Kritik der zynischen Vernunft ist ein Buch des deutschen Philosophen Peter Sloterdijk, das 1983 veröffentlicht wurde. Der Titel nimmt auf die 200 Jahre zuvor erschienene Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant Bezug und entstand anlässlich dieses Jubiläums.[1]
Der Essay beschreibt den Zynismus als ein gesellschaftliches Phänomen in der europäischen Geschichte. Sloterdijk nutzt den formalen Buchstabenwechsel vom antiken Kynismus zum neuzeitlichen Zynismus, um einen inhaltlichen Positionswechsel zu markieren. Dabei beschreibt er die zynische Vernunft unter philosophischen und sozialpsychologischen Aspekten als eine „Frechheit, die die Seite gewechselt hat“. Er zeichnet die Wirkungsgeschichte der Kantschen Kritiken und deren Interpretationen bis in die nahe Vergangenheit nach und versucht aufzuzeigen, dass Kants „kritisches Geschäft“ durch die Prämisse „Wissen ist Macht“ von Francis Bacon instrumentalisiert und schließlich ausgehebelt wurde.
Inhalt
In seinem Essay skizziert Sloterdijk den Kyniker der Antike und den Zyniker der Moderne zunächst als widerstreitende Figuren in einem spannungsgeladenen Machtverhältnis. Der Zyniker steht repressiv auf der Seite der herrschenden Kultur; der anarchistische Kyniker provoziert ihn von unten und führt ein „Dasein im Widerstand, im Gelächter, in der Verweigerung, in der Berufung auf die ganze Natur und das volle Leben.“[2][3] Diesem Typus entsprechend wird Diogenes von Sinope als „Erzvater“[4] und Friedrich Nietzsche als „Neo-Cyniker“ eingeordnet.[1]
Im Vorwort wird das Bild einer im Sterben liegenden Philosophie der Aufklärung entworfen, aus der sich die modernen Wissenschaften und politischen Theorien entwickelt haben. Programmatisch vorangestellt wird der Kritik eine Zynismus-Definition, deren Gehalt entwickelt werden soll:
„Zynismus ist das aufgeklärte, falsche Bewußtsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärung gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können. Gutsituiert und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik mehr betroffen, da seine Falschheit bereits reflexiv gefedert ist.“
Erster Band
Der erste Teil des ersten Bandes ist in fünf Vorüberlegungen gegliedert. Die erste zeichnet Kyniker und Zyniker als gegensätzliche Sozialcharaktere und gibt die Grundthese – Zynismus sei „aufgeklärtes falsches Bewusstsein“ – vor. Die zweite beschreibt Aufklärung als idealistisches Gespräch über die Wahrheit, das im Scheitern zu Ideologiekritik verkommt. Die dritte skizziert acht historische Fälle erfolgreicher Demaskierung mit aufklärerischen Mitteln: Kritik an der christlichen Offenbarung, an der religiösen Illusion, Kritik des metaphysischen Scheins, des idealistischen Überbaus (Marxsche Kritik), des moralischen Scheins, der Transparenz (Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten), des natürlichen Scheins (Jean-Jacques Rousseaus Naturalismus) und des privaten Scheins (Klassenbewusstsein als kollektives Ich). Das vierte handelt von Brüchen der aufklärerischen Praxis und das fünfte von der zynischen Vernunft auf der „Suche nach der verlorenen Frechheit.“
Der zweite Teil arbeitet an einer Psychosomatik des Zeitgeistes und beschreibt körperliche Erscheinungsformen des Zynismus. Als „philosophische Physionomik“ stellt diese Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Distanz der Objektbetrachtung die Intimität der Menschenkenntnis gegenüber und beschreibt im Kabinett der Zyniker verschiedene Zeit- und Sozialcharaktere mit archetypischen Zügen zynischen Bewusstseins.
Zweiter Band
Dem physionomischen Hauptstück im ersten Band folgen im zweiten ein phänomenologisches, ein logisches und ein historisches Hauptstück.
Das phänomenologische Hauptstück erstreckt sich über sechs Kardinalzynismen in Militär, Politik, Sexualität, Heilkunst, Religion und Wissen (Theorie) sowie drei Sekundärzynismen – die Minima Amoralia (mit Verweis auf Adornos Minima Moralia), den Informationszynismus und den Tauschzynismus. In diesem Abschnitt gibt Sloterdijk seine Parteinahme auf und „verfolgt nur die verschlungenen Wege, in denen die Bewusstseinsformen einander gegenüberstehen, sich aneinander reiben und gegenseitig relativieren.“ Dabei zeigt sich Zynismus als „Immunschutz des Bewußtseins, das nur auf diese Weise seine Ideale hochhalten und gleichzeitig sich die Hände schmutzig machen muß.“[5]
Das logische Hauptstück hinterfragt die Motive aufklärerischer Neugier, betreibt somit eine „Aufklärung der Aufklärung“ und entwirft schließlich eine transzendentale Polemik als pragmatische Erkenntnistheorie.
Das historische Hauptstück beschäftigt sich mit der Weimarer Republik und versucht, den Charakter einer Epoche herauszuarbeiten, „dessen erster Erbe der Faschismus war und dessen zweiter Erbe wir Heutigen sind.“[6] Als Weimarer Symptom beschreibt Sloterdijk darin Bewusstseinsmodelle der deutschen Moderne in einer Zeit des geistigen Werteverfalls. Im Dadaismus „zeigt sich der erste Neo-Cynismus, die kombattante Kunstform der Unterprivilegierten, der Ironiker, Zweifler und Zyniker.[5] Seine Analyse geht einher mit einer Aufdeckung der Spielarten von Ironien und Sarkasmen aller Lager der Zwischenkriegszeit und deren gegenseitiger Aufhetzung.
Im Schlusskapitel macht Sloterdijk darauf aufmerksam, dass er ein Gelingen nicht als allein äußere Tatsache betrachtet, sondern als Eingebettetsein in ein sich ständig selbst organisierendes und erneuerndes Ganzes, das von Menschen aus eigener Einsicht und eigenem Antrieb geschaffen wird.
Zitate
- „Der moderne Zyniker ist ein integrierter Asozialer, der es an unterschwelliger Illusionslosigkeit mit jedem Hippie aufnimmt. […] Es ist die bei aufgeklärten Leuten allgemein verbreitete Form, darauf zu sehen, daß sie nicht die Dummen bleiben. […] Psychologisch läßt sich der Zyniker der Gegenwart als Grenzfall-Melancholiker verstehen, der seine depressiven Symptome unter Kontrolle halten und einigermaßen arbeitstüchtig bleiben kann.“[6]
Rezeption
Das Buch wurde von zahlreichen Kritikern gelobt und Sloterdijk als philosophischer Schriftsteller vom Range eines Arthur Schopenhauer bezeichnet. Die Kritik der zynischen Vernunft wurde zum Bestseller. Bis 1988 wurden über 50.000 Exemplare verkauft. Der Suhrkamp-Verlag gab 1987 eine Sammlung mit Beiträgen von Wissenschaftlern heraus, die sich zum Phänomen Zynismus psychologisch, soziologisch, historisch und philosophisch äußern.
In Kindlers Literatur Lexikon wird die Kritik der zynischen Vernunft als Versuch einer „neuen Vernunftkritik“ im Sinne Kants bezeichnet. In Anlehnung an die Dialektik der Aufklärung konstatiere Sloterdijk, dass das Glücksversprechen der Aufklärung am Primat der „instrumentellen Vernunft“ gescheitert sei. Von den Schranken der Moral gelöst sei strategisches Denken dann in Zynismus umgeschlagen. Nach einer Beschreibung der historischen Erscheinungsformen, Voraussetzungen und Grenzen der zynischen Vernunft plädiere Sloterdijk schließlich für ein „Dasein im Widerstand“, um sich als „vollvernünftig-lebendige Wesen“ zu erhalten.[7]
Der Literaturkritiker Martin Lüdke schrieb 1985 in der Zeit, Sloterdijk sei es mit seiner Kritik der zynischen Vernunft gelungen, „die Philosophie aus ihrem akademischen Getto zu befreien und wieder in die öffentliche Diskussion einzubringen.“ Außerdem habe er es zum Teil geschafft, „die Linke aus ihrer resignativen Erstarrung zu lösen und wieder zu (re)mobilisieren – für das unvollendete Projekt der Aufklärung.“[8]
Im Spiegel beanstandete der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel 1983, dass sich Sloterdijk nicht mit einem Porträt des Zynismus begnügt habe, sondern in seinem „Ehrgeiz, die Hypothek eines tönenden Buchtitels abzutragen“ über die Darstellung hinaus einen „Schuldigen, den Beweis der Schuld und ein Heilmittel“ zu präsentieren sucht: „So schön, luzide und sympathisch sein kulturkritischer Essay ist, so falsch, anmaßend und, wie soll man sagen, zynisch ist der größte Teil seiner philosophischen Argumentation.“[9]
Der Germanist Klaus Laermann veröffentlichte 1988 unter dem Titel Von der Apo zur Apokalypse eine Polemik gegen Sloterdijks Buch. Die zentrale Gegenüberstellung von antikem Kynismus und modernem Zynismus sei bereits in den 1960er Jahren vom Religionsphilosophen Klaus Heinrich formuliert worden.[10]
Nachklapp
35 Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der zynischen Vernunft fasst Sloterdijk seine Betrachtung des zynischen Bewusstseins in der Neuen Zürcher Zeitung noch einmal zusammen und weitet sie auf das beginnende 21. Jahrhundert aus. Dabei skizziert er den modernen Zynismus als vierte Form eines falschen Bewusstseins nach Irrtum, Lüge und Ideologie. Rückblickend ordnet er seinen philosophischen Bestseller[11] als kritische Auseinandersetzung mit der Ideologiekritik à la Horkheimer, Adorno und Habermas ein. Deren Prämisse sei „ein falsches Bewusstsein – eine Art Wahrnehmungsverzerrung – die Menschen in modernen Industriegesellschaften gefangen hält.“ Sloterdijk konfrontiert sie mit der Einsicht, dass sich Machtverhältnisse nicht durch Kritiken aus der Welt schaffen lassen, schließlich gäbe „keinen herrschaftsfreien Diskurs, wohl aber die Enttäuschung darüber, dass es keinen gibt. Und so schlägt der kritische Impuls irgendwann in Zynismus um.“[12] Folglich ist Zynismus „das aufgeklärte falsche Bewußtsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat.“[13]
Literaturnachweis
Ausgaben
- Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bände. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11099-3.
- Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1 Band, 960 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-12427-7.
Sekundärliteratur
- Otto Kallscheuer u. a.: Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“ Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 ISBN 3-518-11297-X
- Marco Fuhrländer: Kritik der zynischen Vernunft. In: Joachim Kaiser (Hg.): Das Buch der 1.000 Bücher. Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung. Dortmund: Harenberg 2002, ISBN 3-611-01059-6, S. 1007 f.
Rezensionen
- Jochen Stremmel: Rektor gar. In: Konkret. Zeitschrift für Politik und Kultur. Heft 11/2009.
Weblinks
- Gespräch mit Peter Sloterdijk über sein Buch „Kritik der zynischen Vernunft“ von 1983 (Wien, 1986), Audioaufnahme Österreichische Mediathek
- „Zynismus – das modernisierte unglückliche Bewusstsein“, Auszüge des Kapitels über den „Informationszynismus“, gelesen von Falk Rockstroh[14]
Einzelnachweise
- ↑ a b Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1. Auflage. Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11099-3, S. 2–31.
- ↑ Cheng Guo: Zynismus bei Nietzsche. Eine systematische Auslegung seiner Umwertung aller Werte. De Gruyter, Berlin/Boston 2022, ISBN 978-3-11-075141-3, S. 10 (google.de).
- ↑ Thomas Anz: Vom Kyniker zum Zyniker. Peter Sloterdijks Wende: eine Verteidigung und eine Kritik seiner Dialektik des Humanismus. In: Literaturkritik.de. 1. Oktober 1999, abgerufen am 17. April 2023.
- ↑ Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1. Auflage. Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11099-3, S. 33–43.
- ↑ a b Holger von Dobeneck: Das Sloterdijk-Alphabet: eine lexikalische Einführung in Sloterdijks. 2. Auflage. Königshausen & Neumann, Würzburg 2006, ISBN 3-8260-2784-1, S. 140.
- ↑ a b Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1. Auflage. Band 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-11099-3, S. 36–37.
- ↑ Engelbert Habekost: Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kindlers Literatur Lexikon (KLL). J.B. Metzler, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-476-05728-0.
- ↑ Martin Lüdke: Ein unbeschriebenes Blatt. In: Die Zeit. 26. Juli 1985, archiviert vom am 22. Februar 2016; abgerufen am 17. April 2023.
- ↑ Reinhard Merkel: Imperiale Gebärde, rasante Gedanken. In: Der Spiegel. Nr. 24/1983, 12. Juni 1983, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 17. April 2023]).
- ↑ Klaus Laermann: Von der Apo zur Apokalypse. Resignation und Fröhliche Wissenschaft am Beispiel von Peter Sloterdijk, in: ,Postmoderne' oder Der Kampf um die Zukunft, Hg.: P. Kemper. 1988, S. 207–230.
- ↑ Mit 150.000 verkauften Exemplaren wurde die Kritik der zynischen Vernunft zum erfolgreichsten philosophischen Werk nach 1945. (Heike Mund: Streitlustiger Denker – Der Philosoph Peter Sloterdijk wird 70. In: Deutsche Welle. 26. Juni 2017, abgerufen am 17. April 2023. )
- ↑ Peter Sloterdijk: 35 Jahre nach der «Kritik der zynischen Vernunft»: Peter Sloterdijk seziert das zynische Bewusstsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Neue Zürcher Zeitung. 29. Dezember 2018, abgerufen am 17. April 2023.
- ↑ Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Surkamp, Frankfurt am Main 1983, S. 37.
- ↑ Hans Högl: Kritik an „Informationszynismus“. In: Vereinigung für Medienkultur. 7. Dezember 2021, abgerufen am 17. April 2023 (deutsch).