Masha Gessen (russisch Мария Александровна Гессен, Marija Alexandrowna Gessen; * 13. Januar 1967 in Moskau) ist russisch-US-amerikanischer Nationalität und journalistisch sowie schriftstellerisch tätig.[1]

Leben
Masha Gessen wurde 1967 als erstes Kind einer aschkenasisch-jüdischen Familie in Moskau geboren; die Familie emigrierte 1981 aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten.[1][2]
1991 kehrte Gessen nach Russland zurück, um den damals erwarteten Übergang zur liberalen Demokratie journalistisch zu begleiten,[2] und berichtete unter anderem für das amerikanische Nachrichtenmagazin U.S. News & World Report aus dem Land.[1] Gessen berichtete über Tschetschenien, kommentierte den Aufstieg von Wladimir Putin und die Zeit unter Präsident Dmitrij Medwedew.
Masha Gessen ist aktiv in der Lesben- und Schwulenbewegung tätig und siedelte 2013 wegen der zunehmenden Repressionen gegen Homosexuelle in Russland von Moskau nach New York City um.[3][4] Gleichfalls 2013 erhielt Gessen den schwedischen Tucholsky-Preis für Schriftsteller, die im eigenen Land verfolgt oder bedroht werden und daher im Exil leben müssen.
Gessen schrieb eine Biografie über den Mathematiker Grigori Perelman (2009), der die Poincaré-Vermutung bewiesen hatte, und über den russischen Präsidenten Wladimir Putin (2012).[5] 2014 veröffentlichte Gessen ein Buch über Pussy Riot.[6][7]
Gessens 2017 veröffentlichtes und 2018 auf Deutsch erschienenes Buch Die Zukunft ist Geschichte charakterisiert die Verhältnisse im postsowjetischen Russland anhand von vier Biografien junger Russen, die zur Welt kamen, als dem Land ein demokratischer Aufschwung prophezeit wurde.[8] Eine der Hauptfiguren des Buches war der nationalistische Philosoph Alexander Dugin.[2] Das außerhalb Russland mehrfach ausgezeichnete Buch, das 2017 den amerikanischen National Book Award in der Kategorie Nonfiction und 2019 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt,[9] wurde bei Kontrollen des russischen Zolls immer wieder zurückgehalten.[10]
Als nichtbinäre Person bevorzugt Gessen, geschlechtsneutral mit dem singularen Fürwort they bezeichnet zu werden.[11]
Kontroversen
Gessen wurde im Dezember 2023 vorgeworfen, in einem im New Yorker publizierten Essay[12] den Krieg in Israel und Gaza mit der Liquidierung der jüdischen Ghettos durch die Nazis verglichen zu haben.[13] Auch für ihre Kritik an der Singularitätsthese des Holocaust erhielt sie Kritik.[14] Daraufhin zogen sich das Bremer Rathaus sowie die Heinrich-Böll-Stiftung aus der Feierveranstaltung der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für Gessen zurück.[15] Die Deutsch-Israelische Gesellschaft forderte in einem offenen Brief, die Verleihung des Preises auszusetzen.[16] Die Verleihung wurde verschoben.[17] Kate Connolly berichtet im Guardian, dass die Reaktionen in Deutschland als ironisch bezeichnet werden. So wird behauptet: "Hannah Arendt wouldn’t get the Hannah Arendt award in Germany today" (deutsch: „heutzutage in Deutschland würde Hannah Arendt selbst den Hannah-Arendt-Preis nicht erhalten“).[18] Der Historiker Volker Weiß und der Arendt-Biograph Thomas Meyer wiesen hingegen auf „brachiale Fehler“, „krude Konstrukte“ und „Geschichtsverdrehungen“ in Gessens Essay hin, für die Hannah Arendt als Gewährsfrau vollständig wegfalle.[19][20]
In einem darauffolgenden Interview in der Süddeutschen Zeitung erklärte Gessen : „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es nicht nur erlaubt ist, sondern sogar unsere moralische Verpflichtung, den Holocaust mit anderen Ereignissen zu vergleichen.“ Sie stehe damit in der Tradition Hanna Arendts, welche ihrer Ansicht nach den Preis heute selbst nicht erhalten würde, da sie gewisse Aspekte von Israels Politik mehrfach mit Handlungen der Nazi verglichen hatte. Gessen bestätigt in den Interview, die Sigularitätsthese nach wie vor mitzutragen: „ Es gibt bislang keinen zweiten Holocaust.“ Vergleichen bedeute nicht Gleichsetzen.[21]
Privates
Masha Gessen hat drei jüngere Brüder, darunter der Schriftsteller, Journalist und Herausgeber Keith Gessen (* 1975). 2000 adoptierte Masha Gessen einen dreijährigen russischen Waisenjungen, dessen Eltern an den Folgen von Aids gestorben waren. Außerdem hat Gessen einen Sohn und eine Tochter.[22]
Veröffentlichungen
- The Rights of Lesbians and Gay Men in the Russian Republic. International Gay & Lesbian Human Rights Comm, 1993, ISBN 1-884955-13-4.
- Half a Revolution: Contemporary Fiction by Russian Women. Cleis Press, 1995, ISBN 1-57344-006-X.
- Dead Again: The Russian Intelligentsia after Communism. Verso, 1997, ISBN 1-85984-147-3.
- Auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Mission. Die russische Intelligenzija. Kunstmann, München 1998, ISBN 3-88897-197-7.
- Ester and Ruzya: How My Grandmothers Survived Hitler’s War and Stalin’s Peace. Dial Press Trade Paperback, 2004, ISBN 0-385-33605-5.
- Esther und Rusja. Wie meine Großmütter Hitlers Krieg und Stalins Frieden überlebten. Hanser, München/Wien 2005, ISBN 3-446-20583-7; Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2008, ISBN 978-3-423-34496-8.
- Im Maul des Löwen, Rezension von Gabriele von Arnim in der Zeit, Nr. 50, 8. Dezember 2005.
- Esther und Rusja. Wie meine Großmütter Hitlers Krieg und Stalins Frieden überlebten. Hanser, München/Wien 2005, ISBN 3-446-20583-7; Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2008, ISBN 978-3-423-34496-8.
- Blood Matters: From Inherited Illness to Designer Babies, How the World and I Found Ourselves in the Future of the Gene. Houghton Mifflin Harcourt, 2008, ISBN 978-0-15-101362-3 (Notable Book of the Year der New York Times).
- Chronicle of a Death Foretold, Rezension von Jennifer Senior in der New York Times, 11. Mai 2008.
- Perfect Rigor: A Genius and the Mathematical Breakthrough of the Century. Houghton Mifflin Harcourt, 2009, ISBN 978-0-15-101406-4.
- Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman. Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-42370-7; ebd. 2014, ISBN 978-3-518-46527-1.
- Das Genie lebt im Hotel Mama, Rezension von Heinrich Hemme in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 3. September 2013.
- Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman. Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-42370-7; ebd. 2014, ISBN 978-3-518-46527-1.
- The Man Without a Face: The Unlikely Rise of Vladimir Putin. Riverhead, 2012.
- Der Mann ohne Gesicht – Wladimir Putin. Eine Enthüllung. Piper, München/Zürich 2012, ISBN 978-3-492-05529-1; ebd. 2013, ISBN 978-3-492-30279-1.
- How the Fall of the Berlin Wall Radicalized Putin, Auszug in The Daily Beast, 11. September 2014.
- Vladimir’s Tale, Rezension von Anne Applebaum in der New York Review of Books, 26. April 2012.
- Ann-Dorit Boy: Rezension. In: Neue Zürcher Zeitung. 31. Mai 2012.
- Der Mann ohne Gesicht – Wladimir Putin. Eine Enthüllung. Piper, München/Zürich 2012, ISBN 978-3-492-05529-1; ebd. 2013, ISBN 978-3-492-30279-1.
- Words Will Break Cement: The Passion of Pussy Riot. Riverhead, 2014.
- Where the Jews Aren’t: The Sad and Absurd Story of Birobidzhan, Russia’s Autonomous Region. Nextbook/Schocken, 2016, ISBN 978-0-8052-4246-1.
- The Future Is History: How Totalitarianism Reclaimed Russia. Riverhead Books, 2017, ISBN 978-1-59463-453-6.
- Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Suhrkamp, Berlin 2018, ISBN 978-3-518-42842-9.
- Never Remember: Searching for Stalin’s Gulags in Putin’s Russia. Columbia Global Reports, New York 2018, ISBN 978-0-9977229-6-3.
- Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland. Aus dem Englischen von Sven Koch. dtv Verlagsgesellschaft, München 2019, ISBN 978-3-423-28172-0
- Leben mit Exil. Über Migration sprechen. edition suhrkamp, Berlin 2020, ISBN 978-3-518-12743-8.
Preise und Auszeichnungen
- 2017: National Book Award for Nonfiction für The Future is History: How Totalitarianism Reclaimed Russia
- 2019: Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor
- 2023: Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken
Weblinks
- Literatur von und über Maša Gessen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Masha Gessen bei Perlentaucher.
- Sonja Zekri: Schriftstellerin Masha Gessen: Ein schwuler Putin als Papierhampelmann. In: Süddeutsche Zeitung. 19. März 2019.
- Masha Gessen bei IMDb
Einzelnachweise
- ↑ a b c Arno Widmann: Ausgelesen: Vom Verbrecher Wladimir Putin. In: Frankfurter Rundschau. 2. März 2012, abgerufen am 5. März 2012.
- ↑ a b c Wiederkehr des Gleichen. In: Süddeutsche Zeitung. 21. März 2019, abgerufen am 14. Dezember 2023.
- ↑ Masha Gessen: As a gay parent I must flee Russia or lose my children. In: The Observer. 11. August 2013.
- ↑ Masha Gessen: When Putin Declared War on Gay Families, It Was Time for Mine to Leave Russia. In: Slate. 26. August 2013.
- ↑ Georg Diez: Der Kritiker: Märchenkönig mit großem Messer. In: Spiegel Online. 2. März 2012.
- ↑ The “Pussy Riot” Arrests, And The Crackdown That Followed. In: NPR. 8. Januar 2014, abgerufen am 14. Dezember 2023.
- ↑ Hannes Stein: Biografin: „Wladimir Putin ist ein Monster“. In: Die Welt. 3. Februar 2014.
- ↑ National Book Awards für Jesmyn Ward und Masha Gessen. In: Spiegel Online. 16. November 2017.
- ↑ Masha Gessen für ihre Russland-Analyse prämiert. boersenblatt.net, erschienen und abgerufen am 22. November 2018.
- ↑ Der russische Zoll begann Bücher von ausländischen Online-Shops auf „Propaganda bestimmter Ansichten“ zu überprüfen. Nowaja Gaseta, 22. November 2018.
- ↑ https://twitter.com/mashagessen/status/1275529665466302466. In: twitter.com. Twitter, abgerufen am 29. Juni 2020.
- ↑ Masha Gessen: In the Shadow of the Holocaust. In: The New Yorker. 9. Dezember 2023, ISSN 0028-792X (newyorker.com [abgerufen am 14. Dezember 2023]).
- ↑ Hannah-Arendt-Preis: Der Fall Masha Gessen - WELT. 15. Dezember 2023, abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Nach Aussagen zu Gaza: Hannah-Arendt-Preisverleihung verschoben. 14. Dezember 2023, abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Benno Schirrmeister: Bremer Hannah-Arendt-Preis 2023: Keine Feier für Masha Gessen. In: Die Tageszeitung: taz. 13. Dezember 2023, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 15. Dezember 2023]).
- ↑ Hannah-Arendt-Preis: Kritik an Verleihung an US-Intellektuelle Masha Gessen. In: Der Spiegel. 13. Dezember 2023, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 15. Dezember 2023]).
- ↑ deutschlandfunk.de: Umstrittene Äußerungen - Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen verschoben. Abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Kate Connolly: Award ceremony suspended after writer compares Gaza to Nazi-era Jewish ghettos. In: The Guardian. 14. Dezember 2023, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 15. Dezember 2023]).
- ↑ Volker Weiß, Die Erinnerung fällt so schwer auf: sueddeutsche.de (14. Dezember 2023), abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Michael Hesse, Philosoph Thomas Meyer: „Hannah Arendt hatte einen Sound, der niemanden ausschloss“ auf: fr.de (14. Dezember 2023), abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Sonja Zekri: Masha Gessen im Interview zum Hannah Arendt Preis. 15. Dezember 2023, abgerufen am 15. Dezember 2023.
- ↑ Russian Gay Activist's Plea: 'Get Us the Hell Out of Here'. 6. September 2013, abgerufen am 11. Dezember 2023 (englisch).
Personendaten | |
---|---|
NAME | Gessen, Masha |
ALTERNATIVNAMEN | Гессен, Мария Александровна; Gessen, Maria Alexandrovna; Gessen, Marija Alexandrowna |
KURZBESCHREIBUNG | russisch-US-amerikanische Schriftstellerin |
GEBURTSDATUM | 13. Januar 1967 |
GEBURTSORT | Moskau, RSFSR, Sowjetunion |