Heysesche s-Schreibung

Regel der deutschen Rechtschreibung
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Die heysesche s-Schreibung bezeichnet in der deutschen Rechtschreibung eine Regel, die festlegt, ob der stimmlose Laut [s] als „ss“ oder als Ligaturß“ geschrieben wird, sofern er nicht als einfaches „s“ geschrieben wird. Seit der Rechtschreibreform von 1996 hat sie die vorher geltende adelungsche s-Schreibung ersetzt. Beide Regeln behandeln ausschließlich die Entscheidung zwischen „ss“ und „ß“, setzen also voraus, dass im jeweiligen Fall bereits bekannt ist, dass kein einfaches „s“ geschrieben wird. Zur Entscheidung der Frage, ob einerseits ein einfaches „s“ oder andererseits „ss“ oder „ß“ geschrieben wird, gibt es keine einfache, allgemeingültige Regel.

Die Regel der heyseschen s-Schreibung für die Entscheidung zwischen „ss“ und „ß“ lautet:

  • Nach einem langen Vokal oder einem Diphthong schreibt man „ß“, nach einem kurzem Vokal schreibt man „ss“.

In der adelungschen Schreibweise gibt es zu dieser Regel, die auch hier zunächst angewendet wird, die folgende Zusatzbestimmung:

  • Auch nach einem kurzem Vokal schreibt man statt „ss“ ein „ß“, wenn „ss“ nicht in „s-s“ getrennt werden kann. Dies gilt in folgenden Fällen:
    • am Wortende: muß, Roß, Kuß, daß;
    • vor einer Wortfuge: kußecht, Schlußstrich, Paßbild;
    • vor einem Konsonanten: müßt, paßt, häßlich, wäßrig, unvergeßne, Rößl.

Die adelungsche Schreibregel kann alternativ auch folgendermaßen formuliert werden:

  • Statt „ss“ schreibt man genau dann ein „ß“, wenn „ss“ nicht in „s-s“ getrennt werden kann [1].

Insofern kann die Ligatur „ß“ im Sinne der adelungschen Schreibung als typographische Variante für ein eng zusammengehöriges, untrennbares „ss“ interpretiert werden.

Auch in der heyseschen s-Schreibung kann ein „ß“ nicht in „s-s“ getrennt werden. Die Umkehrung, wonach aus der Nichttrennbarkeit von „ss“ die Schreibweise „ß“ folgt, gilt jedoch hier nicht.

Geschichte

Die heysesche Schreibregel wurde im Jahr 1829 formuliert. Es ist ungeklärt, ob sie Johann Christian August Heyse (1764–1829) oder seinem Sohn Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797−1855) zuzuschreiben ist.

Zunächst fand die neue Regel wenig Freunde. Auch Karl Wilhelm Ludwig Heyses Sohn Paul Heyse (1830–1914), dem 1910 als erstem Deutschen der Literatur-Nobelpreis verliehen wurde, verwendete diese Schreibweise nie.

Im Jahr 1876 protokollierte die I. Orthographische Konferenz zum Thema heysesche s-Schreibung:

Demnächst empfahl Hr. Scherer, für jetzt bei der allgemein verbreiteten adelungschen Regel stehen zu bleiben; Heyse sei bisher im wesentlichen nur in Schulen durchgedrungen, und aus Österreich können Redner bezeugen, daß auch wer danach unterrichtet werde, die heysesche Regel später wieder aufzugeben pflege.

Erst 1879 kam die heysesche s-Schreibung zu Ehren, indem sie in Österreich als Rechtschreibregel eingeführt wurde. Von den meisten österreichischen Zeitungen wurde sie allerdings nicht angewandt.

Im Jahr 1901 wurde die heysesche s-Schreibung auf der II. Orthographischen Konferenz aufgegeben, da sie zu vermehrten Schreibfehlern geführt hatte. Statt dessen wurde die adelungsche s-Schreibung eingeführt.

Bei der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 wurde die heysesche s-Schreibung zur Schreibregel erhoben, wobei Ausnahmen (z.B. Eigennamen) bestehen blieben. Im Zuge der Korrektur dieser Reform beschäftigte sich der Rat für deutsche Rechtschreibung auch mit dieser Regel, deren Wiedereinführung nach wissenschaftlichen Studien zunächst zu häufigeren und neuartigen Schreibfehlern geführt hatte; es wurden jedoch keine Änderungen gegenüber der Regelung von 1996 beschlossen.

Eigenschaften

Laut-Buchstaben-Zuordnung

Die heysesche s-Schreibung wendet die Regel, dass ein verdoppelter Konsonant die Kürze des vorangehenden Vokals anzeigt, auch auf das „s“ an. Dadurch wird die unterschiedliche Aussprache von Wörtern, bei denen der Kurz- oder Langvokal identisch geschrieben wird, in der Schreibung deutlich:

  • kurzer Vokal: Fass, Fluss, Russland, floss
  • langer Vokal: Maß, Fuß, Ruß, Floß

Nach der adelungschen Regelung werden alle diese Wörter mit „ß“ geschrieben.

Die heysesche Schreibung erleichtert daher dem Leser die Aussprache unbekannter Wörter mit „ss“ oder „ß“ hinsichtlich der Länge der diesen Zeichen vorangehenden Vokale, sofern er die Regel für die heysesche s-Schreibung kennt, wovon insbesondere diejenigen profitieren, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass es schwierig ist, beim Schreiben eines unbekannten Wortes mit stimmlosem s-Laut nach der heyseschen Regel zwischen „ss“ und „ß“ zu entscheiden, da für diese Entscheidung die Kenntnis der Länge des vorangehenden Vokals notwendig ist. So ist nach Aussage von Katharina Ruckteschell, Leiterin der Abteilung Sprache am Goethe-Institut, die Schreibung von „ss“ nach kurzem Vokal und „ß“ nach langem Vokal für Ausländer problematisch, da diese nicht die phonetischen Kenntnisse zur Unterscheidung besäßen. [2] Demgegenüber kann die adelungsche Regelung die Wahrscheinlichkeit für die Auswahl eines falschen Schriftzeichens für den s-Laut beim Schreiben eines Wortes, dessen korrekte Aussprache nicht genau bekannt ist, gegenüber der heyseschen Regelung verringern, da die graphotaktische Regel, wonach am Wortende, an Wortfugen und vor Konsonanten niemals „ss“ stehen kann, relativ einfach gelernt und auch auf unbekannte Wörter angewendet werden kann.

In vielen Wörtern wird auch nach einem kurzen Vokal nur ein einfaches „s“ geschrieben. Es kann somit aus der Schreibung „ss“ nach der heyseschen Regelung zwar auf die Kürze des vorangehenden Vokals geschlossen werden, nicht aber umgekehrt von einem stimmlosen s-Laut nach einem kurzen Vokal auf die Schreibung „ss“:

  • das, fast, Rost, Küste

Die Laut-Buchstaben-Zuordnung ist also auch bei der heyseschen s-Schreibung nicht eindeutig umkehrbar.

Stammprinzip

In der heyseschen s-Schreibung gilt das Stammprinzip, wonach der gleiche Wortstamm gleich geschrieben wird:

  • hassen – er hasst - Hass.

Ausnahmen (sowohl heysesche als auch adelungsche s-Schreibung):

  • verschiedene Endungen auf einfaches „s“ (z. B. Ergebnisse aber Ergebnis, nicht Ergebniss oder Ergebniß);
  • bei Wörtern aus starken Flexionsklassen, deren Wortstamm veränderlich ist (z. B. fließen → flossen, nicht floßen).

In der adelungschen s-Schreibung gilt das Stammprinzip nicht direkt:

  • hassen – er haßt - Haß

Es ist aber indirekt doch vorhanden, wenn man die Ligatur „ß“ als typographische Variante von „ss“ interpretiert. Im obigen Beispiel scheiden wegen des Stammprinzips also „er hast“ und „Has“ aus.

Kritik

Gefahr der Übergeneralisierung

Die heysesche s-Schreibung führt gelegentlich zur Übergeneralisierung[3], weil sie dahingehend missverstanden wird, als laute die zugrundeliegende Regel:

Nach kurzem Vokal folgt immer „ss“, nach langem Vokal oder Doppelvokal folgt „ß“.

Dieses Missverständnis führt zu neuen Schreibfehlern wie „Ausweiß“, „Kisste“ oder „Ohne Fleiß kein Preiß“.

Beispiele für die falsche Anwendung der heyseschen s-Schreibung sind seit der Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 vermehrt in der Presse und sogar in Schulbüchern zu finden, woraus sich die Kritik ergab, dass dies ein prinzipieller Nachteil der heyseschen s-Schreibung gegenüber der adelungschen s-Schreibung sei.

Kritiker dieses Standpunkts halten jedoch entgegen, dass sich nicht erklären lasse, worin die Ursachen für diese Entwicklung liegen. Eine drastische Zunahme von Rechtschreibfehlern sei nämlich in allen Bereichen der Orthographie zu beobachten, was darauf hindeute, dass nicht die heysesche s-Schreibung dafür ursächlich sei, sondern die starke Beschleunigung der Kommunikation insbesondere durch formlosere elektronische Medien wie E-Mail und SMS, in deren Folge das Bewusstsein für Orthographie generell stark abgenommen habe. Die Presse stehe zudem unter höherem Zeit- und Kostendruck und setze wesentlich weniger Korrektoren ein.

Es ist jedenfalls strittig, ob die heysesche s-Schreibung dazu beitragen kann, das korrekte Schreiben und flüssige Lesen gegenüber der etablierten adelungschen s-Schreibung zu vereinfachen, wie bei ihrer (Wieder-)Einführung mit der Rechtschreibreform von 1996 in Aussicht gestellt wurde. Nach Ansicht von Kritikern der Umstellung hätten die Vorteile zunächst wissenschaftlich belegt werden müssen, um den erheblichen Aufwand der Umstellung zu rechtfertigen.

Ausspracheunterschiede

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Aussprache einiger Wörter nicht überall im deutschen Sprachraum gleich sei und die heysesche Schreibweise daher vermehrt Doppelformen erfordere oder Fehler provoziere. Beispiele seien die „Maß Bier“, die in Bayern anders als im übrigen deutschen Sprachraum mit kurzem a gesprochen werde, sowie der „Spaß“, der in einigen Gegenden umgangssprachlich auch mit kurzem Vokal gesprochen werde. Damit sei die korrekte Schreibweise einiger Wörter regionalen Unterschieden unterworfen.

Um dieser Inkonsistenz zu begegnen, wurden neuerdings auch alternative Schreibweisen zugelassen; die 22. Auflage des Duden erlaubt jetzt in bayerischen Texten auch die Schreibweise „Mass“ und in österreichischen „Geschoß“ statt „Geschoss“.

Die Gegenkritik führt jedoch an, dass solcherlei Unterschiede auch unter der adelungschen Schreibweise bestehen, etwa beim Plural „Geschosse“ (österreichisch „Geschoße“). Zudem seien nur sehr wenige Wörter von dieser Problematik betroffen und diese als Teil des Dialekts anzusehen; im schriftlich niedergelegten Dialekt ergeben sich auch bei anderen Wörtern regelmäßig Unterschiede in der Schreibweise, etwa bayerisch „Preiß“ statt „Preuße“.

Lesbarkeit

Da nach der heyseschen s-Schreibung im Gegensatz zur adelungschen s-Schreibung auch am Wortende und an Wortfugen ein „ss“ auftreten kann, und weil der Buchstabe „s“ sehr häufig am Wortanfang steht, kommt es in zusammengesetzten Wörtern recht häufig zum Aufeinandertreffen von drei „s“, wie zum Beispiel in dem Wort „Missstand“, was nach Meinung von Kritikern schlechter lesbar ist als die Schreibweise „Mißstand“. Auch wenn das zweite Wort der Zusammensetzung mit einem anderen Buchstaben als „s“ beginnt, könne ein „ß“ die Binnengrenze (d.h. die Wortfuge) verdeutlichen und die Lesbarkeit verbessern, beispielsweise in den Wörtern „Messergebnis / Meßergebnis“ oder „Messingenieur / Meßingenieur“. [4] Zur Veranschaulichung der Problematik kann z.B. der Artikel „Messschieber“ dienen.

Dieses Problem trat in der ursprünglichen heyseschen s-Schreibung nicht auf, weil damals zwischen dem langen s („ſ“) und dem runden s („s“) unterschieden wurde. Am Wortende konnte nur das runde s stehen, das deshalb auch Schluss-s genannt wird und in zusammengesetzten Wörtern die Wortfuge kennzeichnet. Statt „Missstand“ und „Messergebnis“ schrieb man also „Miſsſtand“ und „Meſsergebnis“.

Siehe auch

Literatur

Quellen

  1. Wolfgang Scheuermann: Wie sah die alte Regelung aus? Darstellung der adelungschen Regel.
  2. Meldung der Nachrichtenagentur ddp, Anfang Juli 2005.
  3. Harald Marx: Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: Was ändert sich bei Grundschulkindern? – Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und pädagogische Psychologie, 31(4), S. 180–189.
  4. Theodor Ickler: Die sogenannte Rechtschreibreform - Ein Schildbürgerstreich. Leibnitz-Verlag, St. Goar, 1997, ISBN 3-931155-09-9, S. 14. (PDF 750 kB)