Lautréamont, auch Comte de Lautréamont, Pseudonym für Isidore Lucien Ducasse (* 4. April 1846 in Montevideo, Uruguay, † 24. November 1870 in Paris), war ein französischer Dichter, dessen einziges Werk „Die Gesänge des Maldoror“ auf den Surrealismus und die Literatur der Moderne großen Einfluss ausübte.

Leben
Lautréamonts Leben und die genauen Umstände seines Todes lagen Jahrzehnte lang im Dunklen. Außer der Geburts- und Sterbeurkunde und einigen Briefen war nichts über ihn bekannt. Mittlerweile sind einige Daten und Marginalien recherchiert, man glaubt sogar ein Foto von ihm gefunden zu haben. Dennoch gehört seine Biographie zu den großen Unbekannten der Literaturgeschichte.
Das Pseudonym Lautréamont, das Ducasse 1869 für die Herausgabe seiner Dichtung „Die Gesänge des Maldoror“ wählte, ist Eugène Sues „Latréaumont“ entnommen, einem populären Schauerroman von 1837 mit einem blasphemischen Anti-Helden. Lautréamont paraphrasierte den Titel wahrscheinlich als l’autre Amon (der Engel des Bösen). Nach anderer Deutung steht es für „die andere Seite des Flusses“ (l'autre Amont).
Isidore Lucien Ducasse wurde am 4. April 1846 als Sohn des französischen Konsulatsbeamten François Ducasse und seiner Frau Jacquette-Celestine Davezacin in Montevideo (Uruguay) geboren. Am 16. November 1847 wurde er in der Kathedrale von Montevideo getauft, am 9. Dezember starb seine Mutter, wahrscheinlich durch Selbstmord. Über Isidores Kindheit ist so gut wie nichts bekannt, außer dass er 1851 als Fünfjähriger die Belagerung Montevideos im argentinisch-uruguayischen Krieg miterlebte.
Mit dreizehn Jahren wurde Isidore 1859 von seinem Vater nach Frankreich geschickt, wo er am kaiserlichen Gymnasium (Imperial Lycée) in Tarbes (Hautes-Pyrénées) in französicher Erziehung und Technik geschult werden sollte. Die Schulferien verbrachte er wahrscheinlich bei Verwandten in Bazet, dem Geburtsort seines Vaters. Ab 1863 besuchte Ducasse das Lycée Louis-Barthou in Pau (Aquitaine) und tat sich dort bald in Arithmetik und Zeichnen hervor, aber auch bereits duch Extravaganz in Denken und Stil. Für einen Aufsatz, den er nach den Erinnerungen eines Mitschülers dazu nutzte „durch die zügellose Verwendung von Adjektiven und eine Anhäufung schrecklicher Todesbilder seine offensichtliche Verrücktheit zu zeigen“, wurde er von seinem Lehrer Gustave Hinstin in Arrest gesteckt, was den jungen Isidore sehr getroffen haben soll. Klassen in Rhetorik (1863) und Philosophie (1864) brachten mäßige Resultate.
Nach dem Schulabschluss und einem kurzen Aufenthalt bei seinem Vater in Montevideo ließ sich Ducasse Ende 1867 in Paris nieder und wohnte zunächst in einem Hotel in der Rue Notre-Dame-des-Victoires. Er studierte an der École Polytechnique, gab dieses Vorhaben aber bereits 1868 wieder auf. Die anhaltenden Zuwendungen des Vaters erlaubten es ihm, dem gesellschaftlichen Treiben von Paris fernzubleiben und sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen. Als Anregung dienten ihm die Dichtungen von Lamartine, Victor Hugo, Alfred de Musset, Lord Byron und Baudelaire. Léon Genonceaux, der Lautréamont 1890 verlegte, berichtet, dass Ducasse „nur des Nachts an seinem Klavier“ schrieb, „wo er laut deklamierte, wild in die Tasten schlug und zu den Klängen immer neue Verse heraus hämmerte“.
Im August 1868 publizierte Isidore Ducasse anonym den ersten Gesang (Chant premier, par ***) seines Prosagedichtes „Les Chants de Maldoror“ (Die Gesänge des Maldoror), einen kühnen, fast alle Tabus brechenden Cantus über den Schmerz und die Grausamkeit, der zugleich aber ein beispielloser Text voll Schönheit, Größe, Erhabenheit, Qual und blutiger Greuel ist. Das Buch schreckt auch vor den Schilderungen extremster Gewaltphantasien nicht zurück, derart erstaunliche Phänomene des Bösen sind darin aufgeführt, dass es als eines der radikalsten Werke der abendländischen Literatur gilt. Schon der erste Satz enthält eine „Warnung“ an den Leser:
- „Gebe der Himmel, dass der Leser, erkühnt und augenblicklich von grausamer Lust gepackt gleich dem, was er liest, seinen abrupten und wilden Weg durch die trostlosen Sümpfe dieser finstren und gifterfüllten Seiten finde, ohne die Richtung zu verlieren; denn wofern er nicht mit unerbitterlicher Logik und einer geistigen Spannung, die wenigstens seinen Argwohn aufwiegt, an diese Lektüre geht, werden die tödlichen Emanationen dieses Buches seine Seele durchtränken wie das Wasser den Zucker“
Am 10. November 1868 schickte Isidore Ducasse einen Brief an den Dichter Victor Hugo, dem er ein Exemplar des ersten Gesanges beilegte.
Das gesamte Werk mit seinen insgesamt sechs Gesängen sollte unter dem Pseudonym „Comte de Lautréamont“ im Spätsommer 1869 publiziert werden. Die Gesamtausgabe lag bereits vollständig gedruckt vor, als der Verleger Albert Lacroix in Brüssel aus Angst vor der Zensur die Auslieferung an die Buchhändler verweigerte. Den Grund, warum „das Ganze den Bach runterging“, sah Ducasse in der Tatsache, „dass das Leben darin in zu herben Farben gemalt ist und weil er (der Verleger) den Staatsanwalt fürchtete.“
Von den „Gesängen des Maldoror“ nahm daher so gut wie niemand Notiz. Lediglich der Verleger Auguste Poulet-Malassis, der 1857 Baudelaires „Blumen des Bösen“ herausgegeben hatte, erwähnte das Buch im Oktober 1869 in seinem „Bulletin trimestriel des Publications défendues en France, imprimées à l'Estranger“ wo er Lautréamont „zur ebenso seltenen Gattung wie Baudelaire und Flaubert“ zählte und meinte, Lautréamont glaube wie diese, „dass die ästhetische Schilderung des Bösen die stärkste Würdigung des Guten impliziert, die höchste Moral.“ Im Mai 1870 wurde im „Bulletin du Bibliophile et du Bibliothécaire“ nur noch lapidar bemerkt, „das Buch werde wohl einen Platz unter den bibliographischen Kuriositäten finden“.
Im Oktober 1869 zog Ducasse in die Rue du Faubourg-Montmartre 3, im März 1870 in die Rue Vivienne 15, danach mietete er sich in einem Hotel ein.
Zwischen April und Juni 1870 veröffentlichte Ducasse zwei Broschüren aphoristischer Prosa, Poésies I und II. Während er immer noch auf die Auslieferung seiner „Gesänge“ wartete, entstand ein weiterer Text, mit dem er einen Kontrapunkt zur Thematik des „Bösen“ in seinem ersten Werk schaffen wollte:
- „Die Langeweile zu besingen, das Leid, die Verzweiflung, die Melancholie, den Tod, die Dunkelheit, die Düsternis und all das andere, folgt einzig dem Wunsch nach der kindlichen Umkehrung der Dinge. Ich habe deshalb meine Methoden grundsätzlich geändert und besinge nun ausschließlich die Hoffnung, die Erwartung, die Gelassenheit, das Glück und die Pflicht.“
Indem er eins durch das andere ersetzte, «die Schwermut durch den Mut, den Zweifel durch die Gewissheit, die Verzweiflung durch die Hoffnung, die Bosheit durch das Gute, die Klagen durch die Pflicht, die Skepsis durch den Glauben, die Sophismen durch kühlen Gleichmut und den Hochmut durch die Bescheidenheit» wollte er einen Antipoden zu seiner „Apologie des Bösen“ schaffen. Das Werk blieb jedoch Fragment.
Lautréamont starb mit vierundzwanzig Jahren während der Belagerung von Paris am 24. November 1870 in seinem Hotel in der Rue Faubourg-Montmartre 7 an Tuberkulose. Er wurde nach einem Gottesdienst in der Kirche Notre-Dame-de-Lorette zunächst in einem provisorischen Grab auf dem Cemetière du Nord beigesetzt, 1871 wurde sein Leichnam umgebettet. Auf seiner Sterbeurkunde stand: „keine weiteren Angaben“.
Vielfach wurde versucht, aus den „Gesängen des Maldoror“ auch Schlussfolgerungen auf die Biographie des Autors zu ziehen. Es finden sich in der Erstfassung des ersten Gesanges von 1868 Hinweise auf einen Freund, Georges Dazet, mit dem Ducasse 1861-62 am Lycée in Tarbes studiert hatte und der in der zweiten Ausgabe, die 1869 in der Anthologie „Parfums de l'Ame“ in Bordeaux erschien, nur mehr mit "D" bezeichnet wurde. In der Gesamtausgabe löschte Lautréamont den Namen seines Freundes dann und ersetzte ihn durch Tiernamen wie „Fledermaus“ oder „Krake mit seidigem Blick“. Auch meinte man den Zeilen „Immer habe ich schändlichen Geschmack an bleichen Schulbuben und kränklichen Fabrikskindern gefunden“ im 5. Gesang (5) Hinweise auf Homosexualität entnehmen zu können, doch bleibt all dies Spekulation. Lediglich seiner Kindheit in Montevideo erweist er deutlich Reverenz:
- „Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts wird seinen Dichter sehen (sollte er auch nicht sogleich mit einem Meisterwerk beginnen, sondern dem Naturgesetz folgen); er ist an den Ufern Amerikas geboren, an der Mündung des La Plata, dort, wo zwei Völker, einst Rivalen, sich jetzt bemühen, einander durch materiellen und moralischen Fortschritt zu überflügeln. Buenos Aires, die Königin des Südens, und Montevideo, die Kokette, reichen sich die Freundeshand über die silbernen Wasser der großen Mündung. Aber der ewige Krieg hat seine zerstörerische Herrschaft über das Land aufgerichtet und rafft voll Wonne zahlreiche Opfer dahin. Lebe wohl, Greis, und gedenke meiner, wenn du mich gelesen hast. Du, junger Mann, sei nicht verzweifelt; denn im Vampir hast du einen Freund, trotz deiner gegenteiligen Meinung. Wenn du die Milbe mitzählst, die die Krätze verursacht, hast du zwei Freunde!“ (1. Gesang, 14. Strophe)
Andere Erwähnungen wie die Überquerung des Ozeans, das Studium der Mathematik oder die Freunde der Schulzeit in den „Gesängen des Maldoror“ können nicht mehr als Streiflichter sein bei der Erforschung einer „langsam exhumierten“ Biographie: Die einzige Photografie Ducasses wurde in den Siebziger Jahren entdeckt, sein Brief an Victor Hugo erst 1980. Lautréamont hat in seinen „Poésies“ verkündet: „Ich werde keine biographischen Erinnerungen hinterlassen.“, und so liegt das Leben des mysteriösen Schöpfers der „Gesänge des Maldoror“ weiterhin im Dunklen.
Die Gesänge des Maldoror
Lautréamont schuf mit seinem Prosagedicht in sechs Gesängen eine Bilderwelt infernalischer Grausamkeit, die alle literarischen Konventionen des 19. Jahrhunderts sprengte. Die sechs Gesänge bilden nur äußerlich eine Einheit. In zahlreiche selbständige Abschnitte (Strophen) gegliedert, verbinden sie die verschiedensten Elemente. Grundsätzlich behandeln sie aber das Thema des Bösen.
Maldoror, Held und Ich-Figur, ist die Verkörperung des Bösen schlechthin. Er ist ein ein düsterer, gefallener Engel, eine „Sonne des Bösen“ (Aurore du Mal) und findet sich auf unserem Planeten wieder, gestrandet unter der ihm verhassten Menscheit. Maldorors Schatten streicht durch den Tag, und des Nachts wird er heimgesucht von Phantomen und der Erinnerung an unaussprechliche Verbrechen. Er trifft nur auf Tod und Schrecken und führt eine nicht enden wollende Schlacht gegen die menschliche Kreatur und Gott, seinen Erzfeind.
- „Meine Poesie wird aus einem einzigen Angriff bestehen, geführt mit allen Mitteln gegen den Menschen, diese reißende Bestie, wie auch gegen den Schöpfer, der solch ein Ungeziefer niemals hätte erschaffen dürfen. Bände auf Bände werden sich türmen bis ans Ende meines Lebens, und doch wird man darin immer nur diesen einzigen meinem Bewusstsein dauernd gegenwärtigen Gedanken finden.“ (2. Gesang, 4. Strophe)
Maldorors erklärtes Ziel ist es, Gott und die Menschen an Schlechtigkeit zu übertreffen Er ist Inkarnation des Bösen selbst, der gefallene Racheengel, „ein schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit", wie Maurice Maeterlinck konstatierte, der dem Menschen seine eigene Hässlichkeit vor Augen führen soll:
- „Ich bediene mich meines Geistes, um die Wonnen der Grausamkeit zu schildern, keine flüchtigen, künstlichen Wonnen, sondern solche, die mit dem Menschen begonnen haben, die mit ihm enden werden." (1. Gesang, 4. Strophe)
Maldoror hat „einen Pakt mit der Prostitution geschlossen, um in den Familien Zwietracht zu säen“ (1. Gesang, 7. Strophe). Als satanischer Verführer will er auch andere zum Bösen verleiten, oft nur, um seine Opfer (häufig Kinder) zu quälen. Seine Bösartigkeit schlägt sich in minuziös beschriebenen Folterszenen nieder.
- „Man lasse seine Nägel vierzehn Tage wachsen. O! ist es süß, ein Kind, dem noch nichts auf der Oberlippe wächst, brutal aus dem Bett zu reißen und, die Augen weit geöffnet, so zu tun, als führe man sanft mit der Hand über seine Stirn, um die schönen Haare zurückzustreichen! Dann plötzlich, in dem Augenblick, wenn es dies am wenigsten erwartet, die langen Nägel in seine weiche Brust zu graben, aber so, daß es nicht stirbt; stürbe es nämlich, könnte man es später nicht leiden sehen.“ (1. Gesang, 6. Strophe)
Im dritten Gesang zeigt uns Maldoror eine Frau, die er in den Wahnsinn getrieben hat, indem er ihre kleine Tochter vergewaltigt und seine Bulldogge auf sie gehetzt hat, um den Leichnam sodann mit einem Taschenmesser auszuweiden:
- „Dieser zieht ein amerikanisches Taschenmesser hervor, mit zehn bis zwölf Klingen, die verschiedenen Zwecken dienen. Er öffnet die scharfkantigen Beine dieser stählernen Hydra; und macht sich, da er sieht, dass der Rasen noch nicht unter der Farbe des so reichlich vergossenen Blutes verschwunden ist, daran, mit diesem Skalpell mutig, ohne zu erbleichen, die Vagina des unglücklichen Kindes zu durchforschen. Aus diesem erweiterten Loch zieht er nacheinander die inneren Organe heraus: die Därme, die Lungen, die Leber und schließlich das Herz selbst werden von ihrem Sitz gerissen und durch die schreckliche Öffnung an das Tageslicht gezerrt. Der Opferer bemerkt, dass das kleine Mädchen, ein ausgenommenes Hühnchen, schon lange tot ist; er unterbricht das ständige Wachsen seiner Raserei und läßt die Leiche im Schatten der Platane weiterschlafen.“ (3. Gesang, 2. Strophe)
Maldoror ist aber nicht nur Sadist, er hat auch masochistische Züge: Nach der genüsslich ausgedehnten Zerfleischung eines Jünglings hegt er den Wunsch, im Tod, in der Unendlichkeit, Gleiches von dem Jungen angetan zu bekommen. Und auch die Selbstqual, das Selbstzerfleischen, ist ihm bekannt.
- „Ich habe lachen wollen wie die anderen; aber dies war unmöglich. Ich habe ein Federmesser mit scharfer Klinge genommen und mir das Fleisch dort aufgeschlitzt, wo sich die Lippen vereinigen ...“
Maldorors Grundauffassung, dass Leben Leid und Schmerz bedeute („erinnere dich wohl, wir sind auf diesem entmasteten Schiff, um zu leiden“), resultiert aus der Erkenntnis, dass der Mensch schlecht sei. Wiederholt beklagt er dessen Egoismus, Kälte und Wankelmütigkeit sowie die Grausamkeit Gottes, der ihn erschuf:
- „Was soll die Ungerechtigkeit in den höchsten Beschlüssen? Ist er von Sinnen, der Schöpfer?“
Lautréamonts Hass steigert sich bis zur Blasphemie; so lässt er Gott sich vor einem Haar rechtfertigen, das er in einem anrüchigen Hause verloren hat. Den Selbstmord untersagt er seinem Helden:
- «Ich habe das Leben wie eine Wunde empfangen, und ich habe dem Selbstmord verboten, die Narbe zu heilen. Ich will, dass der Schöpfer zu jeder Stunde seiner Ewigkeit den klaffenden Riss betrachte. Das ist die Sühne, die ich ihm auferlege.» (3. Gesang, 1. Strophe)
Maldorors verzweifelter Kampf gegen Gott und den Menschen, jenen „sublimen Affen", zeichnet ein in höchstem Maße grausames Bild der Welt und der Natur des Menschen. Er sucht schließlich einen Freund, eine verwandte Seele. Er findet sie in einer Haiin, die er beim Verschlingen von Schiffbrüchigen beobachtet:
- „Ich suchte eine Seele, die mir ähnlich wäre, und konnte sie nicht finden. Ich durchsuchte die verborgensten Winkel der Erde; meine Ausdauer war vergeblich. Allein konnte ich jedoch nicht bleiben. Ich brauchte jemanden, der meinen Charakter bejahte; ich brauchte jemanden, der ebenso dachte wie ich. (...) Einige Minuten lang sahen sie sich fest ins Gesicht; und beide erstaunten, so viel grausame Lust in den Blicken des anderen zu finden. Schwimmend drehen sie sich im Kreise, lassen einander nicht aus den Augen und jeder sagt sich: ‚Ich lebte bis jetzt im Irrtum; da ist einer, der böser ist als ich.‘ Da glitten sie zwischen zwei Wellen, einstimmig und in gegenseitiger Bewunderung aufeinander zu, die Haiin, das Wasser mit ihren Flossen zerteilend, und Maldoror, die Fluten mit seinen Armen schlagend; und sie hielten den Atem an in tiefer Verehrung, jeder von dem Wunsche erfüllt, zum erstenmal sein lebendiges Ebenbild zu betrachten.“ (2. Gesang, 13. Strophe)
An die schwarze Romantik und die visionäre Bildsprache des Symbolismus angelehnt, schuf Lautréamont in den „Gesängen des Maldoror“ eine alptraumhafte Welt des Horrors und der befreienden Erlösung, in der der grausam-luziferische Maldoror und sein in verschiedenen Masken und Metamorphosen erscheinendes Über-Ich als Leitbild fungieren.
Neben der Geschichte des Maldoror beinhaltet das Werk aber auch unabhängige poetische Formen, etwa eine flutende Hymne an den Ozean (1. Gesang, 9. Strophe) „Alter Ozean, du bist das Symbol der Identität; immer dir selbst gleich“ oder eine Ode an die Mathematik (2. Gesang, 10. Strophe): „O strenge Mathematik, ich habe dich nicht vergessen, seit deine gelehrten Lektionen, süßer als Honig, wie eine erfrischende Woge in mein Herz drangen.“
Lautréamonts Sprache ist überaus bildhaft, assoziativ und rauschhaft und gleitet manchmal, die écriture automatique des Surrealismus vorwegnehmend, ins Halluzinatorisch-Groteske hinüber.
Man hat „Die Gesänge des Maldoror“ aufgrund ihrer Grausamkeiten oft mit dem Werk des Marquis de Sade verglichen, ein Vergleich, dem Maurice Blanchot in seinem Essay „Lautréamont and Sade“ (1949) allerdings entgegen trat: „Bei Lautréamont findet man von Anfang an eine natürliche Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit, eine starke Sehnsucht nach Tugend und einen mächtigen Stolz, der weder von Perversion noch vom Bösen geleitet wird.“
Wirkungsgeschichte
Neben Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud war es Lautréamont, der die moderne Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend beeinflusste. Ohne Zweifel ist er einer der wichtigsten Vorläufer der Surrealisten und wird oft deren „Großvater“ genannt. Es bedurfte aber eines Zufalls, bis das Werk während des ersten Weltkriegs von den Surrealisten entdeckt und auf den ihm zustehenden Platz in der Geschichte der abendländischen Literatur gestellt wurde.
Die Erfolgsgeschichte der „Gesänge des Maldoror“ ist langwierig und tragisch. Sein Autor erlebte die Publikation der Gesamtausgabe nicht mehr. Er hatte noch verschiedenen Änderungen zugestimmt, um die Zensur zu vermeiden und eine Herausgabe möglich zu machen, sein früher Tod verhinderte jedoch diesen Kompromiss. Die Erstauflage der "Gesänge des Maldoror" überlebte nur durch einen Glücksfall und wurde auch nur durch Zufall der Nachwelt überliefert.
Bevor die Gesamtausgabe von 1869, die vom Verleger Albert Lacroix nie an die Buchläden ausgeliefert worden war, eingestampft werden konnte, kaufte der Brüsseler Buchhändler Jean-Baptiste Rozez 1874 den gesamten Lagerbestand und veröffentlichte „Die Gesänge des Maldoror“, mit einem neuen Einband versehen, noch im gleichen Jahr, vier Jahre nach Lautréamonts Tod.
Ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung wurde der Herausgeber der belgischen Literaturzeitschrift „La Jeune Belgique“, Max Waller, auf „Die Gesänge des Maldoror“ aufmerksam und veröffentlicht im Oktober 1885 das Gespräch der Familie aus dem ersten Gesang (11. Strophe) als Auszug aus dem Buch. Er zeigte es seinen Freunden, den belgischen Schriftstellern Iwan Gilkin und Albert Giraud, der es wiederum Joris Karl Huysmans, dem Meister der Dekadenz, empfahl, der sich daraufhin mit Lautréamont beschäftigte.
1886 berichtete der französische Schriftsteller und katholische Erneuerer Léon Bloy in seinem autobiographischen Roman „Le Désespéré“ (Der Verzweifelte) vom Erscheinen eines „monströsen Buches, das in Frankreich noch unbekannt, in Belgien aber seit zehn Jahren veröffentlicht" sei und bezeichnete Lautréamonts Text in seinem Artikel „Le cabanon de Prométhée“ (Die Hütte des Prometheus) 1890 als «flüssige Lava von verblüffender, panischer Schönheit» und als „das Werk eines Verrückten, aber auch das eines großen Dichters“.
1890 wurden die „Gesänge“ mit einem Brief-Faksimile und einem Vorwort von Léon Genonceaux neu herausgegeben, blieben aber ohne Resonanz.
1891 entdeckte der französische Symbolist Remy de Gourmont die Neuausgabe der „Gesänge“, recherchierte in der Pariser Nationalbibliothek ein Exemplar der Erstausgabe und verfasste eine genaue vergleichende Beschreibung des Werkes. Am 1. Februar verneigte er sich im Mercure tief vor dem Autor. Er entdeckte auch ein Exemplar der Poésies und veröffentlichte am 1. November im Mercure die Geburtsurkunde Lautréamonts. 1896 nannte er ihn in „Le Livre des Masques“ (Das Buch der Masken - Glossen und Dokumente über die Literatur von Gestern und Heute) „einen junger Mann von wütender und unerwarteter Originalität und ein krankes, nachgerade verrücktes Genie“, eine Neuausgabe von 1920 beinhaltet ein Vorwort von ihm. Gourmont hat die „Gesänge“ auch dem Surrealismus-Vorläufer Alfred Jarry empfohlen, der später seine Ehrerbietung an Lautréamonts „ pataphysisches Universum“ erwiesen hat.
Um die Jahrhundertwende begeisterte sich der belgische Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Maurice Maeterlinck an Lautréamonts Dichtung: «Schwarzer, zerschmetterter Erzengel von unsagbarer Schönheit, blendende Blitze, violett und grün... Metaphern in der flammenden Nacht des Unbewußten.» Danach geriet Lautréamont wieder in Vergessenheit.
Am Ende des Ersten Weltkriegs entdeckte der französische Schriftsteller Philippe Soupault in der mathematischen Abteilung einer kleinen Buchhandlung in der Nähe des Lazaretts, in dem er untergebracht war, zufällig eine Ausgabe des ersten Gesangs der "Gesänge des Maldoror". Durch diesen Zufall offenbarte sich Lautréamont den Surrealisten, sie feierten ihn als besondere Entdeckung und machten ihn zu ihrem Propheten. Sein Werk gilt als die "Bibel des Surrealismus".
André Gide sah es als bedeutendstes Verdienst der Surrealisten Louis Aragon, André Breton und Philippe Soupault an, Lautréamont «erkannt und verkündet» zu haben, denn für Gide war Lautréamont «der Schleusenmeister der Literatur von morgen».
Louis Aragon und Andre Breton kopierten die einzig bekannten Exemplare der Poésies, die in der Pariser Nationalibliothek aufbewahrt wurden, und veröffentlichten den Text in zwei aufeinander folgenden Nummern ihrer Zeitschrift „Literature“ (Nr. 2 im April 1919; Nr. 3 Im Mai 1919).
1925 wurde eine Spezialnummer des surrealistischen Literaturmagazins "Le Disque vert" Lautréamont gewidmet: «Le cas Lautréamont» (Der Fall Lautréamont).
André Breton nahm Teile der Gesänge in seine "Anthologie des schwarzen Humors" auf und schrieb in der Einleitung:
- „Die Grenzen sind gefallen, in denen Worte in Beziehung zu Worten, Dinge in Beziehung zu Dingen treten können. Ein Prinzip ständiger Verwandlung hat sich der Dinge wie der Ideen bemächtigt und zielt auf ihre totale Befreiung ab, die die des Menschen impliziert."
Man Ray nahm 1920 jene Stelle aus den "Gesängen" als Ausgangspunkt für sein Werk "The enigma of Isidore Ducasse", in der Lautréamont die Schönheit eines jungen Mannes poetisch-assoziativ „wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch" beschrieben hatte.
Salvador Dali und Félix Vallotton fertigten "imaginäre" Bildnisse Lautréamonts an, da von ihm kein Photo überliefert war.
Der Maler Amedeo Modigliani trug immer ein Examplar der "Gesänge" mit sich, die er laut auf dem Montparnasse zitierte.
Neuauflagen der "Gesänge des Maldoror" wurden später von Max Ernst, Salvador Dalí, Rene Magritte und anderen illustriert.
Bibliographie (Auswahl)
Werke von Lautréamont
- Les Chants de Maldoror - Chant premier, par ***, Imprimerie Balitout, Questroy et Cie, Paris, August 1868
- Les Chants de Maldoror - Chant premier, par Comte de Lautréamont, abgedruckt in der Anthologie "Parfums de l'Ame" (Hg. Evariste Carrance), Bordeaux 1869
- Les Chants de Maldoror, A. Lacroix, Verboeckhoven et Cie, Brüssel 1869 (nicht ausgeliefert)
- Poésies I, Librairie Gabrie, Balitout, Questroy et Cie, Paris 1870
- Poésies II, Librairie Gabrie, Balitout, Questroy et Cie, Paris 1870
- Les Chants de Maldoror, Typ. De E. Wittmann, Paris und Brüssel 1874
- Les Chants de Maldoror. Mit einem Vorwort von Léon Genonceaux und einem Brief-Faksimile Lautréamonts, Ed. Léon Genonceaux, 1890
- Les Chants de Maldoror. Mit 42 Illustrationen von Salvador Dali; Albert Skira Editeur, Paris 1934
- "Œuvres Complètes". Mit einem Vorwort André Breton und Illustrationen von Victor Brauner, Oscar Dominguez, Max Ernst, Espinoza, René Magritte, André Masson,Joan Miró, Matta Echaunen, Paalen, Man Ray, Seligmann und Yves Tanguy, G.L.M. (Guy Levis Mano), Paris 1938
- Les Chants De Maldoror. Mit 77 Illustrationen von Rene Magritte; Editions De "La Boetie", Brüssel 1948
- Les Chants de Maldoror. Mit einem Vorwort von Jean Cocteau), 1963
Deutsche Übersetzungen
- Gesamtwerk, Deutsch von Re Soupault. (erste deutsche Ausgabe) Rothe, Heidelberg 1954
- Das Gesamtwerk. Die Gesänge des Maldoror; Dichtungen (Poesies); Briefe. Mit einem Nachwort von Re Soupault und mit Marginalien von Albert Camus; Andre Gide; Henri Michaux;Julien Gracq; Henry Miller; E. R. Curtius; Wolfgang Koeppen u.a., Rowohlt, Reinbek 1963; Überarbeitete Neuausgabe, Rowohlt, Reinbek 1988 ISBN 3-498-03836-2
- Die Gesänge des Maldoror. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Studie über den Autor und sein Werk von Re Soupault. Mit 20 Gouachen von Georg Baselitz. Im Anhang - Der Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautreamont und Carroll, von Elisabeth Lenk, Rogner & Bernhard, München. 1976
- Poesie 1. Vorwort von Guy E. Debord und Gil J. Wolman. Aus dem Französischen von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Edition Nautilus, Hamburg 1979 ISBN 3921523389
- Die Gesänge des Maldoror (Übersetzung: Ré Soupault) Rowohlt, Reinbek 2004, ISBN 3-499-23547-1
Sekundärliteratur
- Das Geheimnis des Comte de Lautréamont, Texte zu Lautréamont von Aimé Césaire, Rene Daumal, Ungaretti, Maurice Blanchot, Gaston Bachelard, André Breton, Artaud, Louis Aragon, Fancis Ponge, Philippe Sollers, Leon Pierre-Quint und Illustrationen von Dali, Magritte, Yves Tanguy, Max Ernst, Joan Miro, Oscar Dominguez, Man Ray, Victor Brauner, Seligmann, André Masson u.a., Edition Tiamat, 1986
- Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und Texte über Baudelaire, Coleridge, Lautreamont und Gérard de Nerval, Matthes & Seitz, München 1988
- Louis Aragon: Lautréamont et nous, Les Lettres françaises, 1er et 8 juin 1967, Deutsch: "Lautréamont und wir", in: "Surrealismus in Paris 1919-1939". Ein Lesebuch. Herausgegeben und mit einem Essay von Karlheinz Barck. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun., 1986
- Der Aufsatz beschreibt den Beginn der Freundschaft Aragon-Breton und schildert die erste Lautréamont-Rezeption Aragons und Bretons in den Jahren 1917-1918. Die beiden Aufsätze von 1967 wurden 1992 als selbständige Publikation veröffentlicht ("Lautréamont et nous", Pin-Balma: Sables, 1992)
- Anthologie des Schwarzen Humors. Hg. und Vorwort von Andre Breton (1939), Rogner & Berhard, München 1979. Textsammlung mit Beiträgen von (und mit jeweils einführenden Worten von Andre Breton über) Jonathan Swift, Marquis de Sade, Georg Christoph Lichtenberg, Charles Fourier, Thomas de Quincey, Pierre-Francois Lacenaire, Christian Dietrich Grabbe, Petrus Borel, Edgar Allan Poe, Xavier Forneret, Charles Baudelaire, Lewis Carroll, Villiers de L'Isle-Adam, Charles Cros, Friedrich Nietzsche, Joris-Karl Huysmans, Isidore Ducasse Comte de Lautreamont, Arthur Rimbaud, Alphonse Allais, Jean Pierre Brisset, O. Henry, J.M.Synge, Andre Gide, Francis Picabia, Guillaume Apollinaire, Pablo Picasso, Jakob van Hoddis, Hans Arp, Marcel Duchamp, Jacques Vache, Alfred Jarry, Franz Kafka, Salvador Dali, Gisele Prassinos, Jean-Pierre Duprey, Jacques Rigaut, Jacques Prévert, Leonora Carrington u.a.; Die EA der Anthologie erschien 1940, vier Tage vor dem Fall von Paris. Die Ausgabe wurde von der Regierung Petain verboten. Die nächsten beiden Ausgaben erschienen 1945 und 1950 mit vermehrten Inhalt.
- Philippe Soupault: Lautreamont. Poetes d'aujourd'hui 6, Pierre Seghers, Paris 1949
- Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade, Editions de Minuit, Paris 1949
- Gaston Bachelard: Lautreamont, Corti, Paris 1974
- Sylvia Farnedi: Lautréamont ou les chants de mort de l'écriture
- Louis Jarnover: Lautréamont et les chants mágnetiques, Sulliver, Arles 2002, ISBN 2-911199-79-0
- Paul Zweig: Lautreamont: The Violent Narcissus, Kennikat Press, Port Washington N.Y. und London 1972
- Alex de Jonge: Nightmare Culture: Lautréamont and Les Chants de Maldoror, Secker and Warburg, 1973
- Alvaro Guillot-Muñoz: Lautréamont à Montevideo (1972)
- Wallace Fowlie: Lautréamont (1973)
- Jeremy Reed: Isidore : A Novel about the Comte de Lautreamont (fiktionale Biographie), Peter Owen Limited 1991
- Mark Polizzotti: Lautréamont Nomad (1994)
- Roland-Francois Lack: Poetics of the Pretext: Reading Lautréamont (1998)
- Jean-Jacques Lefrère: Isidore Ducasse: Auteur des Chants de Maldoror, par le comte de Lautréamont (1998)
Weblinks
- http://www.uni-greifswald.de/~dt_phil/studenten/falmer/chants_f.html Die Gesänge des Maldoror
- http://www.uni-greifswald.de/~dt_phil/studenten/falmer/chants_f.html Wolfgang Koeppen: Der Großvater des Surrealismus
- http://corumcle.edres74.ac-grenoble.fr/biograpi/lautreamont1.htm Fotos
- http://rocbo.chez-alice.fr/litter/ducasse/biblio2.htm Bibliographie
- http://www.cavi.univ-paris3.fr/phalese/MaldororHtml/Sommaire.htm Französische Seite
- http://www.maldoror.org/ (französisch) Texte, Dokumente, Aktuelles, grosses Bildarchiv
Personendaten | |
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NAME | Lautréamont, Comte de |
ALTERNATIVNAMEN | Ducasse, Isidor Lucien (eigentlicher Name) |
KURZBESCHREIBUNG | französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts |
GEBURTSDATUM | 4. April 1846 |
GEBURTSORT | Montevideo, Uruguay |
STERBEDATUM | 24. November 1870 |
STERBEORT | Paris |