Jorinde und Joringel ist ein Märchen (Typ 405 nach Aarne und Thompson). Es kommt in der Autobiographie Heinrich Stillings Jugend von Johann Heinrich Jung vor (danach genannt Jung-Stilling). Die Brüder Grimm übernahmen es in ihre Kinder- und Hausmärchen an Stelle 69.
Inhalt
In einem Schloss im Wald wohnt eine alte Zauberin. Sie verwandelt sich tagsüber in eine Katze oder Nachteule (in Jung-Stillings Version auch in einen Hasen). Sie lockt Tiere an, um sie zu schlachten. Wer dem Schloss zu nahe kommt, der kann sich nicht mehr bewegen, und Jungfrauen verwandelt sie in Nachtigallen, die sie im Schloss aufbewahrt. Jorinde und Joringel sind ein junges Liebespaar, das versehentlich in die Nähe des Schlosses kommt. Sie werden erst ganz traurig, dann wird Jorinde zu einer Nachtigall, und während Joringel sich nicht bewegen kann, fängt die Hexe sie ein und nimmt sie fort. Joringel fleht sie an, sie freizulassen, aber sie lässt sich nicht erweichen. Joringel verbringt lange Zeit in der Fremde als Schäfer und läuft oft um das Schloss herum. Dann träumt er von einer blutroten Blume mit einer Perle in der Mitte. Er wandert neun Tage und findet die Blume morgens mit einem Tautropfen in der Mitte. Dagegen ist die Hexe machtlos. Als sie versucht, einen Vogel wegzutragen, erkennt er Jorinde und befreit nach ihr die anderen.
Stilistische Besonderheiten
Die Geschichte ist trotz mancher Einzelheiten kurz erzählt. Die Sprache wirkt natürlich und gehoben zugleich. Der Erzähler reiht scheinbar spontan einfache Satzstrukturen aneinander, dabei sind Ausdruck und Wortwahl eigentümlich gewählt, so schon die erfundenen Namen Jorinde und Joringel. Sätze wie mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein oder da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor scheinen mehr zu bedeuten. Besonders auffällig sind die beiden Gedichte. Zuerst singt Jorinde bei ihrer Verwandlung:
- Mein Vöglein mit dem Ringlein rot singt
- Leide, Leide, Leide:
- es singt dem Täubelein seinen Tod,
- singt Leide, Lei - zicküth, zicküth, zicküth.
Die alte Frau spricht Joringel mit einem zweiten Vierzeiler los. Obwohl die kürzeren Verse Bruchstücke der Melodie aus Jorindes Lied enthalten, passen sie hier nicht recht zueinander. Sie klingen plump, besonders am Schluss:
- Grüß dich, Zachiel,
- wenn's Möndel ins Körbel scheint,
- bind los Zachiel,
- zu guter Stund.
Die typische Märchenhandlung passt gut zur sehr pietistischen Erziehung Jung-Stillings: Der Protagonist siegt mit rechtschaffener Treue und Gottvertrauen über Hexerei und gewinnt so die schönste Frau. Untypisch ist, dass das Märchen mit der Hexe beginnt, und dass am Ende keine Bestrafung steht. Sie scheint nach Jorindes Erlösung praktisch zu verschwinden (wie in Die Gänsehirtin am Brunnen).
Interpretation
Das Liebespaar wird mit Tauben verglichen, genauer mit Turteltauben (Redensart: verliebt wie die Turteltauben): Als Jorinde weint und klagt, singt eine Turteltaube „kläglich“. Als Jorinde verwandelt wird, singt sie vom „Vöglein mit dem Ringlein rot“ (Turteltauben haben einen roten Ring um ihre runden Augen). Die Taube gilt bis heute als Symbol des Friedens, der Reinheit und Unschuld. Die Turteltaube ist besonders schön, und sie hat einen hellen Bauch (ein reines Herz). Auch die Nachtigall, in die Jorinde verwandelt wird, wird mit Liebe in Verbindung gebracht. Ihr nächtlicher Gesang verleiht dem aber eine sinnliche oder melancholische Färbung.
Die rote Blume stellt die Liebe und Treue dar, die Joringel beweist, als er statt einer anderen Frau in der Fremde Schafe hütet. Eine Blume ist schön und lebendig, die Perle oder der Tautropfen sind Zeichen der Reinheit und Unberührtheit und Rot gilt als die Farbe der Liebe. Man kann die Symbolik der Blume aber auch ausweiten auf eine schöne Frau oder überhaupt auf den Menschen (Anthroposophie: Der Mensch als umgedrehte Pflanze). Joringels Blume entspricht dem „Ringlein rot“, von dem Jorinde singt: Beide sind rund mit etwas glänzendem in der Mitte. Sie stehen für den Ehering.
Der gleichzeitig bestehende Unterschied zwischen der länglichen Blume (mit dem morgendlichen Tropfen) und dem runden Ringlein kann als sexuelle Andeutung gesehen werden. In diesem Fall personifiziert die Zauberin mit ihrer lähmenden, aber auch behütenden Wirkung die Angst beider junger Menschen vor der Initiation. Ihre Beschreibung mit großen roten Augen und krummer Nase ähnelt einer Eule, wie die Katze ein nachtaktives Raubtier. Beide wurden mit Hexen assoziiert, im Gegensatz zur Taube. Auch der Mond, von dem die Hexe spricht, steht im Gegensatz zum Sonnenschein, in dem das Liebespaar spazieren geht (s.a. Lilith).
Die Hexe nutzt aus, dass sie ihre Opfer anzieht, sie lähmt sie, und sie speit Gift (vgl. Schneewittchen). Ihr Neid auf junge Frauen oder ihre Angst vor der Sexualität stehen in Zusammenhang mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit oder Angst vor dem Tod. Das sagt u.a. der Satz aus dem Text: „Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen.“ Die Hexe ähnelt damit einer Schlange, deren Gift auch lähmend wirkt und die wegen ihrer Häutungen (Verwandlungen) als unsterblich verehrt wurde (s.a. Meduse, Basilisk, Gilgamesch-Epos).
Die Bilder dieses Märchens vereinen Gespaltenheit mit Geschlossenheit (wie ein Ouroboros). Das gilt für den Mond mit seiner zu- und abnehmenden Hälfte. Die Eule, obgleich bedrohlich, galt als scharfsichtig und weise (s. Die Eule). Die eigenwillige, elegante Katze ist als Haustier beliebt (s. Die drei Glückskinder). In Jorindes Lied verrät die Formulierung „Mein Vöglein“ die Identität zwischen der jungen Frau und der Hexe. Umgekehrt beweist die alte Frau Gnade, als sie Joringel losspricht „wenn's Möndel ins Körbel scheint“, wobei der Sinn der Verkleinerungsformen unklar ist. So erscheint das Märchen von Jorinde (wie Rinde) und Joringel (wie sich ringeln) als Allegorie von Abgrenzung und Einheit.
Friedel Lenz äußert die Vermutung, dass in Zachiel der Erzengel Zachariel anklingt, also eine eigentlich gute, aber hier verstümmelte Göttlichkeit. Sie weist auch darauf hin, dass bei den Eleusinischen Mysterien eine Opfergabe in einem Korb dargebracht wurde, wobei der Mond in den Korb scheinen musste. Psychoanalytisch gedeutet ist das Schloss der Zauberin ihr Körper, dem man nicht zu nahe kommen darf. Nach der analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs steht die böse Hexe in vielen Mythen für den Archetypus des Schattens oder der nefasten Mutter, aus deren Fängen der Held die Anima befreien muss (vgl. Rapunzel). In der modernen Psychologie werden Identitätsstörungen mit extremem Schwarz-Weiß-Denken mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung in Verbindung gebracht.
Jung-Stillings Autobiographie
In der Autobiographie Heinrich Stillings Jugend von Johann Heinrich Jung (Jung-Stilling) kommt das Geisenberger Schloss als Ruine und ehemaliges Räubernest vor. Stillings Vater und seine Frau Dortchen gehen dort kurz nach der Geburt ihres Sohnes im Wald spazieren. Dortchen fühlt sich krank und freudlos und stirbt später. Das Märchen selbst wird an späterer Stelle von Tante Mariechen erzählt. Währenddessen sucht der Großvater Holz und hat eine Vision seines bevorstehenden Todes, in der das verstorbene Dortchen „wie eine Jungfrau“ aus der Tür eines Schlosses tritt. Im letzten Satz des Buches werden nochmal ein Paar einsame Täubchen auf dem Grab des Großvaters erwähnt, die sich zwischen den Blumen liebkosen.
Es lässt sich nicht nachprüfen, ob Jung-Stilling das Märchen wirklich von seiner Tante gehört hat oder inwieweit es sich sonst um ein Volksmärchen handelt. Die sorgfältige Wahl von Ausdrücken und Symbolen spricht für ein besonders hohes Maß an literarischer Überarbeitung. Die Märchenklassifikation von Aarne und Thompson nennt einen eigenen Typ 405 Jorinde und Joringel.
In seiner Heimat, dem Rothaargebirge, steht die Ginsburg (bei Grund, Stadtteil von Hilchenbach). Für die Zauberin mag Circe aus Homers Odyssee oder Nimue aus der Artussage Vorbild gewesen sein. Jorindes Lied klingt ähnlich wie Desdemonas Lied in Shakespeares Othello (Akt 4, Szene 3).
Johann Wolfgang von Goethe bat ihn, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und veröffentlichte sie dann 1777 als Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte (spätere Teile folgten). Der Verfasser blieb trotz verfremdeter Personen- und Ortsnamen nur kurze Zeit unerkannt und wurde dann nach der Hauptperson Jung-Stilling genannt.
Rezeptionen
Bekannt ist das Märchen hauptsächlich durch die Brüder Grimm. Ihre Kinder- und Hausmärchen enthalten es seit der Erstausgabe 1812 an Stelle 69. Abgesehen davon, dass sich bei Jung-Stilling die Hexe auch in einen Hasen verwandelt, nahmen sie nur geringfügige sprachliche Glättungen vor. In ihren Anmerkungen weisen sie noch auf „eine mündliche Erzählung aus den Schwalmgegenden“ hin von zwei Kindern und einer Hexe, die den Jungen in einen Vogel verwandelt. Das Mädchen befreit ihn mit einer Blume und verwandelt die Hexe in einen Raben, erlöst dann aber auch sie. Das Motiv des zwielichtigen Hauses im Wald kommt in vielen ihrer Wundermärchen vor. Ähnlich sind u.a. Die zwölf Brüder (Nr. 9), Die Rabe (Nr. 93), Die Alte im Wald (Nr. 123), Das Waldhaus (Nr. 169), Die Nixe im Teich (Nr. 181).
Hans-Jörg Uther findet Belege für mündliche Erzählungen besonders im skandinavischen, irischen, deutschen und slawischen Raum, die meist auf die Grimm'sche, seltener auf Jung-Stillings Version zurückgehen. In einer spanischen Variante tötet Joringel eine Schlange als Wächter. Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen enthält eine ähnliche Symbolsprache wie Jorinde und Joringel. Enderle schrieb ein Märchen Der Mädchenvogel. Der Anthroposoph Rudolf Meyer legt in seinem Buch Die Weisheit der deutschen Volksmärchen Jorinde und Joringel je ein langes Gedicht in den Mund.
Der erste Film Jorinde und Joringel war wohl ein deutscher Zeichentrickfilm 1920, der nicht erhalten ist. Die DEFA in der DDR drehte 1957 einen Puppentrickfilm (20 min, Regie: Johannes Hempel) und 1986 einen Spielfilm (76 min, Regie: Wolfgang Hübner) gleichen Titels. Auf Niederländisch existiert ein zehnminütiger Zeichentrickfilm Jorinde en Joringel (1978, Regie: Niek Reus). Die amerikanische Filmemacherin Lisa Hammer drehte 1995 einen 30-minütigen Schwarzweiß-Stummfilm Jorinda and Joringel.
Eine Internetrecherche liefert eine Vielzahl von Seiten, die oft den Grimm - Text von Jorinde und Joringel wiedergeben, sowie verschiedene Theaterstücke, Hörspielkassetten und Bilderbücher. Bei den Brüder-Grimm-Märchenfestspielen in Hanau war schon mehrmals ein Theaterstück und 1999 ein Musical in Uraufführung im Programm.
Literatur
Primärliteratur
- Jung-Stilling, Johann Heinrich. Henrich Stillings Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft und häusliches Leben. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. S. 73-75. Stuttgart 1997. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-000662-7)
- Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 382-384. Düsseldorf und Zürich, 19. Auflage 1999. (Artemis & Winkler Verlag; Patmos Verlag; ISBN 3-538-06943-3)
- Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. S. 131, 473. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)
Nachschlagwerke
- Uther, Hans-Jörg: Jorinde und Joringel. In: Enzyklopädie des Märchens. Band 7. S. 632-634. Berlin, New York, 1993.
- Scherf, Walter: Das Märchenlexikon. Erster Band A-K. S. 634-635. München, 1995. (Verlag C. H. Beck; ISBN 3-406-39911-8)
- Aarne, Antti. Thompson, Stith: The types of the folktale. A classification and bibliography. Second revision. S. 135. Helsinki, 1961.
Deutungen
- von Beit, Hedwig: Symbolik des Märchens. Bern, 1952. (A. Francke AG, Verlag)
- Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. S. 66, 81, 185, 187. Wiesbaden, 1956. (Franz Steiner Verlag GmbH)
- Röhrich, Lutz: „und weil sie nicht gestorben sind...“. Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen. Köln, 2002. (Böhlau-Verlag Köln Weimar Wien; ISBN 3-412-11201-1)
- Lenz, Friedel: Bildsprache der Märchen. 8. Auflage. S. 197-203, 245, 250, 256-264. Stuttgart, 1997. (Verlag Freies Geistesleben und Urachhaus GmbH; ISBN 3-87838-148-4)
- Meyer, Rudolf: Die Weisheit der deutschen Volksmärchen. 5. Auflage. S. 144-146, 198-199. Stuttgart, 1963. (zuerst 1935; Verlag Urachhaus Stuttgart)
- Storck, Edzard: Alte und neue Schöpfung in den Märchen der Brüder Grimm. S. 413-415, 408-411. Bietigheim, 1977. (Lorber und Turm Verlag; ISBN 3-7999-0176-0)
- Müller, Rudolf: Jorinde und Joringel. Wenn durch Trennung die Liebe erwacht. (Weisheit im Märchen). Stuttgart, 1997. (Kreuz Verlag GmbH & Co. KG; ISBN 3-268-00044-4)
Weblinks
- Projekt Gutenberg-DE: Originaltext von Jorinde und Joringel in Heinrich Stillings Jugend
- Projekt Gutenberg-DE: Originaltext von Jorinde und Joringel nach den Brüdern Grimm
- Psychologische Hausarbeit von Sylvia Preis: Märchen in der Therapie
- Märcheninterpretation Jorinde und Joringel
- Museum Hanau: Gemälde von Franz Stassen Jorinde und Joringel