Ethnische Säuberung
Ethnische Säuberung bezeichnet die Vertreibung „unerwünschter“ Bevölkerungsanteile aus einem definierten Territorium aufgrund von rassischer, kultureller oder religiöser Diskriminierung und/oder aufgrund von strategischen oder ideologischen Erwägungen, insbesondere zur Herstellung eines ethnisch homogenen, geschlossenen Territoriums.
Wiewohl das Phänomen älter ist, taucht die Formulierung Anfang der neunziger Jahre im Verlauf der Jugoslawienkriege als Übersetzung aus dem entsprechende Sprachraum auf.
Der Begriff deckt auch die Arten der hierbei angewandten Zwangsmaßnahmen ab. Das Spektrum dieser Methoden reicht von der erzwungenen Ausreise über den sogenannten Bevölkerungsaustausch (Transfer) an einem Ende bis hin zur Lagerverschickung (Deportation) und im Extremfall dem Völkermord am anderen Ende.
Von letzterem unterscheidet sich der Begriff dadurch, dass bei Völkermord die Täter die Tötung von wesentlichen Anteilen der Volksgruppe der Opfer beabsichtigen, während das Ziel der ethnischen Säuberung die Vertreibung ist.
Obwohl ethnische Säuberungen zu allen Zeiten auftraten (bspws. die Babylonische Gefangenschaft der Juden im 6.Jahrhundert vor Christi Geburt), erfolgt im 20. Jahrhundert eine Kulmination ethnischer Säuberungen. Die erste war sicherlich 1904 die Vertreibung und Tötung von ca. 60.000 Herero in Namibia, ausgeführt unter der Führung des deutschen Generals von Trotha. Die Vertreibung von schwarzafrikanischen Stämmen in Darfur/Sudan kann als momentan größte "ethnische Säuberung" bezeichnet werden.
Eine frühe Erwähnung des Begriffes „Säuberung“ als Euphemismus für Kriegsverbrechen findet man bereits im Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, wo er sich im Besonderen auf Tötungen und „Sühnemaßnahmen“ bezieht, die von der Wehrmacht an jugoslawischen Partisanen, Tschetniks und Zivilisten im ehemaligen Jugoslawiens begangen wurden. Der Begriff wurde im Zusammenhang des Bosnienkrieges um das Adjektiv "ethnisch" ergänzt und von der westlichen Presse - mutmaßlich allerdings als direkte Übersetzung aus dem dortigem Sprachraum -aufgegriffen, um damit vorwiegend die ausgedehnten, und hier hauptsächlich von der serbischen Kriegspartei verübten Vertreibungsaktionen zu charakterisieren und anzuprangern. Der Begriff wurde aufgrund seines Zynismus zum Unwort des Jahres 1992 gewählt, und wird mittlerweile international als übliche Bezeichnung für Vorgänge dieser Art verwendet.
Ethnische Säuberungen erfüllen einige der bei den Nürnberger Prozessen festgelegten Kriterien von Verbrechen gegen die Menschheit. Da es sich bei „ethnischer Säuberung“ jedoch nicht um einen eindeutigen juristischen, sondern um einen vorwiegend politischen Begriff handelt, erfolgten die Anklagen und Verurteilungen am Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien wegen anders bezeichneter Tatbestände, wie u. a. Verbrechen gegen die Menschheit bei der Vertreibung von über 170.000 Kroaten aus Teilen Kroatiens während des Kroatien-Krieges, der später folgenden Massenflucht von Serben während der Militäroperation Sturm in Kroatien im August 1995, oder im Falle des Verantwortlichen für die Massenerschießungen von Bosniaken in der UN-Schutzzone Srebrenica wegen Völkermordes.
Eine Art "sanfter ethnischer Säuberungen" gibt es nicht, so wie sie angeblich zum Beispiel in Südtirol zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg betrieben wurde, da auch dort die Bevölkerung gezwungen wurde, die ihr fremde (in diesem Fall italienische) Kultur anzunehmen oder nach Österreich oder Deutschland auszusiedeln. Jedoch muss nicht jede Vertreibung gleichermaßen grausam ausfallen, um als "ethnische Säuberung" verstanden zu werden.
Beispiele von ethnischen Säuberungen in der Vergangenheit
Mittelalter und frühe Neuzeit
- Das Ausweisungsdekret Edwards I von England von 1290 mit der Ausweisung der Juden von England für 350 Jahre
- Das Alhambra-Dekret ausgestellt durch Königin Isabella von Kastilien und König Ferdinand II of Aragon von 1492 mit der Vertreibung aller Juden aus Spanien
- Vertreibung der grossen muslimischen Minderheit der vorherigen islamischen Königreiche nach der Rückeroberung der ganzen spanischen Halbinsel durch Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon im Jahre 1502 und der zum Christentum konvertierten ehemaligen Mohammedaner (Moriscos) zwischen 1609 und 1614
Kolonialperiode
- Vertreibung der französischsprachigen Akadier in Nordamerika durch die Briten zwischen 1755 und 1763
- Vertreibung der ursprünglichen andalusischen Bevölkerung vom britisch gewordenen Felsen von Gibraltar im Jahre 1704 und Neuansiedlung britischer Siedler
- Erzwungene Umsiedlung aller noch östlich des Mississippi verbliebenen Indianerstämme durch die US-Amerikanische Regierung in zum Teil öde und zum Teil von andern Stämmen bereits besiedelte Gebiete westlich des Mississippi im 19. Jahrhundert (vor allem um 1830) mit den besonders bekannten Trail of Tears (Zug der Tränen) der Cherokees mit ca. 2,000 to 8,000 Toten, dem Long Walk (Langer Marsch) der Navajo und den Seminolenkriegen mit den sich der Deportation widersetzenden Indianer in Florida
- Vertreibung der türkischen, muslimischen und jüdischen Bevölkerungen vom Balkan nach Rückzug des Osmanischen Reiches aus den Gebieten der nun unabhängigen Staaten (wie serbien, Bulgarien, Griechenland) im 19. Jht
- Vertreibung der mohammedanischen Völker wie der Circassier (1864) im Nordkaukasus durch das zaristische Russland im 19. Jht.
20. Jahrhundert
- Genozid an den Armeniern durch die Jungtürken 1914–1922
- Massendeportation von pontischen Griechen aus dem Schwarzmeerraum durch Türken 1913–1923
- Vertreibung und nachfolgende Ghettoisierung, Deportation und Massenvernichtung (Holocaust) der Juden, Sinti und Roma in den von den Nazis beherrschten Gebieten Europas im Zweiten Weltkrieg, besonders ab 1941
- Vertreibung von über 8 Millionen Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten wie Schlesien, Pommern und Ostpreussen von 1945 bis 1949
- Massenvertreibung und Bevölkerungsaustausch von Millionen von Moslems, Hindus und Sikhs im Anschluss an die Teilung von Britisch-Indiens in die unabhängigen Staaten Indien und Pakistan im Jahre 1947
- Nakba (Katastrophe) mit Flucht vor Kriegshandlungen, Vertreibung und Verweigerung der Rückkehrmöglichkeit von rund 700´000 bisher im heutigen Israel lebenden Arabern (Palästinensern) im Jahre 1948
- Massendeportation ethnischer Minderheiten aus ihrem Heimatgebiet in Indonesien inklusive West-Irian und Ost-Timor seit der Unabhängigkeit von 1949 bis 1999
- Vertreibung von rund 500`000 kaschmirischen Hindus seit den Kämpfen um den Status von Kaschmir
- Erzwungene Ausweisung der gesamten Bevölkerung (Ilois) des britischen Tschagos-Archipels mit dem Hauptstützpunkt Diego Garcia um 1965 durch Grossbritanien auf Wunsch der USA
- Ausweisung zahlreicher Palästinenser aus den von Israel im Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebieten, besonders aus Ostjerusalem, seit 1967
- Erzwungene Umsiedelungen nichtweisser Personen in South Africa unter der Apartheidgesetzgebung
- Gegenseitige Vertreibungen von Griechisch- und Türkisch-Zyprioten zwischen Süden und Norden der Insel zwischen 1974 und 1975
- Verschiedene Vertreibungen, zum Teil verbunden mit Massenvergewaltigungen und Massakern wie in Srebrenica im jugoslawischen Bürgerkrieg zwischen 1991 und 1999, so in Ostkroatien und Krajina (1991-1995), in Bosnien (1992-1995) und in Kosovo an Serben, Kroaten, Bosniern und Albanern
- Vertreibung von rund 200000 Georgiern aus Abchasien im Jahre 1993
- Das Massaker an rund 1 Million Tutsis durch Hutus 1994 in Ruanda
21. Jahrhundert
- Attacken der arabischen Janjaweed-Miliyen arabischen Miliyen auf nichtarabische Menschen in Darfur, einer Region im westlichen Sudan
Literatur
- Andreas Hillgruber, Walther Hubatsch, Hans-Adolf Jacobsen, Percy Ernst Schramm (Hrsg. 1996): Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht - 1940 - 1945. 8 Bände - ca. 6.900 Seiten. ISBN 3763759336
- Mann, Michael: The Dark Side of Democracy: Explaining Ethnic Cleansing. Cambridge 2005.
- Naimark, Norman M.: Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. Beck, München 2004, ISBN 3406517579
- Vardy, Stephen Bela: Ethnic Cleansing in Twentieth Century Europe. New York: Columbia Press, 2003
Siehe auch: Vertreibung, Generalplan Ost
Weblinks
- Le Nettoyage ethnique? (in französischer Sprache)
- Tommaso di Francesco: Soixante ans de «purifications ethniques» (franz.)