Naturalismus (Philosophie)
Der Naturalismus ist eine seit dem 20. Jahrhundert bedeutende philosophische Richtung, in der davon ausgegangen wird, dass jeder Sachverhalt auf natürliche Vorgänge zurückführbar ist. Je nach Ausprägung des Naturalismus wird die Natur entweder als die umfassende Wirklichkeit angesehen (ontologischer Naturalismus), der Wahrheitsbegriff wird auf Aussagen beschränkt, die sich reduktionistisch auf Begriffe der Natur zurückführen lassen (semantischer Naturalismus), oder es werden zwar übernatürliche Entitäten nicht a priori ausgeschlossen, aber nur solche Erkenntnismethoden als gültig angesehen, die sich vollständig auf natürliche Vorgänge stützen (methodologischer Naturalismus). Ferner werden im Naturalismus alle kulturellen und geschichtlichen Vorgänge und Bildungen auf naturhafte Gegebenheiten zurückgeführt. Der Naturbegriff kann unter anderem eine biologistische, physikalistische oder positivistische Fassung beinhalten.
Ontologischer Naturalismus
Gemäss dem ontologische Naturalismus (auch metaphysischer Naturalismus) kommt nur natürlichen Dingen eine reale Existenz zu. Ein eigener ontologischer Status für mentale Prozesse wird verneint. Im Rahmen der Identitätstheorie wird vielmehr die Auffassung vertreten, dass psychische und neuronale Prozesse zueinander korrespondieren. Mentale Prozesse sind demnach auf zwei unterschiedlichen Weisen zugänglich, einer introspektiven und einer neurophysiologischen Weise.
Methodologischer Naturalismus
Der methodologische Naturalismus besagt, dass nur Methoden der Erkenntnisgewinnung zulässig sind, die sich vollständig auf natürliche Vorgänge stützen. Er verneint damit eigenständige Methoden für Philosophie oder die Geisteswissenschaften. Er wendet sich nicht notwendig, wie der ontologische Naturalismus, gegen die Existenz übernatürlicher Dinge und ist deswegen mit verschiedenen Weltanschaunungen wie etwa Agnostizismus, Atheismus, Pantheismus und Theismus vereinbar. Diese Variante des philosophischen Naturalismus wird in der Nachfolge von Sellars und Quine heute vor allem in der Tradition der englischsprachigen Analytischen Philosophie vertreten.
Kritik
Im methodologischen Naturalismus wird nach Geert Keil aus der metaphysischen These „Alles ist Natur” die methodologische These vom Erklärungsprivileg der Naturwissenschaften abgeleitet. Dieser Naturalismus folgt dem Scientia mensura-Satz, nach dem das naturalistische Verstänndis der Naturwissenschaft das "Maß aller Dinge" ist, und nicht die Menschen, die sie betreiben. "Die naturwissenschaftlichen Methoden sind der Königsweg zur Wahrheit, sie können überall angewandt werden und verschaffen Wissen über alles, worüber es überhaupt etwas zu wissen gibt. Dieser Naturalismus ist also kein Ismus der Natur mehr, sondern ein Ismus der Naturwissenschaften. Für diese Position gibt es noch einen anderen Ausdruck, nämlich Szientismus."
George Edward Moore kritisiert jede Ethik als ethischen Naturalismus, die dem 'naturalistischen Fehlschluss' erliegt. Der 'naturalistische Fehlschluss' ist für Moore der unzulässige Übergang von deskriptiven oder Seinsaussagen, die Tatsachen beschreiben, hin zu normativen oder Sollensaussagen, die dann sittliche Forderungen nach sich ziehen. Aufgrund dessen untersucht die Metaethik lediglich die tatsächliche Verwendung ethischer Bewertungsausdrücke.
Der methodologische Naturalismus wurde unter Anderem von Karl Popper in seiner Logik der Forschung (1935) kritisiert. Er wandte sich darin gegen seine Induktionsmethode, nach der Theorien nur aufgrund von Beobachtungen gebildet werden dürfen, und gegen das als Abgrenzungskriterium dabei herangezogene "Sinndogma", das Metaphysik als "sinnlos" erklärte. Popper schlug stattdessen eine Methode des Versuchs und Irrtums und die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium vor (wobei er sich später immer wieder gegen die Fehlinterpretation als Sinnkriterium wehrte).
Gegen den metaphysischen Naturalismus argumentiert u.a. die Natürliche Theologie. Gegen den ethischen Naturalismus kann auf die Kritik am Naturalistischen Fehlschluss sowie am Relativismus verwiesen werden.
Zwei weitere naturalistische Fehlschlüsse können nach Dirk Hartmann der methodologischen Variante des philosophischen Naturalismus nachgewiesen werden:
- Erstens: der Fehlschluss der Ontologisierung naturwissenschaftlicher Theorien
- Dieser Fehlschluss besteht in dem logischen oder sprachlichen Schritt, von beobachtbaren oder "phänomenalen" Gegenständen auf solche der Konstruktebene zu schließen oder überzugehen; sachlich gesehen werden damit beide sprachlich gleichgesetzt.
- Beispiel: Eine forschungsleitende methodologische Norm wie das elementare und für die experimentellen Wissenschaften grundlegende Kausalprinzip wird durch einen derartigen Fehlschluss der Ontologisierung zum sogenannten Kausalgesetz. Zusammen mit der weiteren ontologisierenden Unterstellung, dieses "Gesetz" gelte in der gesamten Welt oder Wirklichkeit, ergeben sich als Konsequenzen des Fehlschlusses der Ontologisierung als weitere Annahmen die von "Naturgesetzen" sowie die eines durchgehenden Determinismus der Welt bzw. der gesamten Wirklichkeit.
- Zweitens der Fehlschluss des ontologischen Primats theoretischer Gegenstände der Konstruktebene
- Dieser besteht darin, Konstrukte in naturwissenschaftlichen Theoriekonstruktionen für primär oder – dem vorgenannten Fehlschluss entsprechend wieder ontologisierend – für wirklicher oder grundlegender zu erklären als beobachtete Phänomene, obwohl es sich real dabei lediglich um unterschiedliche sprachliche oder formelhafte Darstellungen desselben phänomenalen Bereichs handelt.
- Beispiele: Musik wird zu Luftschwingungen erklärt, Wärme zu Molekülbewegungen, Wasser zu H2O, H zu einem Wasserstoffatom usw. Aus der deswegen naheliegenden Auffassung, die Wirklichkeit bestehe tatsächlich aus diesen sprachlichen oder formelhaften Beschreibungen, folgt logisch die Forderung, die phänomenalen Beschreibungen auf die der Konstruktebene zurückführen; wissenschaftstheoretisch ergibt sich hieraus das Programm des Reduktionismus.
Literatur
- D. Papineau: Philosophical Naturalism. Oxford, 1993
- Wendel, Hans-Jürgen: Die Grenzen des Naturalismus. Mohr-Siebeck: Tübingen 1997.
- Hartmann, Dirk: Das Leib-Seele-Problem in der Analytischen Philosophie. III. Teil der Abhandlung desselben Autors: Philosophische Grundprobleme der Psychologie. Darmstadt: WBG 1998, S. 257-328 ISBN 3-534-13887-2
- Keil, Geert und Herbert Schnädelbach (Hrsg.): Naturalismus. Philosophische Beiträge. Frankfurt: Suhrkamp 2000 (stw 1450) ISBN 3-518-29050-9
- Keil, Geert: Anthropologischer und ethischer Naturalismus. in: Göbel, B., A. M. Hauk und G. Kruip (Hrsg.): Probleme des Naturalismus. Paderborn: mentis 2005
- Bunge, Mario; Mahner, Martin: Über die Natur der Dinge. Hirzel-Verlag: Stuttgart 2004, ISBN 3-7776-1321-5