Soziobiologie

Evolutionsbiologisch orientierter Zweig der Verhaltensbiologie
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Die Soziobiologie ist ein Zweig der Evolutionsbiologie und beschäftigt sich mit der Erforschung der biologischen Grundlagen des tierischen und menschlichen Sozialverhaltens sowie seines adaptiven (= auf Anpassung ausgerichteten) Wesens im Entwicklungsprozess.

Im Gegensatz zur klassischen Ethologie (= Verhaltensforschung), die anhand von Beobachtungen, physiologischen und anatomischen Untersuchungen Einzelheiten des individuellen Verhaltens bzw. den Zusammenhang zwischen auslösenden Reizen und den sich anschließenden physiologischen Prozessen zu klären versucht, hat die Soziobiologie eine evolutionäre Fragestellung. Ausgehend von Forschungsergebnissen der Genetik, Ökologie und Populationsbiologie untersucht sie komplexe Formen des Sozialverhaltens und die Organisation von Gesellschaften. Dabei steht die Betrachtung des adaptiven Wertes von Verhaltensweisen als Bestandteil des Gesamtverhaltens einer Art im Vordergrund.

Die Soziobiologie geht von einer unbegrenzten Replikationstendenz (= Vermehrungstendenz) der Gene aus. Die in den Chromosomen jedes Zellkerns enthaltenen DNA-Molekülketten, deren einzelne Abschnitte jeweils die Information eines Gens speichern, haben die Fähigkeit und das Bestreben, ständig Kopien von sich selbst herzustellen. Gene zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu jedem sterblichen Körper Generationen überdauern können und über unendliche Möglichkeiten der Neukombination, vor allem bei geschlechtlicher Fortpflanzung, verfügen. Die Ausdrucksform des Genotyps (= Gesamtheit der Gene), der jeweils eine einmalige Verbindung von Genen darstellt, ist der Phänotyp, das heißt die sich aufgrund der im Genotyp enthaltenen Information ausprägenden Körpermerkmale des Individuums.

Der Phänotyp - und als einer seiner Aspekte das Verhalten - bildet den unmittelbaren Ansatzpunkt für den Selektionsprozess (= Auswahlprozess), der diesen im Hinblick auf seine Anpassung an die Erfordernisse der Umwelt bewertet. Gut angepasste Phänotypen zeichnen sich durch hohe Fortpflanzungsraten aus, das heißt ihre Gene können sich gegenüber den Genen weniger gut angepasster Phänotypen ausbreiten. Begünstigt werden Gene, die ihre Träger mit Verhaltensweisen ausstatten, mit denen sie die ihnen zur Verfügung stehende Zeit und Energie so einsetzen können, dass sie eine bessere Strategie im Kampf um knappe Ressourcen zur Verfügung haben als die mit ihnen konkurrierenden Individuen oder Artgenossen und sich dadurch Überlebens- oder Ausbreitungsvorteile sichern. Die Maßeinheit für die Eignung eines Gens ist folglich die Häufigkeit seiner Verbreitung in der nächsten Generation.

Die Soziobiologie hat gezeigt, dass Gene, nicht Gruppen oder Arten die Einheiten sind, an denen Selektion ansetzt, wie es die Vertreter der Gruppenselektionstheorie zu beweisen versucht haben, das heißt es werden nicht Verhaltensweisen begünstigt, die das Beste für eine bestimmte Gruppe oder Art zu erzielen versuchen, sondern Selektion findet am Individuum statt.

Die Soziobiologie bietet zur Erklärung der Entstehung altruistischer Verhaltensweisen verschiedene Ansätze an:

Kin-Selektion (Verwandtenselektion, Sippenselektion):
Die Gesamteignung eines Gens ist anhand zweier Komponenten ablesbar: 1. an der Eignung in einem Individuum selbst und 2. an der Verbreitung über Verwandte. Es muss folglich Strategie der Gene sein, ein Verhalten zu erzeugen, dass die Verbreitung und Eignung der Gene nicht nur individuell, sondern auch über Verwandte maximiert. Je näher zwei Individuen miteinander verwandt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie Träger gleicher Gene sind. Altruistisches (= nichtegoistisches) Verhalten gegenüber Verwandten steigert also die Verbreitung der eigenen Gene und ist umso lohnenswerter, je höher der Verwandtschaftsgrad ist. Alle Strategien zur Maximierung der Verbreitung von Individuen und ihrer Gene unterliegen immer wieder der Evolution und den auftretenden Umweltveränderungen, das heißt es handelt sich um einen dynamische Prozess.

Ein weiterer Erklärungsansatz ist das Konzept des reziproken Altruismus: Ein Helfergen kann sich durchsetzen, wenn es dem Helfer direkt zu Gute kommt und er durch dieses Gen auch Hilfsempfänger werden kann.

Soziobiologie des Menschen

Der Versuch, soziobiologische Erkenntnisse auf den Menschen zu anzuwenden, ist relativ neu. Die Komplexität menschlichen Handelns sowie das Vorhandensein einer ethischen und moralischen Ebene, die sämtliche Verhaltensweisen entscheidend beeinflusst, erschwert die Forschung. Dennoch hat sich die Soziobiologie bemüht, anhand von Untersuchungen menschlicher Gesellschaften zu zeigen, dass auch menschliches Verhalten einer natürlichen Auswahl unterliegt und Anpassungscharakter hat. Übereinstimmungen im Verhalten von Menschen verschiedener Gesellschaften deuten auf ein Vorhandensein biologischer Faktoren hin und können mit Hilfe der Evolutionstheorie erklärt werden. Während sich die konventionelle Soziobiologie zunächst nur mit der Analyse allgemeiner Verhaltensweisen, ihrer Bedeutung, ihren Vorteilen sowie ihrer genetischen Grundlage unter Einbeziehung der jeweiligen Umweltsituation beschäftigt hat, konnten viele Aspekte menschlichen Handelns erst durch die Theorie von der Gen-Kultur-Koevolution erklärt werden. Sie ermöglichte eine integrative Sicht von Biologie und Sozial- bzw. Humanwissenschaften.

Die Gen-Kultur-Koevolution versucht, den Widerspruch zwischen genetischer Bestimmung von menschlichem Verhalten und kultureller Entwicklung zu überwinden. Sie geht davon aus, dass eine Wechselwirkung zwischen genetischer Weitergabe von Verhalten und kultureller Informationsübertragung besteht. Die Entwicklung des menschlichen Geistes war ihrer Auffassung nach Ergebnis bestimmter genetisch gesteuerter physikalischer Prozesse. Dadurch wurde überhaupt erst die Ausbildung einer Kultur möglich, die ihrerseits wieder Rückwirkung auf die geistige Entwicklung des Menschen hatte. Ebenso wie genetisch festgelegte unterliegen auch kulturelle Verhaltensweisen einer natürlichen Auswahl, das heißt es gibt gut und weniger gut angepasste, wobei die aufgrund ihrer genetischen Anlagen besser angepassten Verhaltensweisen schließlich über ihre Träger und deren Gene mit größerer Häufigkeit verbreitet werden. Menschliche Kultur ist also Ergebnis positiver Selektion, das heißt gewisse geistige Fähigkeiten haben sich als förderlich im Sinne der Evolution erwiesen. Mit Hilfe seiner Kultur hat der Mensch Probleme wie Selbsterhaltung und Fortpflanzung besser lösen können und sich dabei Vorteile bei der Anpassung an vorgegebene Umweltbedingungen erworben. Dennoch unterscheiden sich genetische und kulturelle Evolution in wesentlichen Merkmalen. Bei der ersteren werden Erbinformationen über den Mechanismus der Fortpflanzung weitergegeben. Dies hat eine beständige, kontinuierliche, dafür wenig flexible Entwicklung und Anpassung zur Folge. Die kulturelle Evolution beruht auf erlernten Dingen sowie individuellen Erfahrungen, die im Gehirn gespeichert, verarbeitet, variiert und schließlich an die Nachkommen weitergegeben werden. Sie beeinhaltet dadurch die Möglichkeit zur größeren Flexibilität und schnelleren Anpassung, kann aber unbeständiger sein. Dies erklärt letztendlich die Vielfalt der Kulturen und die große Geschwindigkeit, mit der sich die menschlichen Entwicklung vollzogen hat. Man kann also festhalten, dass Kultur ebenso wie die genetische Weitergabe von Information durchaus im Dienste der erfolgreichen Fortpflanzung steht.


Kritik an und Grenzen der soziobiologischen Forschung

  • Streng genommen können die Erklärungsansätze nur auf angeborene Verhaltensweisen angewandt werden. Erlernte Verhaltensweisen sind nicht mehr allein einer biologischen Evolution unterworfen und benötigen andere Erklärungsansätze. So steht auch noch eine biologische Definition von Kultur aus (Ansätze finden sich in der Primatenforschung). Für bestimmte kulturelle Leistungen, die weder dem Individuum noch den übrigen Kulturtägern einen Vorteil verschaffen, ist die Diskussion noch lange nicht abgeschlossen (Beispiel: Kunst, Musik)
  • Mit dem Versuch einer Übertragung der Soziobiologie auf den Menschen erwuchs gleichzeitig auch eine scharfe Kritik an dieser Disziplin. Die Kritiker wandten sich gegen die Annahme einer genetischen Bestimmung menschlichen Verhaltens. Läge ein solcher vor, könnte er als Rechtfertigung für Phänomene wie Rassismus, Sexismus, Kapitalismus, Imperialismus und Sozialdarwinismus dienen und infolgedessen zur Legitimierung bestimmter politischer Ziele herrschender Klassen missbraucht werden. Dies ist jedoch keineswegs die Absicht der Soziobiologie. Sie bemüht sich um eine Erforschung des Wesens des Menschen und seines Sozialverhaltens allein auf der Grundlage wissenschaftlicher Beweiskraft ohne ethisch-moralische Bewertungen sowie politische Zielsetzungen.
  • Ein weiterer Streitpunkt war die angebliche Unvereinbarkeit zwischen Biologie und Geisteswissenschaften. Vertreter dieser Position waren der Auffassung, dass menschlicher Geist und menschliche Kultur außerhalb biologisch bestimmter Mechanismen existierten, also einen völlig selbständigen Komplex bildeten. Diese Ansicht konnte jedoch durch die Gen-Kultur-Koevolutionstheorie und zugunsten einer Bestätigung des Vorhandenseins einer intensiven Wechselwirkung zwischen biologisch vorgegebenen Verhaltenstendenzen und kulturellen Normen zurückgewiesen werden.
  • Dies gilt besonders dann, wenn altruistische Verhaltensweisen erlernt und damit unabhängig von den Genen tradiert werden. So hat man bei vielen Säuger- und Vogeltierarten in Zoos beobachtet, dass von Hand aufgezogene weibliche Tiere ihre Jungen nicht mehr oder gar nicht aufziehen können.

Literatur

  • E. O. Wilson: Sociobiology: the new synthesis, Cambridge 1978
  • Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Berlin 1978
  • Eckard Voland: Grundriss der Soziobiologie, 2000
  • Franz M. Wuketits: Was ist Soziobiologie?, 2002
  • Thomas P. Weber: Soziobiologie, 2003