Ein Haiku (jap. 俳句, lustiger Vers) ist eine japanische Versdichtung.
Geschichte
Vorläufer des Haiku waren das Tanka (5-7-5 und 7-7 Moren) und das Renga (eine Kette von Tanka). Anfangs hatte man begonnen gemeinsam Tanka zu dichten. Der erste Dichter schuf das Hokku (Oberstrophe, 5-7-5) der zweite das Matsuku (Unterstrophe, 7-7). Diese Form des gemeinsamen Dichtens war auch als Waka (Antwortgedicht) bekannt. Später dichtete man in größeren Gesellschaften ganze Ketten von Tanka in einer Art Gesellschaftspiel. Damit war das Haikai-Renga entstanden. Die Strophen knüpften motivisch aneinander an.
Aus dem 13. Jahrhundert finden sich die ersten belegten Herauslösungen des Hokku als eigenständige lyrische Form. In der folgenden Zeit war das Hokku als Scherz- und Witzgedicht bei Hofleuten und Samurai beliebt. Ab dem 15. Jahrhundert begann sich das Hokku neben dem Tanka als eigenständige Versform zu etablieren. Noch ging es vorrangig um das Spiel mit Worten und Bildern.
Erst im 16. Jahrhundert mit Beginn der Edo-Periode entstand die Form, die wir heute als traditionelles Haiku bezeichnen. Voraussetzung dafür waren einige Besonderheiten der Edo-Periode. Die Gesellschaft war geprägt durch ein feudalistisches Klassen- und Ständesystem. Zudem schottete sich Japan fast vollständig nach außen ab. So entstand eine in sich geschlossene, scheinbar unveränderliche Welt. Durch dieses genau definierte Werte- und Symbolsystem hatten Dichter und Rezipienten über Jahrhunderte einen gemeinsamen, klar abgegrenzten Verstehenshintergrund. Veränderungen fanden nur im Detail statt. Und so war die Entwicklung der lyrischen Form Haiku geprägt von der Bemühung den noch treffenderen noch genaueren Ausdruck zu finden und nicht davon, Traditionen zu hinterfragen oder gar neue Formen zu entwickeln. Daher blieben Form und Inventar über Jahrhunderte hinweg so gut wie unangetastet. Wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Kunstform Haiku hatte das Gedankengut des Zen-Buddishmus.
Der erste große Haiku-Dichter war Matsuo Basho (1644-1694), dessen Frosch-Haiku wohl das meistzitierte Haiku der Welt ist:
古池や | furu ike ya | Der alte Weiher |
蛙飛び込む | kawazu tobikomu | Ein Frosch springt hinein |
水の音 | mizu no oto | Das Geräusch des Wassers |
Große Haiku-Dichter waren zudem Buson und Kobayashi Yataro, genannt Issa, aus der Provinz Shinano.
Issa brach zuweilen mit der konventionellen und erstarrten 5-7-5-Form. Seinen Werken, die der zunehmenden Sophistizierung der Haikus eine Absage erteilten, liegt eine tiefe Liebe zu Mensch und Kreatur zugrunde, die oft mit einem feinen Schuss Humor gewürzt waren:
Auf dem Seerosenblatt der Frosch
aber was macht er
für ein Gesicht?
Wann der Begriff Haiku geprägt wurde ist umstritten. Einige schreiben ihn Masaoka Shiki (1867-1902) zu. Andere Autoren sprechen aber auch davon, dass sich der Begriff bereits zu Zeiten Bashos durchzusetzen begann. Die Zusammensetzung erfolgte wahrscheinlich aus Haikai (Haikai-Renga) und Hokku.
Allgemeines
Aus dem Vorwort des Kokinshu (Sammlung alter und neuer Gedichte) aus dem Jahre 905 stammt folgendes Zitat:
- „Die japanische Dichtung hat als Samen das menschliche Herz, und ihr entsprießen unzählige Blätter von Wörtern. Viele Dinge ergreifen die Menschen in diesem Leben: sie versuchen dann, ihre Gefühle durch Bilder auszudrücken, die sie dem entnehmen, was sie sehen und hören.“ [1]
Dietrich Krusche nennt Prinzipien die im Regelfall für das Haiku gelten: Ein Haiku ist konkret. Gegenstand des Haiku ist ein Naturgegenstand außerhalb der menschlichen Natur. Abgebildet wird eine einmalige Situation oder ein einmaliges Ereignis. Diese Situation bzw. dieses Ereignis wird als gegenwärtig dargestellt. Im Haiku findet sich ein Bezug zu den Jahreszeiten.[2]
Die dargestellten Dinge sind Repräsentanten erlebter Momente und der damit verbundenen Gefühle. Die Natur spiegelt die Seele. Objekte werden stellvertretend und symbolhaft benutzt. Ein Bild als Beispiel: Fallende Blätter, Assoziation: Herbst, Gefühl: Melancholie. Darüber hinaus verweisen einige Autoren der betrachtenden Literatur auf eine weitergehende noch kulturspezifischere Symbolik. Bestimmte Objekte stehen ihrer Meinung nach stellvertretend für religiöse, gesellschaftliche und philosophische Themen. So nennt Bodmershof[3] beispielhaft den herabstürzenden Regen als Symbol des Todes oder das Haus als Symbol des irdischen Körpers.
Viele Haiku sind in kalligraphisch schöner Form dargestellt. Die Silbenzahl ergibt im Japanischen einen Sprechtakt, der einen ähnlichen Erinnerungswert bietet wie im Deutschen die Reime.
Aufbau
Die japanische Dichtung ist nicht Silben zählend, sondern quantisierend. Ein Haiku nach traditionellem Vorbild besteht aus einem Vers zu drei Wortgruppen à fünf, sieben und fünf japanischen Moren (5-7-5). Eine Mora ist eine Sprechzeiteinheit.
Eine japanische Silbe trägt eine Mora, wenn der Vokal kurz ist und die Silbe offen auslautet. Ein langer Vokal trägt zwei Moren. Ein n am Schluss einer Silbe oder ein verdoppelter Konsonant (Sokuon, wörtlich „gespannter Laut“) trägt ebenfalls eine Mora. Die meisten rein japanischen Wörter bestehen aus Silben mit einer Mora. Silben mit mehreren Moren sind meist sinojapanischen Ursprungs.
Ein Beispiel:
Nippon wa ist die erste Zeile eines Haiku und besteht aus fünf Moren wie folgt:
Ni + p + po + n + wa.
Haiku außerhalb Japans
Erst Mitte des 20. Jahrhunderts begann das Haiku auch die westliche Welt zu erobern. Zunächst verbreitete es sich in Nordamerika und im gesamten englischen Sprachraum. Ein wichtiger Wegbereiter war der Engländer Reginald Horace Blyth, der zeitweise als Lehrer am japanischen Hof arbeitete und von 1949 bis 1952 eine vierbändige Anthologie mit dem Titel „Haiku“ veröffentlichte. Heutzutage werden Haiku in fast allen Sprachen der Welt geschrieben.
Deutschsprachige Haiku
Auch im deutschsprachigen Raum hat das Haiku inzwischen Fuß gefasst. Im Deutschen ist das Silbenmuster 5-7-5 allerdings umstritten, da Silben in der deutschen Sprache viel freier gebildet werden können als im Japanischen und daher nicht zwangsläufig einen Rhythmus ergeben. Nach einer Gewöhnung an die typische Kürze des Haiku mittels des strengen Musters verfassen viele Autoren seit einigen Jahren immer öfter Dreizeiler ohne Silbenzählung.
Lange Zeit auf eine kleine Gemeinde von Haikuschreibenden beschränkt, hat sich in den letzten Jahren eine lebendige Szene im Internet entwickelt.
Verwandte Begriffe
Eine Form, die sich mehr mit dem Persönlichen und Emotionalen befasst, ist der dem Haiku sehr ähnliche Senryū.
Literatur
Ausgaben
- Reginald H. Blyth: Haiku. Hokuseido Press, Tokio 1982 ff., ISBN 4-590-00572-7
- Eastern culture. S. 2-343.
- Spring. S. 345-640.
- Summer, autumn. S. 641-976.
- Winter. S. 977-1300.
- Dietrich Krusche (Hrsg.): Haiku. Japanische Gedichte. Dtv, München 2002, ISBN 3-423-12478-4
- Jan Ulenbrook: Haiku. Japanische Dreizeiler. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-050048-6
Sekundärliteratur
- Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Suhrkamp, Frankfurt/M 2005, ISBN 3-518-11077-2
- Reginald H. Blyth: A History of Haiku. Hokuseido Press, Tokio 1976-1977
- From the beginnings up to Issa. 1976
- From Issa to the present. 1977
Weblinks
Quellen
- ↑ Donald Keene, Japanische Literatur : Eine Einführung f. westl. Leser, Zürich, 1962. - ISBN B0000BK1R1
- ↑ Krusche, Dietrich: Essay, Erläuterungen zu einer fremden literarischen Gattung in: Hrsg. Krusche: Haiku, Japanische Gedichte:dtv, München, 1997
- ↑ Bodmershof von, Wilhelm: Studie über das Haiku in: Bodmershof von, Imma: Haiku: dtv München, 2002