Studio für Probleme zeitlich naher Musik

Reihe für zeitgenössische Musik in Graz
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Das Studio für Probleme zeitlich naher Musik war eine Reihe für moderne Musik in Graz, initiiert 1952 vom damaligen Musikdirektor für Steiermark, Erich Marckhl (1902-1980).[1] Organisiert wurden die Konzerte anfangs in Kooperation zwischen Musikverein für Steiermark und Radio Graz, später auch in Verbindung mit der Akademie für Musik und darstellende Kunst (heute Universität für Musik und darstellende Kunst Graz). Im Eröffnungskonzert am 29. Januar 1953 stand der Liederzyklus Das Marienleben von Paul Hindemith auf dem Programm.[2] Wenn auch vom Umfang her bescheidener, wurde mit dem Studio für Probleme zeitlich naher Musik in Graz ein Forum für neue Musik geschaffen, das durchaus dem Vergleich mit Reihen wie der musica viva in München (gegründet 1945) oder das neue werk in Hamburg (gegründet 1951) standhält.

Zur besonderen Form der Studio-Konzert gehörten in der Anfangszeit Einführungsvorträge sowie die zweimalige Aufführung von Stücken an einem Abend. Vor allem die Wiederholung von Werken innerhalb eines Programms war ein durchaus beabsichtigter thematischer Bezug zu dem auf Initiative von Arnold Schönberg gegründeten Verein für musikalische Privataufführungen.[3] Intention der Reihe war weniger die Förderung lokaler Komponisten, vielmehr der Versuch eines Anschlusses des Grazer Musiklebens an internationale Strömungen. "Das Studio war gedacht als eine Stätte der Konfrontation mit jenen schöpferischen Kräften der Musik, die bisher in der romantisch-patriarchalisch abgeschlossenen Atmosphäre des Steirischen Provinzialismus keinen Wirkungsraum gefunden hatten."[4]

Die Reihe umfasste anfangs sechs bis neun, später nur noch zwei bis drei Konzerte pro Saison.[5] Neben den Hauptvertretern der Zweiten Wiener Schule, Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern, brachten die Programme einen repräsentativen Querschnitt klassisch-moderner sowie zeitgenössischer Komponisten, darunter Olivier Messiaen, Ernst Krenek, Hans Werner Henze, Karl Amadeus Hartmann, Béla Bartók, Igor Strawinsky, Darius Milhaud, Benjamin Britten, Edgar Varèse, Johann Nepomuk David, Rolf Liebermann, Frank Martin, Egon Wellesz, Josef Matthias Hauer, Hans Erich Apostel, Karl Schiske, Gösta Neuwirth, Friedrich Cerha, Iván Eröd, Zoltán Kodály oder Boris Blacher.[6] Einige Werke waren zum ersten Mal in Österreich zu hören, etwa Meditationen von Gottfried von Einem, Gesänge der Gefangenschaft von Luigi Dallapiccola oder Ulysses von Mátyás Seiber. Auch kamen in der 1950er Jahren Komponisten wie Pierre Boulez, György Ligeti oder Luigi Dallapiccola als Vortragende und Interpreten eigener Werke nach Graz.[7][8]

Obwohl in seiner Intention durchaus ähnlich ausgerichtet, stand das Studio für Probleme zeitlich naher Musik gegen Ende der 1960er Jahre zunehmend im Schatten des neu gegründeten musikprotokoll im Rahmen des steirischen herbst.[9] 1975 wurde es nach dem Tod des letzten Leiters Max Heider aufgelöst.[10]

Einzelnachweise

  1. Der Komponist Erich Marckhl, Mitglied in der NSDAP seit 1933, war während der nationalsozialistischen Herrschaft einer der einflussreichsten Funktionäre des Wiener Musiklebens. Nach nur zweijähriger Zwangspause gelang es ihm schnell wieder zentrale musikalische Posten im der Steiermark zu besetzen: 1948 wurde Marckhl Leiter, 1949–52 Direktor der Städtischen Musikschule in Kapfenberg. Ebenfalls im Jahre 1948 wurde ihm das neu eingerichtete kleine Seminar für Musikerziehung am Landeskonservatorium (heute Johann-Joseph-Fux-Konservatorium) in Graz übertragen. Ab 1957 war Marckhl in Personalunion Landesmusikdirektor und Leiter des Landeskonservatoriums Graz, später erster Präsident der Grazer Akademie für Musik und darstellende Kunst (heute Universität für Musik und darstellende Kunst Graz). Zu Marckhls nationalsozialistischer Vergangenheit siehe Boris von Haken: "In Stein gemeißelt. 200 Jahre Kunstuniversität Graz", in: Quer. Architektur und Leben im urbanen Raum 24 (2017), S. 9–11. Im Jahr 2019 wurde an der Musikuniversität Graz ein Projekt gestartet, das sich die Erforschung des Lebens und Wirkens von Marckhl zum Ziel gesetzt hat. Erich Marckhl – Musikausbildung in der Steiermark nach 1945. Brüche und KontinuitätenUniversität für Musik und darstellende Kunst Graz, abgerufen am 23. Januar 2022.
  2. Harald Kaufmann: Neue Musik in Steiermark, Graz 1957, S. 73.
  3. Zur thematischen Ausrichtung der Reihe siehe auch den Aufsatz "Erleben – Analysieren – Kritisieren. Zum Wechselverhältnis von Praxis und Theorie bei Harald Kaufmann" in: Werner Grünzweig, Gottfried Krieger (Hrsg.): Harald Kaufmann: Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik. Wolke, Hofheim 1993, S. 10–11.
  4. Erich Marckhl: "Das Studio für Probleme zeitlich naher Musik", in: Werden und Leistung der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz, Graz 1972, S. 19.
  5. Harald Kaufmann: Eine bürgerliche Musikgesellschaft. 150 Jahre Musikverein für Steiermark, Graz 1965, S. 154-155.
  6. Erich Marckhl: "Bilanz" (Vortrag vom 4.2.1966) in: E. Marckhl: Musik und Gegenwart II, Graz, o.J., S. 92.
  7. Die Kontakte zu den Komponisten kamen durch den Musikforscher und Journalisten Harald Kaufmann (1927-1970) zustande. Marckhl und Kaufmann waren, trotz aller weltanschaulicher Unterschiede - Kaufmann stand in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, beschäftigte sich intensiv mit der durch die Nationalsozialisten ausgerotteten jüdischen Kultur in Österreich und arbeitete für die in Graz erscheinende sozialistische Zeitung Neue Zeit, Marckhl war durch seine NS-Vergangenheit belastet und stand eher politisch konservativen Kreisen näher - solidarisch im unbedingten Eintreten für moderne Musik sowie in dem Bestreben, international bedeutende Komponisten längerfristig an Graz zu binden. Kaufmann unterstützte zudem das Studio von Beginn an publizistisch. Luigi Dallapiccola lernte Kaufmann 1955 anlässlich des Festivals Maggio Musicale in Florenz kennen. In den 1950er und 1960er Jahren kam Dallapiccola regelmäßig nach Graz. Piere Boulez traf Kaufmann Mitte der 1950er Jahre mehrfach im Rahmen der Donaueschinger Musiktage. Mit György Ligeti war Kaufmann eng befreundet. Zahlreiche Aufsätze Kaufmanns über Ligeti sowie der Briefwechsel zwischen Kaufmann und Ligeti sind abgedruckt in: W. Grünzweig, G. Krieger (Hrsg.): Harald Kaufmann: Von innen und außen. Schriften über Musik, Musikleben und Ästhetik. Wolke, Hofheim 1993. Ligeti widmete sein Stück für Frauenchor und Orchester Clocks and Clouds dem Andenken Kaufmanns. Zur Rolle Kaufmanns siehe auch von Karl Acham die Vorbemerkung "Kulturwissenschaftliche Forschung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts - ein Überblick", in: K. Acham (Hrsg.): Kunst und Geisteswissenschaften aus Graz, Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2009, S. 450.
  8. Über die Auftritte von Dallapiccola und Boulez in den 1950er Jahren in Graz berichtet Harald Kaufmann in: Neue Musik in Steiermark, Graz 1957, S. 90-93.
  9. Maria Erdinger: Zur Frühgeschichte und zur Gründung des Avantgarde-Festivals das musikprotokoll des ORF im steirischen herbst, Diss. Graz 2017, S. 68-69.
  10. Der Dirigent Max Heider (1922-1975), in der 1960er Jahren Leiter der Dirigierklasse an der Grazer Musikakademie, gründete 1963 das Collegium musicum instrumentale. Das Kammerorchester aus Lehrenden und Studierenden der Musikakademie widmete sich ausschließlich der zeitgenössischen Musik und übernahm verstärkt Aufgaben innerhalb des Studios für Probleme zeitlich naher Musik. Jedoch erlaubte die Landesförderung nur etwa drei Konzerte im Jahr. Siehe dazu auch E. Marckhl: "Das Studio für Probleme zeitlich naher Musik", in: Werden und Leistung der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Graz, Graz 1972, S. 21 sowie M. Erdinger: Zur Frühgeschichte und zur Gründung des Avantgarde-Festivals das musikprotokoll des ORF im steirischen herbst, Diss. Graz 2017, S. 69.