkomplexe Religionen der Weltverneinung und unterbewertet die Verhältnisse, in denen die Religion nur ein Einfluss von vielen war, der überdies im modernen globalen Medienzeitalter stark zurückgegangen sein dürfte und weiter zurückgehen wird.
Allerdings betont er in den Religionen der Weltverneinung und Teilnahmslosigkeit die große Chance zum Pazifismus und zur grundsätzlichen Friedfertigkeit. Gandhis Propagierung des gewaltlosen Widerstandes war u.a. genau so in der Tradition des Brahmanismus begründet wie der Versuch von Hindus, Moslems, Parsen und Christen, ein Zusammenleben aller Menschen des indischen Kulturkreises aus weltbejahender Sicht unter Vermeidung der Fehler der westlichen Moderne zu entwickeln. Die verzweifelten Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche aus Protest gegen den Vietnamkrieg, der mit der zutiefst weltverneinenden abendländischen Domino-Theorie begründet wurde, ist ein weiteres Beispiel für den absoluten Willen, überall dort anders zu sein als die bedrohliche Welt, wo das Böse Leben bedroht.
Dies beinhaltet eine noch tiefergehende Abwägung des Entscheidungszwanges in Bezug auf kreatürliches und menschliches Leben, um auf Hunger, Krankheit oder Tod in Armuts- oder Kriegsgebieten eben nicht mit Teilnahmslosigkeit und unterlassener Hilfe zu reagieren. Auch bei Genoziden könnte ein Massenmord damit gerechtfertigt werden, dass dieser in tiefster Trauer geschieht, weil er für notwendig erachtet wird, man denke da an eine berüchtigte Rede von Himmler oder an Selbstmordattentate. Doch das ist nicht tiefste Trauer, sondern zuerst Entsetzen vor der eigenen Tat, und später verrohte Teilnahmslosigkeit oder sogar Lust am Töten als Lernprozess (Goldhagen), der den eigenen Tod mit umfasst (Thanatos).
Diese Interpretation steht im absoluten Gegensatz zu Schweitzers Ethik. Schweitzer meinte im Gegenteil, dass im Zuge einer neuen Renaissance junge Menschen mit Mut und nicht mit resignierter Vernunft gegen den Wahnsinn der modernen Kriege angehen und dabei ihr eigenes Leid als Dissidenten und Verfolgte mit brahmanistischer Teilnahmslosigkeit auf sich nehmen und mit stoischer Unbeugsamkeit verbinden, damit eine Welt entsteht, in der Aggression ebenso verpönt ist wie in den Religionen des brahmanistischen Kulturkreises und wie die Inhumanität im Spätstoizismus und Epikureismus.
Im Zusammenhang mit der Pflicht- und der Vernunftethik Immanuel Kants entwickelt Schweitzer den Gedanken, dass das gute Gewissen ein Mythos sei. Am Ende des Kapitels „Mensch zu Kreatur“ zieht er die Schlussfolgerung, dass man der Schuld nicht entkommen, sie nur verringern kann. Daraus folgt, dass man dem schlechten Gewissen auch nicht entkommen soll, damit man selbstbewusst bleibt und nicht selbstgerecht wird. Das schlechte Gewissen bekommt so den Status des Gebotes aller Gebote oder der Tugend aller Tugenden.
Schweitzer trifft an dieser Stelle die Russellsche Antinomie, denn wie anders ist der Widerspruch zu klären, dass ein gutes Gewissen sein schlechtes Gewissen beinhalten kann? Auch eine Nähe zu der Quintessenz Ludwig Wittgensteins in seinem Frühwerk „Logisch philosophische Abhandlung“ erkennt man hier: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen, und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Das Paradox ist so nicht widerlegt, aber es ist als Ganzes über den Rand dessen gerückt, worüber man noch sprechen kann. Gutes und schlechtes Gewissen finden zusammen in der Gewissheit eines Gewissens, das sich von der Ehrfurcht vor dem Leben leiten lässt als bewusste oder unbewusste, aber denknotwendig erkannte Ethik im Geiste Jesu, die den Mut zur Herzlichkeit eröffnet.
Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant, der mit dem Utilitarismus Jeremy Benthams inhaltlich gefüllt war, wird von John Stuart Mills Begriff der geistigen Erfüllung (happiness) unterlegt, der in Bertrand Russells Antinomie wurzelt, die in der Quintessenz des Werkes von Ludwig Wittgenstein gedeiht. Dies lässt den Schluss zu, das auch Agnostiker und Atheisten der Ehrfurcht vor dem Leben verpflichtet sein können und um des eigenen Lebens Willen und des Willens aller anderer zum Leben auch müssen.
Hier wäre ein Bogen zum Stoizismus, zum Epikureismus, zum Christentum und zum Existenzialismus gespannt: Bei Albert Schweitzer und bei Jean Paul Satre bleibt der Sinn der Welt verborgen, da die (göttliche) Schöpfung und die (göttliche) Zerstörung ununterscheidbar identisch sind. Satre stellt alle Entscheidungen in die freie Verantwortung des vereinzelten Gewissens, während Schweitzer mit der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben im voraus die Entscheidungsmöglichkeiten filtert, die dem Gewissen dann noch zur Verfügung stehen (Spiegel-Artikel vom 21.12.1960). Was bei Satre die Zwischen-Ichheit ist, die heute auch als Intersubjektivität bezeichnet wird (womit unterstellt wird, dass Menschen Subjekte sind), ist bei Schweitzer schlicht und einfach die Zwischenmenschlichkeit. Das bedeutet aus existentialistischer Sicht, dass man selber entscheidet, was man mit dem macht, was aus einem gemacht wird, aus der Sicht Schweitzers, dass man selber entscheidet, was man aus dem macht, was mit einem gemacht wurde und wird. Hier zeichnet sich ein Unterschied zwischen existentialistischer Ichbezogenheit ab, die nach Ideen sucht,und humanistischer Weltbezogenheit, die Zwischenmenschlichkeit schafft, die wie ein Sauerteig wirkt. Dies mag eine Überinterpretation sein, ist aber ein Ansatzpunkt zur Diskussion über das Werk von Albert Schweitzer.
Eine ehrenrührige „Totschlag-Kritik“ bezieht sich auf die mangelnde praktische Umsetzung der sehr anspruchsvollen Philosophie durch den damals beinahe neunzig Jahre alten Mann. Diese Kritik wird von Siegwart Horst Günther als oberflächlich und gehässig bezeichnet (Was heißt Ehrfurcht vor dem Leben, S.25, siehe Literaturliste). Auch die allgemein menschenunmögliche Umsetzbarkeit dieser Philosophie im realen Leben wird bemängelt. Dies Argument entkräftet Schweitzer mit seinem Hinweis auf das schlechte Gewissen, die Einsicht, das der Versuch der Umsetzung dem Ideal nie entsricht, mit seinen Passagen über die resignierte Vernünftigkeit der gereiften Persönlichkeit bspw. am Ende der Kapitel "Mensch zu Mensch", "Los von der Gesinnung der Unmenschlichkeit! Los von den Atomwaffen!" und mit seiner Fähigkeit zur Selbstironie im praktischen Leben.
Die menschliche Entwicklung ist in ein Stadium gekommen, in dem die Umsetzung seiner Lehre nicht eine Frage der "menschlichen Natur" oder der "Wahlfreiheit" ist, sondern eine Frage des Muts zum Pazifismus noch weitgehend ungebrochener junger Leute ohne resignierte Vernunft und eine Frage des Überlebens oder der Ausrottung der Menschheit ist - so kann man Schweitzers Vermächtnis abschließend deuten.
Theologisches Werk
Albert Schweitzer sieht in allen Entwürfen des historischen Jesus den Wunsch der betreffenden Historiker walten, ihre Ideale in der Biographie von Jesus verwirklicht zu sehen. In der Leben Jesu Forschung finden bspw. Anhänger der Aufklärung die Goldene Regel als „Nein-Form“ des Kategorischen Imperativs, Tierfreunde die Ethik eines Franz von Assisi, Deutsch-Nationale die Ideale ihrer Burschenschaft usw. (Leben Jesu Forschung). Der Wunsch ist der Vater des Gedankens.
In dieser Überzeugung sieht sich Schweitzer von Johannes Weiß bestätigt. Mit dem Barnabas-Brief, dessen Urfassung um ca. 70, dessen Reinform jedoch stark verändert erst um ca. 100 entstand und dort eine Polemik gegen die Judenchristen enthält, belegt Johannes Weiß seine Meinung, dass viele Zeugnisse der frühen Christen überarbeitet und durch Einfügungen angeblich authentischer Textstellen sinnentstellt wurden. Ein weiteres Beispiel ist für Weiß das Markus-Evangelium, das älteste Evangelium (ca. 70), in dem Gemeindeüberlieferungen gesammelt wurden, die im Zuge der Kirchwerdung verallgemeinert und schließlich auf das ganze Neue Testament übertragen wurden. Schon ca. 10 Jahre später liegt nämlich im Matthäus-Evangelium schon eine griechisch gestaltete Fassung eines ursprünglich aramäischen Gebetes Jesu vor. Schon Paulus beeinflusste zur Mitte des ersten Jahrhunderts das junge Christentum mit kynisch-stoischen Gedanken (Kynismus, Stoizismus) der griechischen Philosophie (Biografisch-Bibliografisches Lexikon, Johannes Weiß). Da nämlich die Parusie ausblieb, musste die Überlieferung von Jesus im Zuge der Entstehung der Kirche mit dem Attribut des Messias theologisch ausgeschmückt werden, der am letzten Tage zurückkehren und das Jüngste Gericht abhalten würde. Dieser Umwandlungsprozess der Überlieferung Jesus ist zu Beginn des zweiten Jahrhunderts mit dem Johannes-Evangelium vorerst abgeschlossen. Aus einer Jerusalemer Endzeitsekte wurde eine Massenbewegung mit einem revidierten Jesusverständnis und einer Judaismus-Abgrenzung.
Schweitzer zieht die Schlussfolgerung, dass die Persönlichkeit von Jesus mit seiner biografischen Entwicklung allen Interpretationsversuchen von Theologen wie William Wrede zum Trotz nicht rekonstruierbar ist. Als relativ gesichert gilt Schweitzer die Vorstellung der drohenden Apokalypse zur damaligen Zeit, die den gemeinsamen Rahmen der Verkündigung Jesu, der Jerusalemer Urgemeinde und des Werkes von Paulus bildet und mit ihrer Erwartung einer überzeitlichen Endkatastrophe jeder Vorstellung eines Fortschrittes widerspricht, der der Welt innewohnt. Weder sah sich Jesus noch sahen seine Jünger ihn als Messias. Die Urchristen der Folgegeneration verstanden die Predigt vom Gekreuzigten und Auferstandenen vielmehr als Paradox und nicht als Analogie zum Entstehen eines Gottesreiches wie die späteren Christen, die in der Kirche zusammengefasst waren. Jesus war jedoch vom Ende der Welt überzeugt und forderte deshalb radikal die Nächstenliebe.
Dieser vom drohenden Weltuntergang überzeugte Jesus mit seiner radikalen Forderung der Nächstenliebe ist für Schweitzer der Ausgangspunkt für seinen Willen, der Eschatologie entsprechend wie Sauerteig in einer Welt zu wirken, in der der Prozess der Liebe und der Gottesherrschaft schon begonnen (präsente Eschatologie), sich aber noch nicht durchgesetzt hat (futurische Eschatologie). Indem er sich diesen Jesus der Nichtabgrenzung für sein Wirken zum Vorbild nimmt, ist für ihn die Ehrfurcht vor dem Leben sein selbstgeschaffenes oberstes Gebot und der Ausgangspunkt für sein praktisches Engagement.
Musik
Albert Schweitzer war ein bekannter Organist, Musikwissenschaftler, Theoretiker des Orgelbaus und einer der für das 20. Jahrhundert stilbildenden Interpreten der Musik Johann Sebastian Bachs.
Instrumentenbau und Orgelreform
Als einer der Hauptvertreter der sogenannten Elsässisch-Neudeutschen Orgelreform propagierte Schweitzer seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die damals in Deutschland üblicherweise gebauten Instrumente einen neuen Orgeltyp: Diese Orgel sollte den ausgewogenen Plenum-Klang der französischen spätromantischen Orgel Cavaillé-Colls, die verschmelzungsfähigen Zungenstimmen der deutschen und englischen Romantik und den Obertonreichtum der alten klassischen Orgeln des Elsass ("Silbermann-Orgeln") miteinander verbinden. Eine neue Spieltischgestaltung sollte die Logik und Übersichtlichkeit der französischen Spielanlage und die in Deutschland gebräuchlichen Spielhilfen vereinen (Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst, Leipzig 1906). Vor allem im Elsass wurden mehrere Orgeln nach Schweitzers Vorstellungen realisiert. Er selbst empfahl dabei besonders die Orgelbaufirma Dalstein & Haerpfer. Berühmte, registerreiche Reformorgeln entstanden in Dortmund, St. Reinoldi (1909, V/P 105 [1], 1939 um ein Rückpositiv mit 6 Registern erweitert, 1943/44 zerstört), und Hamburg, Sankt Michaelis (1912, V/P 163, nach Kriegsschäden 1943 durch den Neubau von 1962 ersetzt). Schweitzers Vorstellungen von der Orgel galten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der zunehmenden Bedeutung der Orgelbewegung zunächst als weitgehend überholt. Mit der erneuten Wertschätzung der Orgel des 19. Jahrhunderts, mit der Begeisterung für Orgelbau und Orgelmusik der französischen Spätromantik seit den 1970er Jahren zeigen besonders im deutschsprachigen Raum viele Orgelneubauten, die eine Synthese verschiedener historischer Stilelemente anstreben, zumindest in der Disposition durchaus eine Nähe zu Schweitzers Vorstellungen. Schweitzer wirkte bewusstseinsbildend für die wachsende Wertschätzung alter Orgeln im frühen 20. Jahrhundert. Auch in der Zeit seines Wirkens in Afrika setzte er sich immer wieder für die Erhaltung historischer Instrumente ein und begleitete Neubauten mit seinem Rat.
Neben der Orgel beschäftigte Schweitzer sich mit dem Geigenbau, genauer mit dem Geigenbogen. Ausgangspunkt war seine Kritik an dem Spiel der mehrstimmigen Passagen in Bachs Solo-Violinsonaten und Suiten für Violoncello solo. Mit dem modernen, steifen, leicht konkaven Bogen lassen sich nur zwei Saiten gleichzeitig zum Klingen bringen. Als Notbehelf wird arpeggiert oder mit Intervallzerlegung gearbeitet, d.h. zunächst werden die unteren beiden, danach die oberen beiden Töne gespielt. Schweitzer störte das Zerbrechen der Akkorde, die damit verbundenen Kratzgeräusche, die Pausen zwischen den Akkorden, das ständige Fortespiel und die unsinnige Stimmführung. Dagegen ging er davon aus, dass vierstimmiges Geigenspiel zu Bachs Zeit auch tatsächlich möglich und üblich war und sah sich in Berichten z.B. über den norddeutschen Musiker und Bachs älteren Zeitgenossen Nicolaus Bruns bestätigt. Der Schlüssel lag in der Verwendung eines konvexen Bogens, dessen Haare beim Spiel so entspannt werden können, dass ein gleichzeitiges Anstreichen aller Saiten möglich ist. Schweitzer sah die einzige Möglichkeit, das Problem zu lösen, in einer Neukonstruktion; gemeinsam mit dem Geiger Rolf Schröder entwickelte er einen konvexen Bogen mit einer Hebelapparatur am unteren Ende, mit der die Entspannung der Haare beim Spiel möglich war. Er nannte diesen Bogen „Bachbogen“, wohl wissend, dass er damit kein historisches Instrument aus Bachs Zeit, sondern eben eine Neukonstruktion vorgelegt hatte. Heute wird diese Bogen als Rundbogen bezeichnet. Nur wenige Geiger praktizieren heute dieses Spiel, unter ihnen Rudolf Gähler, der zu diesem Thema auch ein Buch veröffentlicht hat.
Bach-Interpret
Als Bach-Interpret wandte sich Schweitzer gegen die seiner Meinung nach übertriebene dynamische und farbliche Differenzierung des spätromantischen Orgelspiels, wie sie sich in Deutschland und Mitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Liszt-Schule etabliert hatte. Er wurde darin bestärkt durch seine Kenntnis der französischen Tradition des Bach-Spiels und seine Studien bei Charles-Marie Widor, Komponist und Organist an Saint-Sulpice in Paris.
Schweitzer propagierte für die freien Orgelwerke Bachs eine einheitliche, behutsam terrassendynamisch gestaffelte Registrierung. Der Jalousieschweller sollte allenfalls für großräumige Steigerungen und zum Nachzeichnen melodischer Bögen verwendet werden. Der Gebrauch des Registerschwellers (Walze) beim Solovortrag alter Orgelmusik galt Schweitzer als unkünstlerisch. Er vermied als Interpret Extreme, wählte ruhige Tempi, praktizierte eine zurückhaltende Agogik und arbeitete in einem plastischen Legato die Formzusammenhänge heraus. Besonders wichtig war ihm die Erkennbarkeit des Textbezugs in den choralgebundenen Orgelwerken J. S. Bachs. Schweitzer veröffentlichte 1912 bis 1962 in Zusammenarbeit mit Widor und nach dessen Tod mit dem Organisten Edouard Nies-Berger die praktische Notenausgabe „J. S. Bach. Complete Works for Organ“, Vol. I bis VIII, im Verlagshaus Schirmer in New York.
In Lambarene spielte Schweitzer nach seiner Arbeit im Hospital auf einem extra für ihn gebauten tropenfesten Klavier mit Orgelpedal. Er übte damit auch für seine Schallplatteneinspielungen und die Orgelkonzerte, deren Erlös seiner karitativen Arbeit zugute kam. Seine Schallplattenaufnahmen mit Werken Bachs in Allhallows Barking-by-the-Tower, London (Dez. 1935), und Sainte-Aurélie, Straßburg (Okt. 1936), sowie an der 1931 nach seinen Vorstellungen gebauten kleinen Orgel der Pfarrkirche in Günsbach (Anfang 1950er Jahre) mit Werken von Bach, Franck und Mendelssohn Bartholdy liegen in verschiedenen Wiederveröffentlichungen vor.
Monographie J.S. Bach
Schweitzers Orgellehrer Charles-Marie Widor regte auch ein Buch über Johann Sebastian Bach an, durch das die französische Orgelwelt stärker mit der für Bach grundlegenden protestantischen Kirchenmusik und ihrem Wortbezug vertraut gemacht werden sollte (J. S. Bach, le musicien-poète, Paris u. Leipzig 1905). Widor selbst, Schweitzer freundschaftlich zugetan, verfasste dazu das Vorwort. Er riet auch zu einer deutschen Fassung, woraus durch völlige Neubearbeitung Schweitzers große Bach-Monographie (Johann Sebastian Bach, Leipzig 1908) entstand, ebenfalls mit einem Vorwort Widors versehen. Während die biographischen Details und die Datierung insbesondere der Kantaten inzwischen durch die Bachforschung weitgehend überholt bzw. erweitert worden sind, ist die Bach-Monographie in musikästhetischer Hinsicht nach wie vor ein Standardwerk und insgesamt von großer geistes- und wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung. Schweitzer hebt besonders den im Werk J. S. Bachs konventionalisierten Gebrauch von Themen und Motiven, Tonarten und Instrumenten hervor. Er hat damit vergleichsweise früh, ohne die Termini zu verwenden, die rhetorische Qualität („Klangrede“) der Alten Musik und die Bedeutung der Affektenlehre thematisiert. Den Schlüssel sah er dabei in den Kantaten. Er fand immer wiederkehrende, sehr bildliche Motive, am auffallensten bei der Beschreibung von Bewegungen wie z.B. Gehen, Laufen, Fallen, Daniedersinken oder bewegungsintensiven Dingen wie Schlangen, Wogen, Schiffe, Flügel, ebenso auch abstrakte, bestimmte Affekte wie Freude, Trauer, Schmerz oder Lachen, Seufzer, Ächzen, Weinen beschreibende Motive. Schweitzer stellt diese musikalische Sprache systematisch dar und gibt dem Bach-Interpreten Hinweise, wie einzelne Motive zu artikulieren und gestalten seien, um die zugrunde liegenden Bilder herauszuarbeiten. Er zeigt auch, dass z.B. die Orgel-Choralbearbeitungen diese Sprache enthalten und zum Verständnis und zur Darbietung dieser Musik die Kenntnis des Choraltextes gehört.
Ein wichtiger Denkanstoß dürfte Schweitzer von der an sich völlig anders gearteten Leitmotivik Richard Wagners gekommen sein, dessen Musik er sehr schätzte. Allerdings arbeitet er in dem Kapitel „Dichterische und malerische Musik“ seiner Bach-Monographie die grundlegend unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Komponisten beim Umgang mit Themen und Motiven heraus. Bei Wagner und anderen „dichtenden“ Musikern werde versucht, ein dramatisches Geschehen als „ästhetische Ideenassoziationen“ mit der Musik auf die Zuhörer zu übertragen; sie richteten sich mitsamt ihren (Leit-)Motiven an das Gefühl. Bach und andere „malende“ Musiker stellten das Geschehen in Bildern oder aufeinander folgenden Bildern dar. Ihre Motive und Themen wendeten sich an die Vorstellungskraft und die Phantasie der Zuhörer.
Politische Wirkung
Albert Schweitzer hat versucht, sich möglichst wenig in politische Auseinandersetzungen hinein ziehen zu lassen. Dies änderte sich allerdings mit seinem Engagement gegen die atomare Rüstung. Bereits am 14.4.1954 schrieb er einen Leserbrief im "Dayly Herold", London, „Die Folgen der Wasserstoffbomben-Explosion bilden ein höchst beängstigendes Problem... Erforderlich wäre, dass die Welt auf die Warnrufe der einzelnen Wissenschaftler hörte, die dieses furchtbare Problem verstehen. So könnte die Menschheit beeindruckt werden, Verständnis gewinnen und die Gefahr begreifen, in der sie sich befindet.“ Bei der Rede anlässlich der Übergabe des Friedensnobelpreises vom 4. November 1954 in Oslo äußerte er sich erneut zur Gefahr der Atomrüstung.
Albert Schweitzer wurde von mehreren Freunden, u.a. Albert Einstein, gedrängt, seine Autorität gegen die Atomrüstung einzusetzen. Er zögerte allerdings, weil er sich zunächst nicht für kompetent genug fühlte. Endgültig überzeugte ihn dann allerdings der Publizist Norman Cousins. Nachdem er sich gründlich auch mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Folgen der Atomwaffentests auseinander gesetzt hatte, sendete er im April 1957 über den Sender Radio Oslo einen „Appell an die Menschheit“. Dieser Appel erfuhr weltweite Aufmerksamkeit und wurde in 140 Sendern übernommen. Im April 1958 folgten drei weitere Appelle, „Verzicht auf Versuchsexplosionen“, „Die Gefahr eines Atomkrieges“, „Verhandlungen auf höchster Ebene“ die vom Präsidenten des norwegischen Nobelpreiskommittees, Gunnar Jahn vorgelesen wurden. Sie wurden unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ gedruckt. Schweitzer gehörte 1958 zu den prominentesten Unterzeichnern einer von Linus Pauling initiierten Unterschriftensammlung bei namhaften Wissenschaftlern gegen die Atomversuche.
Wie unter den Bedingungen des kalten Krieges zu erwarten, wurde Schweitzer neben vielfacher Zustimmung auch heftig angegriffen. Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb am 10. September 1958 unter dem Titel „Seltsamer Albert Schweitzer“: „Der verehrte Name Albert Schweitzers darf nicht davon abhalten, festzustellen, dass dieses Dokument politisch und philosophisch, militärisch und theologisch wertlos ist. Das Wagnis, das er dem Westen zumutet, ist an sich schon ungeheuerlich. Das Urteil über Amerika und die Sowjetunion anderseits macht es vollends unmöglich, Albert Schweitzers Rat ernsthaft in Erwägung zu ziehen.“
Neben diesen direkten Angriffen wurde Schweitzer im Kern seiner eigentlichen Tätigkeit angegriffen, seiner Arbeit im Urwaldhospital Lambarene. War vordem eine kritiklose Verehrung Schweitzers festzustellen, wurden nun offensichtlich vorhandene Unzulänglichkeiten und Mißstände aufgedeckt. Der amerikanische Publizist John Gunther beschreibt 1957 nach einem Besuch in Lambarene in einem Buch sowie in einem Artikel im Spiegel Schweitzer als autoritär, mit wenig Interesse an den Menschen um ihm. In seinem Bild von den Afrikanern sei Schweitzer in alten, kolonialen Vorstellungen verwurzelt, nicht bereit, auch nur deren Sprache zu lernen. Die sanitären und hygienischen Bedingungen im Hospital beschreibt er als katastrophal, die medizinische Versorgung als rückschrittlich.
Die Kritik blieb allerdings nicht unwidersprochen; Dr. Edmond Duboze, der damalige Generalinspektor des militärärztlichen Dienstes Gabuns, nahm Schweitzer dagegen in Schutz und wies die erhobenen Vorwürfe zurück. In jüngster Zeit wurde die Kritik Gunthers durch ein „Enthüllungsbuch“ des französischen Tropenmediziners André Audoynaud erneuert und zum Teil erweitert; Audoynaud war von 1963 bis 1966 ärztlicher Direktor des Hôpital administratif von Lambaréné gewesen. Allerdings hatte sich Albert Schweitzer auch selber durchaus selbstkritisch geäußert.[1]
Letztendlich waren aber Linus Pauling, Albert Schweitzer und die ganze Anti-Atomwaffenbewegung insofern doch erfolgreich, dass 1963 das bis heute haltende Versuchsstoppabkommen für oberirdische Atomwaffentests unterzeichnet wurde.
Dr.-Albert-Schweitzer-Pokal
Der Deutsche Basketball Bund (DBB) spielt in Erinnerung an Albert Schweitzer jedes zweite Jahr im Frühjahr in Mannheim auf seinem Europa-Jugend Basketballturnier den Dr.-Albert-Schweitzer-Pokal für Jugend-Nationalmannschaften aus. Dieses internationale Basketballturnier ist eines der wichtigsten und am Besten besetzten Basketballtuniere für Jugendmannschaften aus Europa und Übersee, an dem auch schon zahlreiche spätere NBA-Profis teilgenommen haben. Die Idee zu diesem internationalen Freundschaftstreffen der Basketballjugend kam im Mai 1957 dem Fotografen Hans-Joachim Babies. Es gelang ihm die Stadt Mannheim, die US-Armee und den DBB für seine Idee zu gewinnen. Der Basketballtrainer Hermann "Pascha" Niebuhr, heute DBB-Ehrenmitglied, holte die Erlaubnis von Dr. Albert Schweitzer, das Jugendturnier nach dem berühmten Missionar und Arzt benennen zu dürfen. Im Dezember 1958 konnte zum ersten Mal um den Dr.-Albert-Schweitzer-Pokal gespielt werden. Für den ersten Turniersieger hat Albert Schweitzer sein Bild mit persönlicher Widmung gestiftet.
Schulen
Der Name Albert Schweitzers wird auch für die Namensgebung zahlreicher Schulen verwendet. Die erste deutsche Schule mit seinem Namen war das Gymnasium Albert-Schweitzer-Schule Nienburg in Nienburg (Weser), das den Namen im Jahre 1949 mit Zustimmung Albert Schweitzers erhielt. Aber auch die Schule in Hürth-Hermühlheim trägt diesen Namen und hat einen Albert-Schweitzer-Tag eingerichtet.
Auszeichnungen
- Goethepreis 1928
- Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1951
- Johann-Peter-Hebel-Preis 1951
- Friedensnobelpreis 1952
- Orden der Friedensklasse des 'Pour le Mérite' 1954
- Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main 1959.
Literatur
- Albert Schweitzer: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Rudolf Grabs. Beck, München 1974 ISBN 3406042155
- Walter Munz: Albert Schweitzer im Gedächtnis der Afrikaner und in meiner Erinnerung, Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart, 1991
- Harald Steffahn: Albert Schweitzer. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 14. Aufl. Rowohlt, Reinbek 2004 ISBN 3499502631
- André Audoynaud: Le docteur Schweitzer et son hôpital à Lambaréné. L'envers d'un mythe. L'Harmattan, Paris 2005, ISBN 2-7475-9499-8.
- James Bentley: Albert Schweitzer. Eine Biographie. Düsseldorf, Patmos 1993 ISBN 3491690315
- Tomaso Carnetto: Albert Schweitzer: Tatsachen. Eine Einführung in Leben und Werk. CD-ROM für Windows und Mac mit Textband, Verlag P12c 2002 ISBN 3933176034
- Rudolf Gähler: Der Rundbogen für die Violine - ein Phantom?.- ConBrio, Regensburg, 175 S., 1997
- John Gunther: Afrika von Innen Humanitas Verl., Konstanz - Stuttgart, 880 S., 1957
- John Gunther: Der alte Mann und seine Schwächen Der Spiegel vom 03.07.1957 S. 42
- Claus Günzler: Albert Schweitzer. Einführung in sein Denken. Beck, München 1996. ISBN 3-4063-9249-0
- Karl Rolf Seufert: Das Zeichen von Lambarene Hrsg. von Loewe Verlag. ISBN 3-7855-2209-6
- Albert Schweitzer: Johann Sebastian Bach. 1908; Nachdruck Wiesbaden 1979, ISBN 376510034X
- Albert Schweitzer und Fritz Buri: Existenzphilosophie und Christentum. Briefe 1935 - 1964. Eingeleitet, kommentiert und hrsg. von Andreas Urs Sommer. München 2000, ISBN 3-406-46730-X.
- Albert Schweitzer: Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, in: Siegwart Horst Günther, Gerald Götting: Was heißt Ehrfurcht vor dem Leben? Begegnungen mit Albert Schweitzer, neues leben, Berlin, 2005
- Albert Schweitzer: Der für Bachs Werke für Violine Solo erforderliche Geigenbogen. In: Bach - Gedenkschrift, Zürich 1950
Anmerkungen
- ↑ eine Angabe wie z. B. "V/P 105" bedeutet: V = die Orgel hat 5 Manuale, P = sie hat ein (selbständiges) Pedal, 105 = sie hat 105 Register.
Siehe auch
Weblinks
- Informationen der Nobelstiftung zur Preisverleihung 1952 an Albert Schweitzer (englisch)
- Vorlage:DM
- Biografie im Heiligenlexikon
- Albert Schweitzer. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL).
- Archiv und Museum Günsbach / AISL
- Albert Schweitzer Netzwerk
- extensive Bibliographie in: Quellenlexikon zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 29. 2001, S. 44-105 (Bearbeiter: Werner Raupp)
- http://www.uni-giessen.de/~gk1415/Albert-Schweitzer.htm
- Gemeinnütziger Verein Albert-Schweitzer-Familienwerk Bayern e.V.
- Albert-Schweitzer-Gedenk-und Begegnungsstätte Weimar
- Albert Schweitzer Kinderdorf Hessen e.V.
- Deutscher Hilfsverein für das Albert-Schweitzer-Spital in Lambarene e.V.
- Das Albert Schweitzer Haus in Königsfeld im Schwarzwald
- Biographisches und Worte von Albert Schweitzer
Personendaten | |
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NAME | Schweitzer, Albert |
KURZBESCHREIBUNG | elsässischer Arzt, Theologe, Musiker und Philosoph |
GEBURTSDATUM | 14. Januar 1875 |
GEBURTSORT | Kaysersberg im Oberelsass (Deutsches Reich) |
STERBEDATUM | 4. September 1965 |
STERBEORT | Lambaréné, Gabun |