Ganzheit

etwas, das mehr ist als die Summe seiner einzelnen Bestandteile
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Die Betrachtung und Behandlung eines Themas, eines Gegenstandes oder einer Beziehung in seiner Ganzheit oder ganzheitlich meint eine umfassende, weitsichtige und weit vorausschauende Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte und Zusammenhänge:

Die ganzheitliche Betrachtungsweise ist wissenschaftlich in der Systemtheorie beschrieben, also der ganzheitlichen Analyse und Vorhersage von vielen komplex miteinander interagierenden Einzelkomponenten.

Ganzheitliche Wahrnehmung

Konrad Lorenz veranschaulicht die Wahrnehmung der Ganzheit einer Sache bevorzugt als Gestaltsehen oder Gestaltwahrnehmung. Damit will er die einbeziehende Wahrnehmung nicht offensichtlicherassoziativ verbundener – Elemente oder Eigenschaften des Gegenstands ausdrücken, die gleichwohl zu seinem Wesen, seiner Bedeutung und Wirkung beitragen. Die dadurch erscheinende Gesamtgestalt „hinter der Gestalt” sei die „eigentliche”, immer mitzusehende, tatsächlich in der (Um-)Welt wirksame und zu behandelnde Gestalt, die alle Wirkungen beinhalte (siehe oben).

Eine ähnliche Wahrnehmungsweise wird in der Kunst durch so genannte Gesamtkunstwerke angesprochen.

In der Philosophie gibt es mehrere Ansätze, um das Wesen, die Gesamtheit einer Sache oder eines Begriffs a) zu erfassen und b) zu beschreiben. Die Dialektik ist ein Oberbegriff für solche Methoden, die fordern, in sich ergänzenden Gegensatzpaaren zu denken und zu forschen: das Oben und Unten, das Gestern und die Zukunft, pro und contra, Interessensgegensätze u.a.m.

Ganzheit bildet auch eine zentrale Kategorie der so genannten Gestaltpsychologie, eine Richtung der geisteswissenschaftlich ausgerichteten Wahrnehmungspsychologie. Der Neurologe und Psychiater Kurt Goldstein formulierte als erster eine Theorie der Ganzheit des Organismus, basierend auf der Gestalttheorie.

Ganzheitliche Medizin

Die ganzheitliche, holistische und alternative Medizin erstrebt ein ausbalanciertes Zusammenspiel von körperlichen, emotionalen, mentalen und geistigen Aspekten. In systemischen Prozessen und durch Denken in Kreisprozessen werden Getrenntsein und Polaritäten (Yin und Yang) überwunden. Diese Perspektive wurde im Wesentlichen in Asien entwickelt und auch im indigenen Heilwesen anzutreffen.

Dem gegenüber steht die vor allem in Europa entstandene Trennung von Physiologie und Psychologie, aber auch Philosophie und Spiritualität, welche sich jeweils auf einen Teil der Gesundheit spezialisiert haben und diesen kausal beschreiben. Auch in der (universitären) Schulmedizin hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass diese Trennung von Körper, Geist und Seele (Soma und Psyche) oft nicht geeignet ist, alle Aspekte von Kranksein zu erfassen, und dass eine Therapie, die diese Trennung nicht überwindet, zwar Lebensdauer verlängern kann, aber nicht unbedingt Lebensqualität schafft. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die psychosomatische Medizin entstanden, deren Erkenntnisse in den letzten Jahren auch andere medizinische Fachgebiete zunehmend durchdringen.

Als Gegenbewegung sind neben der ganzheitlichen Medizin auch esoterische Modelle zu sehen. Zunehmend werden auch schamanische Traditionen wiederentdeckt und integriert (schamanische Technik). Der Begriff „ganzheitlich” wird häufig verwendet im Sinne von nicht die Krankheit, das Symptom oder ein bestimmter Aspekt wird behandelt, sondern symptomunabhängig, „der Mensch als Einheit aus Körper, Geist und Seele wird (wieder) ins Gleichgewicht gebracht”.

Der Begriff „ganzheitlich” wird vielfach auch aufgrund seiner Werbewirksamkeit von unzulänglich ausgebildeten Therapeuten in Anspruch genommmen. Diese machen sich zunutze, dass die meisten Erkrankungen, weswegen Patienten sie aufsuchen, nicht bedrohlich sind und auch ohne therapeutisches Zutun von selbst verschwinden können. Dies betrifft sowohl "alternative" als auch für ganzheitlich orientierte "schulmedizinisch" ausgebildete Therapeuten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Herangehensweisen ist das Nebenwirkungsspektrum der Methoden. In der Regel ist die unangebrachte Gabe eines Antibiotikums (beispielsweise bei einem banalen Virusinfekt) gefährlicher als die Gabe eines homöopathischen Medikaments.

Ganzheitlich hinsichtlich der Emotionen

Da zum Menschsein außer Körperlichem und Geistigem ganz wesentlich der emotionale Bereich gehört, ist Ganzheit auch hier ein günstiges Lebensprinzip. Wie zum Beispiel Schulz von Thun darlegt, ist das Integrieren der eigenen Gefühlswelt auch in Denk- und Entscheidungsprozesse vorteilhaft und dem Wohlbefinden förderlich. Zwar werden (unangenehme) Gefühle oft als sehr störend empfunden, doch sind sie ein wichtiges Signal für unerfüllte Grundbedürfnisse und ermöglichen einen besseren Umgang mit guten und schwierigen Situationen.

Andererseits nimmt durch Äußern von Gefühlen und Aufmerksamkeit für körpersprachliche Signale auch die Kommunikation an Qualität zu. Je intensiver eine zwischenmenschliche Beziehung ist, desto mehr kann die Begegnung an Tiefe gewinnen (meist auch an Freude) und lässt gegenseitiges Verständnis und Begegnungsbereiche zunehmen.
„Nebenbei” ist das Einüben dieser Ganzheitlichkeit für Ehe- und andere Paare ein gutes Mittel, die Beziehung zu stabilisieren, die Liebe wachsen zu lassen und Konflikte fruchtbringend auszutragen.

Zwar gilt dies auch für das Berufsleben, doch ist hier die Offenheit, über Emotionen zu sprechen, gegen das Risiko von Verletzungen abzuwägen. Auch Management-Seminare betonen immer wieder, wie sehr ein emotional-ganzheitlicher Umgang miteinander nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Arbeitsfreude und Leistungsfähigkeit vermehrt. Daher erwartet man von Führungskräften neben der Kompetenz vermehrt die so genannte emotionale Intelligenz.

Ganzheitliches Denken (Debatte)

Ganzheitlicher Umgang erfordert eine komplexe, multilinear vernetzte, hoch-assoziative Denkweise, in der die Intuition als Motor eine wichtige Rolle spielt. Daraus ergibt sich, dass eine gewisse Intelligenz und Bildung zwar erforderlich, aber nicht hinreichend sind.

Aus der Fähigkeit zu diesem Denken eine weltanschauliche Überlegenheit abzuleiten, wäre wohl einseitig gedacht. Vorgeblich ganzheitliches Denken wähnt sich häufig auf Kriegsfuß mit „monolinearem” Kausaldenken. Dies ist zunächst zweifelhaft: Auch Kausaldenken funktioniert assoziativ und greift auf bisherige Erfahrungen und Erkenntnisse zurück. Es hat damit auch ein kreatives Potential, nur in einer effizienter auf schnelle Resultate ausgerichteten Fokussierung. Daher wäre Fokusdenken eine treffendere Bezeichnung.

Andererseits ist Ganzheitliches Denken in der Regel ebenfalls kausal. Wer also, wie es gegenwärtig vor allem im Umfeld von Frauenbewegungen und neuen sozialen Bewegungen Mode ist, „typisch männliches” Kausaldenken als „archaisch” diffamiert und „typisch weibliches”, vernetztes Denken als „moderner” betrachtet, der begeht selbst den von ihm belächelten Fehler: überspitzte Polarisierungen sind oft einseitig und unzutreffend.

Darüber hinaus wird damit eine gänzlich unangebrachte Gegensätzlichkeit aufgebaut, da beide Denkweisen ihre richtigen und falschen Momente haben. Ganzheitliches Denken gehört in Analyse- und Konzeptionsphasen, während eine „klare Linie” in Synthese-, Entscheidungs- und Umsetzungsphasen gehört. Nur beides zusammen, synergetisch kombiniert, führt zu optimalen Ergebnissen. Ganzheitliche Bedenken erst in Umsetzungsphasen anzumelden (ein häufiges Phänomen), kommt viel zu spät und ist vor allem dann kontraproduktiv, wenn kein oder ein zu spätes Resultat schlimmer wären, als ein falsches. Wo dies nicht eingesehen wird, liegen keine „höheren Erkenntnisse” vor, sondern eher „niedere Instinkte”: Dominanz ist da im Fokus.

Ein berechtigter Einwand in diesem Zusammenhang ist, dass auch Entscheider verstehen und akzeptieren müssen, Probleme nicht allein lösen zu können, und die rechtzeitige Einbeziehung vernetzter Denkweisen in konzeptionelle Phasen organisatorisch ermöglichen und fördern müssen.

Literatur

  • A. Harrington: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren. Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung. Rowohlt, New Jersey und Reinbek 2002 (zur Geschichte des Ganzheitsbegriffs in Deutschland)
  • Gabriele Stier: Verwendungsweisen des Begriffs der „Ganzheitlichkeit” in der Pädagogik. Eine Problematisierung. Dissertation, Universität Passau 2002 (Volltext)

Siehe auch