Der Ausdruck Automatischer Text oder Automatisches Schreiben (franz.: Écriture automatique) bezeichnet eine Methode des Schreibens, bei der durch Entäußerungen und Introspektion in die Psyche Bilder, Gefühle und Ausdrücke unreflektiert in schriftlicher oder akustischer Form wiedergegeben werden. Es dürfen sowohl Sätze, Satzstücke, Wortketten, oder einzelne Wörter geschrieben und auch Fehler gemacht werden und es muss nicht auf die Regeln der Orthografie, der Grammatik und der Interpunktion Rücksicht genommen werden.
Ursprung
Die Ursprünge des „automatischen Schreibens“ gehen auf die Psychologie zurück. Der Begriff der „écriture automatique“ wurde um 1900 von Pierre Janet, einem Psychiater im Rahmen seiner therapeutischen Versuche geprägt. Die Methode wird verwendet, um den Schreibstart zu erleichtern oder um Schreibblockaden abzubauen. Durch den unterbewusst gesteuerten Schreibfluss erhält der Schreiber neue Ideen bzw. neue Kombinationen von Ideen oder Assoziationen. Teilweise werden so unterbewusste Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet.
Surrealismus
Bekannt wurde diese Form des Schreibens besonders durch die Künstler der Surrealisten-Gruppe um Andre Breton in Paris in den 1920er Jahren, die das Konzept auf die Literatur übertrug. Die Surrealisten versuchten, die unbewußten, traumhaften und spontanen Elemente der menschlichen Eingebung zu untersuchen, als ein Spiel des unbewußten Geistes.
Erstes Werk der Écriture automatique war "Les Champs magnétiques" (Die magnetischen Felder, 1919) von Andre Breton und Philippe Soupault.
Breton hat die "écriture automatique" als "Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft" beschrieben, als Vorgang, bei dem das Schreiben dem Denken unzensiert folgt, ihm gleichsam hinterherläuft. Am ehesten soll dies gelingen, wenn man sich nach dem Aufwachen, noch im Halbschlaf an den Schreibtisch setzt und die im Dämmerzustand formulierten Sätze sogleich aufschreibt, sozusagen "unbewusst" oder "an der Schwelle des Traums". Im "Ersten Surrealistischen Manifest" gab Breton 1924 Anweisungen zur Nachahmung:
- „Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selbst konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, daß die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. (...) Fahren Sie so lange fort, wie Sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit des Raunens. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, weil Sie auch nur den kleinsten Fehler gemacht haben: einen Fehler, könnte man sagen, der darin besteht, daß Sie es an Unaufmerksamkeit haben fehlen lassen - brechen Sie ohne Zögern bei einer zu einleuchtenden Zeile ab. Setzen Sie hinter das Wort, das Ihnen suspekt erscheint, irgendeinen Buchstaben, den Buchstaben l zum Beispiel, immer den Buchstaben l, und stellen Sie die Willkür dadurch wieder her, daß Sie diesen Buchstaben zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes bestimmen.“
Das automatisch Niedergeschriebene diente nicht zur Erstellung von Psychogrammen, zur Heilung von Krankheiten oder zur Überwindung von Spaltungen, sondern postulierte diese, um sie als Voraussetzung für eine neue Art der Kreativität zu nutzen. Breton berichtete, er habe diese Technik eingesetzt, nachdem er einmal beim Einschlafen visuelle und akustische Erscheinungen gehabt habe:
- "Ganz beschäftigt mit Freud, wie ich es damals noch war, und vertraut mit seinen Untersuchungsmethoden, die ich während des Krieges gelegentlich bei Kranken hatte anwenden können, beschloß ich, von mir selbst zu erlangen, was man von ihnen zu erhalten sucht: nämlich einen so schnell wie möglich fließenden Monolog, über den der kritische Verstand des Subjekts kein Urteil fällt, der sich infolgedessen keinerlei Verschweigung auferlegt und genauso wie gesprochenes Denken ist."
Neben ihren automatischen Methoden knüpften die Surrealisten auch in ihren Traum- und Hypnose-Experimenten unmittelbar an die Psychoanalyse Sigmund Freuds an. Dieser nutzte die freie Assoziation als "verbale Zauberleiter" zu den Quellen des Unbewussten. Regelmäßig erschienen in der Zeitschrift Littérature Traumprotokolle der Surrealisten, beispielsweise wurde darin das Protokoll einer Séance veröffentlicht, in der René Crevel, Robert Desnos sowie Benjamin Péret „wie richtige Automaten, getrieben von prophetischer Raserei, in Raserei, in Trance reden, schreiben und zeichnen“.
Vorläufer
Die automatische Schreibweise in der Literatur war allerdings keine Erfindung der Surrealisten, Breton systematisierte mit der écriture automatique eine Schreibtechnik, die auch schon bei den Schamanen praktiziert, von Goethe in "Dichtung und Wahrheit" als "nachtwandlerischen Dichten" geschätzt und von Achim von Arnim eingesetzt wurde, um dem Druck der Reflexion zu entkommen.
Als Vorläufer der "écriture automatique" wird oft auch der französische Dichter Lautréamont mit seinen "Gesängen des Maldoror" genannt.
In der Literaturgeschichte gab es die unterschiedlichsten Versuche, der sprachlichen und ästhetischen Kontrolle einen möglichst freien und unzensierten Ausdruck innerer Vorgänge entgegenzusetzen. Eine ähnliche Schreibweise wird etwa schon vom jüdisch-griechischen Philosophen Philo von Alexandria berichtet, der ein Zeitgenosse Jesu war.
Nachfolger
Die surrealistische Künstlerin Unica Zürn entwickelte in ihrer Anagramm-Methode eine modifizierte Variante des automatischen Schreibens.
Die Methode findet auch im Magischen Realismus und der Neuen Sachlichkeit Anwendung.
Jack Kerouac, Mitbegründer der amerikanischen Subkultur der Poesie, baute das automatische Schreiben der Surrealisten aus und schuf so seine Romane "Unterwegs" (1957) und "Gammler, Zen und hohe Berge" (1958). Er beschrieb das Schreiben als Zustand spontaner Wahrnehmungskonzentration, den er mithilfe der Zen-Meditation förderte. In der amerikanischen Schreibbewegung nimmt das "freewriting" immer noch einen wichtigen Platz ein.
Eine andere Form des automatischen Schreibens stellt die Produktion von Literatur durch Computerprogramme dar. Seit den 60er Jahren bibt es Programme, die "von selbst dichten", also automatisch schreiben.
Literatur
- Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: Ders., Angelus Novus, Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1961
- André Breton, Manifest des Surrealismus (1924), in: Der Surrealismus, Hg. Patrick Waldberg, übersetzt von Ruth Henry, Köln (Dumont) 1965
- André Breton, Das Manifest des Surrealismus, in: Ders., Die Manifeste des Surrealismus, übersetzt von Ruth Henry, Reinbek (Rowohlt) 1967
- André Breton, Der Surrealismus und die Malerei (1928 und 1945), in: Der Surrealismus, Hg. Patrick Waldberg, Köln 1965
- André Breton, Was der Surrealismus will, 1953, in: Ders., Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek (Rowohlt) 1976, übersetzt von Ruth Henry
- André Breton und Paul Eluard: Bemerkungen zur Poesie, in: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hg. Günter Metken, 1. Aufl. Stuttgart 1976, 3. Aufl. Hofheim 1983, zuerst in: La Revolution Surrealiste Nr. 12, Dez. 1929
- Xaviére Gauthier, Surrealismus und Sexualität. Inszenierung der Weiblichkeit, Wien/Berlin 2. Aufl. 1980 (Paris 1971)
- Unda Hörner, die realen Frauen der Surrealisten. Simone Breton, Gala Eluard, Elsa Triolet, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988 (zuerst Bollmann, Mannheim, 1996)
- The Surrealists Look At Art, Eluard, Aragon, Soupault, Breton, Tzara, Hg. Pontus Hulten, Venice/Ca. (The Lapsis Press) 1991
- Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München (Fink) 1985, 3., vollständig überarbeitete Neuauflage 1995
- Regina Mundel, Bildspur des Wahrnsinns. Surrealismus und Postmoderne, Hamburg (eva) 1997
- Tristan Tzara, Versuch über die Lage der Poesie, in: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hg. von Günter Metken, 1. Aufl. Stuttgart 1976, 3. Aufl. Hofheim 1983