Begriff
Der Begriff Gehörlosigkeit ist umstritten. Es wird je nach dem, von verschiedenen Fachleuten anders definiert. Während der Volksmund Taubheit mit Gehörlosigkeit gleichsetzt, sind heute die meisten Fachleute der Ansicht, dass Gehörlosigkeit nicht mit Taubheit gleichzusetzen ist. Von Taubheit wird dann gesprochen, wenn die betroffene Person keine akustische Wahrnehmung mehr hat. Taubheit kann unilateral, d.h. auf nur einem Ohr vorkommen, freilich aber auch bilateral, d.h. beidseitig vorkommen.
Feststellung der Gehörlosigkeit
Gehörlosigkeit wird mit einem audiometrischen Verfahren festgestellt, dessen Ergebnis das Audiogramm ist. Aus diesem lässt sich der Grad der Hörbehinderung feststellen.
Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen
Gehörlosigkeit ist nicht mit den Begriffen hochgradiger Schwerhörigkeit oder hochgradiger Hörschädigung oder Resthörigkeit zu verwechseln. Bei diesen drei Begriffen handelt es sich um eine Hörbehinderung, bei denen akustische Reize mit Hörhilfen wie das Hörgerät oder das Cochlea Implantat wahrgenommen werden können. Dass Gesprochenes trotz Hörhilfen noch verstanden werden kann, bildet keine Voraussetzung. Tritt die Hörschädigung erst nach dem natürlichen Alter des Spracherwerbs auf (ca. 3. bis 5. Lebensjahr, je nach Quelle), spricht man von "postlingualer Ertaubung", zu Deutsch "Spätertaubung".
Entstehung des Begriffs
Das Wort gehörlos entstand erst nach der Einführung der allgemeinen Schulbildung tauber Kinder im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts als Begriff für einen Taubstummen, der durch eine unermüdliche Sprecherziehung entstummt worden ist. Daher hat das Wort die Bedeutung von "taub, aber sprechend" erlangt und taube Schulentlassene und Erwachsene werden als "Gehörlose" bezeichnet. Diese Wortbildung ist ungewöhnlich in deutscher Sprache (vgl. gesichtslos ist nicht gleich blind, geruchlos ist nicht unfähig des Riechens; daher schwer Eingang in der deutschen Sprache). Eine vergleichbare Wortbildung ist unter den westlichen Sprachen nur im Isländischen bekannt.
Der Begriff taubstumm ist diskriminierend. Das Wort "stumm" leitet sich etymologisch aus "dumm" ab. Die englischen Wörter "deaf and dumb" bedeuten taubstumm - auch sie werden nicht mehr gebraucht. Dumb hat die gleiche Bedeutung wie dumm oder blöd. Ausserdem können heute alle Gehörlosen bzw. taube Personen kommunzieren, ob in der Gebärdensprache oder in der Lautsprache. Daher ist im deutschen entweder der Begriff gehörlos oder aber (in sehr seltenen Fällen) taub zu verwenden, während man im Englischen den Begriff deaf verwenden sollte, wobei letzteres von Gehörlosen paradoxerweise mit immer grösserer Verbreitung gerne synonym von gehörlos verwendet wird. Solange es keine entsprechenden technischen Hilfsmittel und Schulen mit gezielter und umfassender Spracherziehung gab, hatten taube Menschen kaum Chance, sich verständlich zu äußern, wodurch die irreführende Bezeichnung "taubstumm" entstand. Man sollte lieber von "gehörlos" oder "taub" reden, da "taubstumm" von vielen als diskriminierend empfunden wird.
Sprache und Kommunikation
Wer gehörlos oder taub auf die Welt kommt, wird heute noch statistisch gesehen leider spät erfasst. Das statistische Erfassungsalter eines Säuglings liegt bei etwas mehr als 2 Jahren. Man bemüht sich heute im deutschen Raum, ein so genanntes Hörscreening einzuführen. Bei diesem Verfahren wird das Neugeborene ein oder zwei Tage nach der Geburt in der Klinik mit einer Hörsonde getestet, bei dem das Baby in der Regel schläft und nichts davon bemerkt.
Wer gehörlos oder taub oder in den ersten zwei Lebensjahren ertaubt, kann nicht wie normalhörende sprechen lernen. In der Regel haben sie durch die späte Erfassung eine verspätete Entwicklung des auditorischen Nervensystems. Das Kind ist daher nicht nur auf technische Hilfsmittel, sondern auch auf eine spezielle Hör- und Sprecherziehung, sog. auditiv-verbale Erziehung angewiesen, mit der - je nach Begabung und Übung - die mündliche Form der Lautsprache seiner Umgebung erlernt werden kann. Dazu werden heute Hörhilfen verwendet. Technische Hörhilfen sind das Hörgerät sowie die medizinisch-technischen Geräte Cochlear Implantat (CI) und Hirnstamm-Implantat (Auditory-Brainsteam Implantat, ABI).
Zum Verstehen der lautsprachlichen Informationen sind taube und viele gehörlose Personen auf das Lippenlesen und auf die technischen Hilfsmittel angewiesen. Da sowohl visuell von den Lippenstellungen wahrnehmbare Sprechtöne als auch die gehörten Töne nur bruchstückhaft wahrnehmbar sind, müssen taube und gehörlose Personen die übermittelte Information schnell zusammenraten und Hinweise aus dem Kontext der Umgebung und vorhergehenden Sätzen heranziehen, was bei größerem Umfang oder je nach Komplexität - z.B. einem Vortrag - sehr anstrengend oder unmöglich sein kann. Wer postlingual ertaubt ist, ist oft ebenfalls auf das Lippenablesen angewiesen. Die lautsprachliche Verständigung ist jedoch sehr individuell möglich. Während Cochlea-Implantat-träger - also nicht alle! - sogar telefonieren können, sind andere sehr stark auf das Lippenablesen angewiesen.
Sprachenstreit
Bezüglich der Sprache hat sich in Europa und in den USA ein so genannter Sprachenstreit entwickelt, den man in einem historischen Kontex sehen muss.
Als Ursprung der Sprachenstreit wird meistens der Mailänder Kongreß von 1880 zitiert - tasächlich aber bestand der Sprachenstreit schon einige Jahrhunderte vorher, aber der Mailänder Kongress stellte den Höhepunkt dar. An diesem Kongress entschieden sich die damaligen führenden Pädagogen, alle Gehörlosen lautsprachlich zu schulen, nämlich mit der so genannten oralen Methode. Bei dieser Methode wird der Gehörlose trainiert, zu artikulieren und von den Lippen ab zu lesen. Dies empfanden die Gehörlosen - zu Recht - als unterdrückend, nicht zuletzt weil ihnen oft die Hände hinter den Rücken gebunden wurden, um die Gebärdensprache zu unterdrücken. Es ist nicht erstaunlich, dass heute praktisch alle Fachleute den Entscheid und selbstverständlich die Nötigung, die Hände hinter den Rücken zu binden, kritisieren. Gehörlose wurden damals unterdrückt, und diese Unterdrückung hielt z.T. bis in die 60-er Jahre letzten Jahrhunderts an.
Auch die Medizin bzw. die Technik förderte diesen Trend, die orale Methode zu unterstützen. Anfang letzten Jahrhunderts wurden die ersten Hörgeräte erfunden, die allerdings weit davon entfernt waren, Gehörlosen eine Hilfe darzustellen. Zu dieser Zeit waren diese Geräte nur den Schwerhörigen eine Hilfe.
In den 50-er Jahren des letzten Jahrunderts wurde schliesslich in den USA und Kanada die so genannte auditiv-verbale Methode entwickelt, bei der Gehörlose nicht mehr nur artikulieren und Lippenablesen lernen, sondern vor allem das Gehör trainieren und der Input als Informationseingang des Sprachverstehens im Zentrum steht. Die wichtigsten vertreter der auditiv-verbalen Erziehung sind Warren Estabrooks (Kanada) und Susanna Schmid-Giovannini (Schweiz).
Doch erst mit der Entwicklung des Computerchips in den 70er-Jahren wurde es erstmals wirklich möglich, den Gehörlosen nicht nur akustische Reize erleben zu lassen, sondern auch wenigstens ansatzweise zu einem bruchstückhaften Verstehen der gesprochenen Sprache zu verstehen. Der Druchbruch gelang erst Ende der 70er Jahre, als die Hörgeräte sehr stark an Verstärkung gewannen und miniaturisiert worden. So kann erst seit Anfang der 80er-Jahren von einer echten auditiv-verbalen Therapie gesprochen werden, und als schliesslich das Cochlea-Implantat mitte 90-er Jahren sich auch bei Kindern etablierte, wurde die auditiv-verbale Methode bereits einiges vereinfacht, auch wenn nach wie vor viel Aufwand für die Erlangung der Lautsprache zu erbringen ist.
Trotz oder gerade wegen dieser technischen Entwicklung berufen sich manche Gehörlose vor allem seit Anfang der 80er-Jahre auf die Gebärdensprache auch als Definition ihrer kulturellen Angehörigkeit. Diese Gehörlose fühlen sich in der Regel nicht in die hörende Welt integriert und erleben die hörende Gesellschaft als Isolation. Daher benutzen diese Gruppe von Gehörlosen bevorzugt die Gebärdensprache, die auf rein visuellem Weg wahrgenommen werden kann. Die älteren gehörlosen Personen allerdings sind meist auf die Gebärdensprache angewiesen, da ihr auditorisches System sich nie entwickeln konnte - diese Entwicklung wird im 7. Lebensjahr fast gänzlich eingestellt.
Es gibt eine andere Gruppe von Gehörlosen, die der technischen und pädagogischen Entwicklung teilhaben konnten und sich in der hörenden Gesellschaft integriert fühlen. Diese Personen kommunizieren am liebsten in der Lautsprache, sie können oft die Gebärdensprache nicht. Dass alle Gehörlosen Gebärdensprache können, ist heute daher als Mythos anzusehen. Diese Personen in dieser Gruppe sind in der Regel nicht vor 1980 geboren, also noch jung. Vor allem aus diesen Personen ist denn auch während der 90-er Jahren eine Bewegung der lautsprachlichen Kommunikation entstanden, die im deutschsprachigen Raum in die Gründung von den Selbsthilfeorganisationen wie Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Schweiz (LKH Schweiz) (1994) und Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Deutschland (LKHD) (2000) mündeten.
Spätertaubte erleben den Ausfall des für die Kommunikation wichtigen Sinnesorganes als Schock. Meistens erfolgt die Verarbeitung der Ertaubung in 3 Phasen: Zuerst der Schock und die Trauer über den Verlust, dann Resignation und Isolation, manchmal mit Schamgefühlen einhergehend, dann schliesslich die Öffnung, die häufig mit dem Entscheid der konsequenten Benutzung der technischen Hilfsmittel wie das Hörgerät oder dem Cochlea-Implantat einhergeht.
Da taube, ertaubte und manche - nicht alle - gehörlosen Personen durch ihre Kommunikationsbehinderung in der Gesellschaft häufig isoliert sind, werden in allen drei Gruppen soziale Kontakte gern innerhalb von Gehörlosenkreisen gepflegt. Viele aus allen drei Gruppen kritisieren die mangelnde Anpassungsfähigkeit der Hörenden.
Kultur
Dabei haben sie für sich über Jahrhunderte hinweg eine eigene Kultur gebildet, wobei bemerkenswert ist, dass sie diese erst seit den frühen 1980er-Jahren proklamieren. Die Gründe dazu liegen in der mangelden Bildung und das dadurch minderentwickelte Bewusstsein der Gehörlosen früher.
Interessant ist ebenfalls die Feststellung, dass lautsprachlich kommunizierende Gehörlose keine eigene Kultur beanspruchen, sie leben überwiegend in der hörenden Gesellschaft.
Siehe auch: Gehörlosentheater
Interessensvertretung
Als politische, soziale und kulturelle Interessenvertretung der gebärdenden Tauben und gebärdenden Gehörlosen im deutschsprachigen Raum betrachten sich der Deutsche Gehörlosen-Bund, der Österreichische Gehörlosen Bund und der Schweizerische Gehörlosenbund.
Als politische und soziale Interessenvertretung im deutschsprachigen Raum für lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte betrachten sich Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Deutschland (LKHD) und Lautsprachlich Kommunizierende Hörgeschädigte Schweiz (LKH)
Historisches
Eine über privilegierte Einzelfälle hinausgehende pädagogische Zuwendung erfuhren die vormals "Taubstummen" erst seit 1771, als der Abbé Charles Michel de l'Epée die erste "Taubstummenschule" in Paris gründete.
In der Schweiz gründete 1777 der Pfarrer Heinrich Keller die erste kleine "Taubstummenschule", als er zwei taube Knaben in sein Pfarrhaus in Schlieren aufnahm. Zuvor wurde bereits 1664/1665 unter der Leitung des Logikprofessors Johann Lavater in Zürich eine wissenschaftliche Arbeit unter dem Namen „Die Lavater’sche Taubstummenschule“ über die physiologischen, theologischen und pädagogischen Aspekte des "Taubstummenproblems" als Dissertation zur Prüfung vorgelegt.
In Deutschland begann Samuel Heinicke 1769 in Hamburg, einzelne taube Schüler lautsprachlich zu unterrichten. 1778 übersiedelte er mit seiner Familie und 9 Schülern nach Leipzig und gründete das "Chursächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen".
Siehe auch:
Weblinks
Portale
- Taubenschlag - Portal für Hörgeschädigte in Deutschland
- Deafzone.ch - Kommunikationsplattform für Schweizer Hörgeschädigte
Selbsthilfeorganisationen
- für visuell orientierte Hörgeschädigte: DGB Deutschland ÖGLB Österreich SGB Schweiz
- für lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte: LKH Schweiz LKH Deutschland
- für Schwerhörige: pro audito Schweiz
Weitere Links
Literaturangaben
Siehe hierzu Literaturliste in Geschichte der Gehörlosen/Teil I