Geschichte der Bildungsbenachteiligung in der Bundesrepublik Deutschland
Das Bildungssystem der Kaiserzeit, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus gründete auf der Ansicht, dass eine heterogene Bildungspolitik, also eine, die die Schüler in Schultypen entsprechend ihrer vermeintlichen Leistung einsortiert, vorteilhaft sei. Während der Reichsschulkonferenz 1920 konnten sich die Positionen der Linksparteien nach einer Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems und der Zuordnung des Kindergartens zur Schule (das heißt verpflichtent für alle Kinder und mit einem Bildungsauftrag) statt zur Jugendwohlfahrt nicht durchsetzen.[1] Professor Binder als Befürworter der Beibehaltung der Gymnasien äußerte sich hier folgendermaßen: "Je länger die geistig Kräftigsten und Anspruchsvollsten mit allen anderen, auch den Mittelmäßigen und den praktisch, nicht wissenschaftlich Begabten zusammen unterrichtet werden, um so mehr werden sie geistiger Zuchtlosigkeit und Schlaffheit verfallen"[2]
Nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Regime setzen die Alliierten eine Kommission ein, welche ergründen sollte, inwiefern das deutsche Bildungssystem dazu beigetragen hat, dass sich der Nationalsozialismus in Deutschland entfalten konnte. Die ZOOK-Kommission kam zu dem Schluss, dass die sehr frühe Einteilung des dreigliedrigen Schulsystem ein Standesdenken fördere, welches eine Untertanenmentalität hervorbringe. Daher empfahl die Kommission (Direktive 54 der Alliierten Kontrollbehörde) den Aufbau eines sozial gerechten Schulsystems "mit gleichen Bildungsmöglichkeiten für alle":
- unentgeltliche Bildungsangebote und Unterstützung für Bedürftige
- die Ersetzung des alten Schultyps durch eine Einheitsschule. Diese sollte aus einer sechsjährigen Grundschule und darauf aufeinanderfolgende Abschnitte bestehen, jedoch nicht aus verschiedenen Schulformen
- die "gesamte Lehrerausbildung sollte an einer Universität oder einem Pädagogischen Insitut von Universitätsrang erfolgen".[3]
Soziale Herkunft der Studenten im Vergleich zur sozialen Schichtung der Gesamtbevölkerung 1955/56 | ||
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Soziale Schichten | Gesamtbevölkerung | Studentenschaft |
Obere Mittelschicht | 4,6 % | 47,2 % |
Untere Mittelschicht | 38,6 % | 47,4 % |
Obere Unterschicht | 13,3 % | 5,0 % |
Untere Unterschicht | 38,6 % | 0,4 % |
Unklassifizierbar | 4,9 % | - |
(R. Dahrendorf: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten, 1965, S. 9) |
In den West-Sektoren wurde dieser Empfehlung nur sehr sporadisch nachgegangen und schließlich einigten sich 1955 die Kultusminister in der jungen Bundesrepublik für die Beibehaltung des alten Schulsystems. In der Regel hieß es für Arbeiterkinder damit weiterhin, dass sie zur Volksschule gingen, um dann mit 14 selber einen Beruf als Arbeiter oder Arbeiterin nachzugehen. Während 1955/56 die Untere Unterschicht in der Bundesrepublik Deutschland 38,6 Prozent der Bevölkerung ausmachte, konnten innerhalb der Studierendenschaft nur 0,5 Prozent der dieser Schicht zugeordnet werden. Georg Picht brachte 1964 in einer Zeitschrift den Begriff Bildungskatastrophe[4] ein, welcher für viel Wirbel sorgte und die Bildungsreform einläutete. Ralf Dahrendorf machte Mitte der 1960er Jahre auf diese Bildungsbenachteiligung in seiner Untersuchung Arbeiterkinder an deutschen Universitäten[5]aufmerksam. Eine ethnologische Untersuchung der kalifornischen Stanford University kam zu dem Schluss, dass der Unterricht für Arbeiterkinder Anfang der 1960er Jahre in Baden-Württemberg im Einüben normativer Sinnsprüche bestand. Diskretion und Takt von Lehrern gegenüber Arbeiterkindern gab es nur in Ausnahmefällen. Die Auswertung ergab weiterhin, dass Schüler in den Volksschulen regelmäßig geohrfeigt wurden: für schlampige Hausarbeiten, Streit, Widerworte, verschmutzte Kleidung, ungewolltes Beschädigen von Schulmaterial, schlechte Tischmanieren oder langsames Essen.
Reform der unteren Schulform ab Mitte der 1960er Jahre
In den 1960ern begann eine Professionalisierung der Lehrkräfte an Grund - und Volksschulen. Mit dem Hamburger Abkommen von 1964 wandelte sich die Volksschuloberstufe zur Hauptschule. Statt von den klassischen All-round-Volksschullehrer wurden die Schüler fortan von Fachlehrern unterreichtet. Darüberhinaus wurde Englisch als Pflichtfach eingeführt. Die achtjährige Volksschule wurde aufgelöst in die vierjährige Grundschule und die fünfjährige Hauptschule.
Schülerzahlen der Volksschuloberstufe und Hauptschule | ||||
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Schuljahr | 1952/53 | 1962/63 | 1969/70 | 1995/96 |
Schülerzahlen in Prozent | 79,3 % | 68;4 % | ca. 50% | 28,7 % |
(Herbert Gudjons: Pädagogisches Grundwissen, 8. Aufl., Bad Heilbrunn, 2003) |
Die Zahl der Volksschüler bzw. Hauptschüler hat sich seit den 1950er Jahren dramatisch verändert. Gingen Anfang der 1950er Jahre noch 4/5tel der Schüler zur Volksschule, waren es Mitte der 1990er Jahre nicht einmal mehr ein Drittel. Allerdings sind die regionalen Unterschiede beachtlich. 1995 waren in Bayern 40,2 % der Schüler Hauptschüler, während dies in Berlin nur für 8,2 % zutrifft. Hier drückt sich neben unterschiedlichen Schulkonzeptionen auch eine Stadt-Land-Problematik aus.
In manchen Ländern, wie beispielsweise in Baden-Württemberg besteht in der letzten Klasse der Hauptschule (dort die 9. Klasse) eine Abwahlmöglichkeit für Englisch.
Reform der Gymnasien
Mit dem Düsseldorfer Abkommen 1955 wurde Englisch statt Griechisch und Latein an Gymnasien verpflichtend. Dies führte zu einer gesellschaftlichen Öffnung. 1962 wurde auch an Gymnasien das Schulgeld abgeschafft. Mit der Reformierten Oberstufe und den damit entstehenden Aufbaugymnasien und Berufsgymnasien entstand für Schüler, die nicht ab der fünften Klasse ins Gymnasium wechselten, eine weitere Öffnung des Gymnasiums. Auch ermöglichte die Vielzahl der möglichen Kurswahlen in der Reformierten Oberstufe eine individuellere Berücksichtigung der persönlichen Bildungsbiografie, insbesondere stärker Einbringung von Vorkenntnissen im naturwissenschaftlichem Bereich, Erlernen einer 2. Fremsprache beginnend mit Klasse 11 und Belegung von Fächern, die erst in Jahrgangsstufe 11 beginnen, wie z. B. Erziehungswissenschaften oder Psychologie. Dies stellte für Quereinsteiger in die Oberstufe eine deutliche Vereinfachung dar. Anfang der 1970er Jahre wurden auch in einigen SPD-regierten bundesländern Gesamtschulen eingeführt. Hierbei unterschieden sich die Gesamtschulen demnächst zwischen Koop-Gesamtschulen und Integrierten Gesamtschulen. An einem Volksentscheid 1974 in NRW scheiterte das Koop-Modell der Gesamtschule. Zudem wurden in einigen Ländern ab der 5. Klasse Orientierungsstufen bis zur 7. Klasse angeboten. Diese wurden allerdings in den 1990er Jahren zum Teil wieder rückgängig gemacht (beispielsweise in Niedersachsen 1996). Die in den 1970ern eingeführte BAFöG-Förderung von Schülern der Gymnasialen Oberstufe wurde - noch unter Helmut Schmidt - 1981 weitgehend zurückgenommen.
Reform der Hochschulen
Bis 1970 bestanden darüber hinaus Studiengebühren, die ebenfalls Arbeiterkinder von der Universität abschreckten. Erst die Bildungsreformen der 70er Jahre führten dazu, dass sich allmählich die Anzahl der Arbeiterkinder an Hochschulen von 6% 1963 auf den Höhepunkt von 18 % 1982 steigerte. 1977 wurde der sogenannte Öffnungsbeschluss für Hochschulen vereinbart. 1971 in Hessen und 1972 NRW wurden Gesamthochschulen aufgebaut, welche eine Kombination von Universitäten und Fachhochschulen darstellten. Motivation hierfür war die Überwindung unterschiedlicher Zugangsvoraussetzungen (Abitur und Fachhochschulreife). Ursprünglich sollten in NRW sämtliche Hochschulen durch Gesamthochschulen ersetzt werden. Hiervon wurde jedoch bereits in den 1970ern Abstand genommen. 2003 wurden in NRW die Gesamthochschulen in Universitäten oder Fachhochschulen überführt.
Ausbildung der Lehrer: In Baden-Württemberg werdem Grund-, Haupt-, und Realschullehrer an Pädagogischen Hochschulen ausgebildet, sonst an Universitäten.
Finanzierungsfragen
BAFöG: nach dem Bundes-Ausbildungs-Fördeungs-Gesetz erhielten ab Anfang der 1970er Jahre Studierende und Schüler der Oberstufen BAFöG. Das Oberstufen-BAFöG wurde jedoch seit 1981 fast völlig abgeschafft.
Unter Bildungsminister Jürgen Möllemann wurde das nunmehr fast ausschließlich Studierenden zustehende BAFöG in ein Volldarlehen umgestellt.
Weitgehende Einschränkungen des BAFöG wurden 1995 durch den Zukunftsminister Jürgen Rüttgers vorgenommen. Diese Einschränkungen führten dazu, dass die Regelförderdauer in einigen Fächern unter der Regelstudienzeit blieb. Für die Studienabschlussfinanzierung wurden dann lediglich verzinsliche Kredite angeboten. In Kombination mit den Langzeitstudiengebühren konnten die BAFöG-Schulden, die bei 10.000 € gedeckelt wurden, zur Schuldenfalle werden.
Siehe auch: Geschichte der Pädagogik
Quellen
- ↑ Sigrid von den Steinen: Einführung in die Pädagogik der frühen Kindheit [1]
- ↑ Binder, in: Reichsministerium des Inneren 1920, S. 88, zitiert in: Peter Heyer, Renate Valtin (Hrsg.): Die sechsjährige Grundschule in Berlin. Verlag Grundschulverband - Arbeitskreis Grundschule, Frankfurt a.M. 1991,ISBN 3930024276 S. 14
- ↑ Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil II: 1918 - 1980 Göttingen: Kleine Vandenhoeck-Reihe 1981 ISBN 3-525-33454-0 S. 24f.
- ↑ Georg Picht: Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg i.Br. 1964, München 2. Aufl., 1965 ASIN B0000BMCOS
- ↑ Ralf Dahrendorf: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten 1965 Mohr Siebeck Verlag ISBN 3165174717
Literatur
- Herbert Gudjons: Pädagogisches Grundwissen, 8. Aufl., Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 2003
- Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil II: 1918 - 1980 Göttingen: Kleine Vandenhoeck-Reihe 1981 ISBN 3-525-33454-0