Unter Erzähler oder Erzählerin versteht man im Allgemeinen einen Schriftsteller oder Autor, dessen Werk hauptsächlich aus Romanen, Novellen und Erzählungen besteht.
Viele Kulturen kennen den Erzähler als einen Menschen, der u.a. Sagen und Volksmärchen seiner Gesellschaft auswendig kennt und vorträgt.
Der Erzähler in Romanen und Erzählungen
Bei autobiographischen Texten, beispielsweise dem Buch "Mein Leben" von Marcel Reich-Ranicki, kann man davon ausgehen, dass die Person, um deren Lebenserfahrungen es in dem Text geht und die Person, die sich mit "ich" zu Wort meldet sowie die Person, die den Text geschrieben hat, miteinander identisch sind.
Wenn man sich dagegen mit Texten beschäftigt, die erfundene Personen und eine erfundene Handlung präsentieren, sieht die Sache vollkommen anders aus. Beispielsweise handelt es sich bei dem "Felix Krull"-Roman von Thomas Mann um einen Roman, der aus einer Ich-Perspektive geschrieben ist. Bei der Person, die sich mit "ich" zu Wort meldet, handelt es sich jedoch nicht um Thomas Mann, sondern um eine Person, die von Thomas Mann erdacht worden ist und von ihm den Namen "Felix Krull" bekommen hat.
Bei fiktionalen Texten muss man durchgängig davon ausgehen, dass die Figur, die als Erzähler auftritt, in gleicher Weise vom Autor erfunden wurde wie auch die handelnden Personen. Diese Erzähler-Figur stellt eine vermittelnde Instanz dar. Sie kann im Text mehr oder weniger deutlich spürbar sein oder sogar scheinbar ganz hinter dem Erzählten zurücktreten. Wenn Literaturwissenschaftler sich mit den Erzähler-Figuren von Romanen und Erzählungen beschäftugen, dann unterscheiden sie nach Erzählform und Erzählperspektive. Es gibt außerdem den Begriff der Erzählhaltung. Damit ist die (wertende) Position gemeint, die der Erzähler zu seiner Erzählung einnimmt.
Besonders in modernen Romanen verfügen die Autoren über viele Möglichkeiten mit dem Leser zu "spielen". Es ist geradezu kennzeichnend für moderne Literatur, dass die Erzählerfigur problematisiert wird. Typisch (und für den Leser verwirrend) ist z. B. der häufige Wechsel des Erzählers, wie sie etwa Uwe Johnson in seinen Romanen praktizierte. Eine andere Möglichkeit ist es, eine Identität von Autor und Erzähler zu behaupten. Alfred Döblin hat zum Beispiel in seinem Roman Berlin Alexanderplatz eine Formulierung wie "so wahr ich Alfred Döblin heiße" untergebracht. Soetwas kann allerhand Diskussionen auslösen. Wenn der Autor in seinem Roman seinen eigenen Namen anführt, handelt es sich dann um einen Roman, bei dem Autor und Erzähler identisch sind? Man kann darauf so antworten: In dem Roman geht es um die fiktive Geschichte einer fiktiven Person namens Franz Biberkopf. Wenn in dieser fiktiven Geschichte einer auftritt, der sagt, dass er mit Franz Biberkopf gut vertraut ist, dann muss er selber ein Teil der fiktiven Welt sein und kann daher nicht identisch mit Alfred Döblin sein. Diese Möglichkeit, das Verhältnis von Autor und Erzähler und damit von Realität und Fiktion zu problematisieren heißt "mise en abîme", wörtlich übersetzt "in einen Abgrund stellen".
Erzähler-ähnliche Figuren in Dramen und in Filmen
Im Drama und im Film gibt es keinen Erzähler. Hier fehlt die vermittelnde Instanz, weil fingiert wird, der Zuschauer würde die Handlung unmittelbar beobachten. Doch haben sich im Theater vielfältige Möglichkeiten entwickelt, das Drama durch Hinzufügen eines Erzählers zu episieren. (Siehe auch: Episches Theater). In antiken Dramen stellt häufig der "Chor" eine Instanz dar, die das Geschehen auf der Bühne kommentiert.
Auch Film-Regisseure fügen manchmal einen Erzähler ein, um die Handlung von einer neutralen oder auch parteiischen Instanz kommentieren zu lassen und den Seheindruck des Zuschauers zu lenken. Beispielweise lässt David Lean in seinem Film Doktor Schiwago einen General namens Jewgraf Schiwago auftreten. Dieser tritt als handelnde Person auf und ist zugleich auch derjenige, der dem Zuschauer die Handlung des Films als Erzähler nahe bringt.
Film-Regisseure, die eine Erzähler-Figur in ihre Filme einführen, schließen damit scheinbar an die Erzähler-Traditionen an, die man aus der Literatur kennt. Die Unterschiede, die es zwischen der Rezeption von Romanen und der Rezeption von Filmen gibt, werden dadurch jedoch niemals verringert: Während der Leser eines Romans sich vorstellen wird, dass es sich bei den Worten des Romans um die Worte eines Erzählers handelt, wird kein Film-Zuschaer den Eindruck haben, dass ihm die Bilder des Films durch einen Erzähler vermittelt werden.
Die Frage, ob sich die Ergebnisse der (auf die Literatur bezogenen) Erzählforschung auf die Beschäftigung mit Filmen übertragen lassen, wird von Filmwissenschaftlern durchgängig verneint. Für Filme muss es eine eigene Erzähltheorie geben. Die Möglichkeiten, über die Film-Regisseure verfügen, lassen sich mit den Möglichkeiten der Schriftsteller nicht sinnvoll vergleichen.
Ein Film, der besonders eindrucksvoll vorführt, welche Möglichkeiten es bei der Gestaltung der Rolle des Film-Erzählers gibt, ist Die fabelhafte Welt der Amelie. In einer der Filmszenen sitzt die Protagonistin Amelie etwa in der vorderen Reihe eines Kinos. Der Film-Erzähler meldet sich mit diesen Worten: "Amelie liebt es, im Kino sitzend sich umzuwenden und sich die Gesichter der Leute anzuschauen."(*) Bei diesen Worten wird eine Amelie gezeigt, die sich tatsächlich gerade umgewendet hat und zu den hinteren Zuschauerreihen blickt. Danach blickt sie in die Kamera und erklärt:: "Ja, stimmt."(*)
(*) Es handelt sich um den ungefähren Wortlaut.
Siehe auch: Erzählsituation, Erzähltheorie, Interpretation, Textanalyse