Entführung von Natascha Kampusch

Entführungsfall in Österreich von 1998 bis 2006
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 24. September 2006 um 14:42 Uhr durch Florian Hurlbrink (Diskussion | Beiträge) (Weblinks: chronologisch sortiert und Krone-Interview vollständig verlinkt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Die Entführung von Natascha Kampusch ist mit acht Jahren Dauer einer der längsten Fälle von Freiheitsberaubung eines Kindes, bei dem die entführte Person überlebte. Am 2. März 1998 wurde das damals zehnjährige österreichische Mädchen in Wien durch den Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführt und in dessen Privathaus in Strasshof im Bezirk Gänserndorf bei Wien gefangen gehalten. Das plötzliche Auftauchen von Kampusch nach ihrer Flucht am 23. August 2006 führte zu einem weltweiten Medienecho.

Ablauf

Entführung

Am Morgen des 2. März 1998 verließ Natascha Kampusch (* 17. Februar 1988 in Wien) kurz nach 7 Uhr die elterliche Wohnung in der Wiener Donaustadt, um zur Schule zu gehen, kam dort aber nie an. Da ein Streit mit ihrer Mutter vorausgegangen war, nahm man an, dass sie als Trotzreaktion auf den Streit von zu Hause weggelaufen sei. Hinweise von Anwohnern deuteten aber auf einen Entführungsfall hin: Laut Aussage einer damals zwölfjährigen Schulkameradin wurde Kampusch, als sie einen am Straßenrand haltenden Kleintransporter passierte, von einem Mann durch die Seitentür in den Innenraum gezerrt. Eine weitere für die junge Zeugin nicht zu erkennende Person soll am Steuer des Wagens gesessen haben.

Der weiße Kleintransporter wurde von ihr detailliert beschrieben. Da sich keine weiteren Anhaltspunkte ergaben, stellte der beauftragte Staatsanwalt die Ermittlungen dahingehend ein [1].

Der von der Tageszeitung Kurier beauftragte Berufsdetektiv Walter Pöchhacker recherchierte Spuren, die unter anderem ins Milieu der Pädophilenszene führten. Nach seinen Recherchen handelte es sich allerdings auch um Mord im Affekt als Beziehungstat, die Leiche des Mädchens wähnte er in einem Schotterteich [2]. Die Polizei kontrollierte mehr als 1.000 Besitzer weißer Kleinbusse [3], darunter auch Wolfgang Priklopil, den - wie sich später herausstellte - tatsächlichen Entführer. Den Ermittlern gegenüber gab dieser an, das Fahrzeug für Bauarbeiten zu benötigen. Nachdem die Polizei bei der Untersuchung im Innenraum des Transporters Bauschutt gefunden hatte und die damalige Unbescholtenheit Priklopils in Betracht zog, wurde er nicht für verdächtig erachtet [4].

Trotz aufwändiger Ermittlungen – verdächtige Personen aus dem Umfeld der Entführten wurden einem Lügendetektortest unterzogen – konnte der Fall jahrelang nicht aufgeklärt werden. Laut Leitung der Sonderkommission des Entführungsfalls kann auch die Möglichkeit eines zweiten Täters nach wie vor nicht ausgeschlossen werden. [1]

Leben in Gefangenschaft

Natascha Kampusch wurde 3096 Tage lang im niederösterreichischen Strasshof festgehalten [5]. Laut Aussage des Leiters des österreichischen Bundeskriminalamts war sie in einer Montagegrube unter der Garage eines Einfamilienhauses versteckt. Diese war mit einer schalldichten Tresortür verschlossen. Der kleine, fensterlose Raum war 181 cm breit und vom 50 cm x 50 cm großen Eingang an der Schmalseite aus betrachtet linksseitig 278 cm lang und rechtsseitig 246 cm lang. Auf der linken Seite stand kurz hinter dem Eingang ein Hochbett, darunter blieb eine 157 cm hohe Fläche frei; insgesamt war der Raum 237 cm hoch. Auf der dem Bett gegenüberliegenden Seite standen ein kleiner Schreibtisch, darüber ein kleiner Fernseher. Der Rest dieser Wand war mit Regalen ausgestattet. In der Ecke rechts neben dem Eingang befanden sich ein WC und eine Edelstahlspüle mit zwei Becken als Waschgelegenheit. Der Eingang zu dem Versteck war so gut getarnt, dass es auch bei einer Hausdurchsuchung nicht gefunden worden wäre, so die Ermittler.

Kampusch gab an, sie sei im ersten halben Jahr nach der Entführung dort permanent verblieben. Später sei sie zeitweise in das Haus des Entführers gelassen worden, wenn dieser allein war; beispielsweise zum Duschen. Nach mehreren Jahren hatte sie das Versteck im Beisein ihres Entführers auch für gelegentliche Einkäufe und Spaziergänge, einmal auch für einen Schiausflug[6] verlassen dürfen. Sie durfte dabei keinerlei Kontakt zu anderen Personen herstellen. Er drohte ihr im Falle einer Zuwiderhandlung an, sie und die betreffenden Personen zu töten.

Kampusch erhielt vom Entführer ausgewähltes Zeitungsmaterial, durfte Bücher lesen, Radio hören oder Videos anschauen. Auch gab sie an, dass der Entführer ihr häufig Unterricht in Lesen und Schreiben gegeben habe. Psychologen und Polizisten, die nach ihr Flucht mit ihr sprachen, stellten eine trotz der langjährigen Isolation hohe Intelligenz und treffende Artikulation fest. Sie war über das Tagesgeschehen in der Welt gut informiert.

Flucht von Natascha Kampusch

Natascha Kampusch konnte laut eigenen Angaben infolge einer Nachlässigkeit Priklopils zu Mittag des Mittwoch, 23. August 2006, von dessen Grundstück flüchten. Als sie Priklopils Fahrzeug reinigte und dabei Staub saugte, läutete um 13 Uhr sein Mobiltelefon. Ein Wiener hatte Priklopils Zeitungsinserat gelesen, in dem er eine Wohnung im 15. Wiener Bezirk anbot, und erkundigte sich danach. Priklopil entfernte sich wegen des Staubsaugerlärms einige Meter. [7] Kampusch nutzte diese Gelegenheit und flüchtete. Sie gelangte in einen Nachbarsgarten und klopfte an das Fenster. Der Nachbarin erklärte sie ihre Situation, teilte ihren Namen mit und fragte sie, ob sie alte Zeitungen aus dem Jahr 1998 besitze. Kampusch warnte vor Priklopil, dann wurde die Polizei alarmiert, die Kampusch zur Polizeiinspektion brachte. Später wurde Kampuschs Identität durch den Fund ihres Reisepasses im Haus des Entführers, das Wiedererkennen einer Narbe durch die Eltern und schließlich einen DNA-Test bestätigt.

Priklopils Flucht

Priklopil bemerkte die Flucht Kampuschs, kurz nachdem er sein rund vier Minuten dauerndes Telefongespräch beendet hatte, und begab sich auf die Suche nach ihr. Die Polizei hatte in der Zwischenzeit die gesamte Hauptstadt zum Fahndungsgebiet erklärt. Priklopil konnte entkommen, sein Fahrzeug fand man jedoch wenig später im Parkhaus des Wiener Donauzentrums, das sogleich von der Polizei umstellt wurde. Priklopil verständigte einen Bekannten und bat diesen, ihn abzuholen; er sei bei einer Kontrolle alkoholisiert am Steuer erwischt worden und benötige Hilfe. Er versprach dem Bekannten aber, sich der Polizei später zu stellen. Der Bekannte holte ihn vom Donauzentrum ab und brachte Priklopil in die Nähe des Praters. Kurz vor 21 Uhr des gleichen Tages warf sich Priklopil im 2. Bezirk zwischen den Stationen Wien Nord und Traisengasse vor einen Richtung Gänserndorf fahrenden Zug der Wiener S-Bahn und zog sich tödliche Verletzungen zu. [8]

Nach der Flucht

Helfer und Berater

Nach ihrer Flucht hält sich Kampusch im Wiener AKH auf.[9] Verschiedentlich konnte sie Besuche empfangen, u. a. von ihren Eltern. Sie wird von einem Team betreut, dem der Wiener Kinderpsychiater Max Friedrich sowie die Jugendanwältin der Stadt Wien, Monika Pinterits, angehören. Ziel des Teams ist es, einerseits Kampuschs Therapie zu koordinieren und andererseits ihren Weg zu einem eigenständigen Leben zu sichern. Dazu zählt auch das Nachholen des versäumten Schulbesuchs sowie die Matura.

Kampuschs Betreuerteam war Veränderungen unterworfen. So musste der ursprünglich vorgesehene Anwalt wegen Überlastung aufgeben und eine andere Sozietät wurde beauftragt. Zum Team gehörte bis zum 12. September außerdem der Wiener Medienberater und PR-Experte Dietmar Ecker, der die eintreffenden Interviewanfragen, Buch- und Filmprojekte koordinierte. Ecker hatte nach eigenen Angaben rund 300 Anfragen von internationalen Medien für ein Exklusivinterview erhalten und bezeichnete seine Arbeit als sehr schwierig.[10]

Das Medienecho

Nach der gelungenen Flucht dehnte sich das Interesse auf internationale Medien aus. Die Pressekonferenzen des Teams, das Kampusch betreut, wurden von Medienvertretern aufmerksam verfolgt. Der vereinzelt geäußerten Kritik an der intensiven Berichterstattung traten Chefredakteure österreichischer Medien entgegen und bezeichneten die Berichterstattung insgesamt als angemessen.[11]

Natascha Kampusch wandte sich am 30. August 2006 in einem offenen Brief an Medienvertreter und die Öffentlichkeit. Darin schilderte sie kurz einige Details aus ihrer Gefangenschaft und beschrieb ihr Verhältnis zu Priklopil, das sie als gleichrangig charakterisierte. Auch bat sie in dem Brief darum, ihre Privatsphäre zu respektieren. Der Brief wurde zunächst vom Psychiater Friedrich auf einer Pressekonferenz vorgelesen und später in Medien veröffentlicht. Friedrich gab an, Kampusch selbst habe den Brief auf Zetteln formuliert, er selbst habe lediglich eine handschriftliche Zusammenfassung dieser Notizen angefertigt. Die Passage, wonach Priklopil Kampusch auf Händen getragen und mit Füßen getreten habe, stamme genau so von der Betroffenen selbst.[12]

Knapp zwei Wochen nach der Flucht strahlte der Österreichische Rundfunk (ORF) am 6. September 2006 das erste, von Christoph Feurstein[13] geführte Interview mit Kampusch im kurzfristig geänderten Hauptabendprogramm des Fernsehens sowie im Hörfunk aus. Natascha Kampuschs Gesicht war dabei entgegen vorheriger Spekulationen weder verhüllt, noch wurde es nachträglich unkenntlich gemacht. Sie berichtete trotz ihrer langen Entführung weitestgehend gefasst und für ihr Alter sehr sprachfertig über die Umstände ihrer Gefangenschaft, aber auch über ihre Sicht auf den Entführer und ihr Gefühlsleben. Nochmals bat sie eindringlich um die Wahrung ihrer Privatsphäre. Teletest ermittelte, dass 2,655 Millionen Österreicher über 12 Jahren das Interview verfolgten, was 80% des Marktanteils entspricht[14]

Der ORF hat nach eigenen Angaben nichts für das Interview bezahlt, wird kostenlos die internationale Rechtevermarktung übernehmen und die Erlöse in einen für Kampusch eingerichteten Fonds einzahlen.[15] Spiegel Online berichtet etwa von einer sechsstelligen Summe beim Verkauf der Erstrechte an den deutschen Privatfernsehsender RTL, der mit dem Interview eine Einschaltquote von 7,13 Millionen Zuschauer erreichte[16], sowie von einem Rechtekauf der ARD für eine spätere Ausstrahlung nach Mitternacht.

Ein weiteres Interviewpaket wurde mit der Wiener Neue Kronen Zeitung sowie der Wochenzeitschrift News ausgehandelt. Kampusch wurde dazu von den Journalisten Marga Swoboda und Alfred Worm interviewt. Die Interviews wurden in den genannten Printmedien annähernd gleichzeitig in bebilderter Form wenige Stunden vor Ausstrahlung des TV-Interviews veröffentlicht. Basis für den Zuschlag an News und die Krone waren laut der Tageszeitung Der Standard deren materielle Unterstützungsangebote für Kampuschs zukünftiges Leben.[17]

Ein weiteres Motiv für die Vergabe der Interviews war aus Sicht des zeitweise als Kampuschs Medienberater engagierten Dietmar Ecker der Versuch, die Boulevardmedien direkt zu beeinflussen, wie er im Interview mit der Wiener Stadtzeitung Falter.[18] angab. In einem Interview mit der Zeitung "Die Zeit" wies Ecker zudem auf den enormen Druck hin, den viele Journalisten auf Kampusch und ihre Angehörigen sowie auf die Angehörigen Priklopils ausgeübt hatten, einschließlich der Drohung, der Phantasie entsprungene Berichte über Kampusch zu veröffentlichen, wenn sie nicht zu einem Interview bereit sei. "Die globale Vernetzung der Medien" erfordere eine Verschärfung der Mediengesetze "auf europäischer Ebene" zum Schutz der Persönlichkeitsrechte.[19]

Ähnliche Fälle

Zum Entführungsfall Kampusch gibt es in der jüngeren Kriminalgeschichte einige Parallelen:

  • 1972 wurde der damals siebenjährige Amerikaner Steven Stayner von einem Kinderschänder verschleppt, der ihn bis 1980 gefangenhielt. Er zog mit ihm quer durch Kalifornien und gab ihn als seinen Sohn aus.
  • Sano Fusako aus Japan fiel 1990 mit 10 Jahren Sato Nobuyuki in die Hände und kam erst 2000 frei; ihr Peiniger selbst hatte psychische Schwierigkeiten; er bedrohte sie mit Messern und schlug sie.
  • Die Amerikanerin Tanya Kach wurde 1996 mit 14 Jahren entführt und verbrachte die Zeit bis 2006 in der Gewalt ihres Kidnappers; Familienmitgliedern des Entführers wurde vorgespielt, sie seien ein Paar.

Die Literatur kennt eine auffallende Parallele: Im Roman The Collector (1963) von John Fowles entführt ein sozial und emotional unfähiger Mann eine junge Frau mittels eines Lieferwagens und sperrt sie in einem gut vorbereiteten Kellerverlies ein. Verschiedene Medien haben auf diese Ähnlichkeit hingewiesen; allerdings fehlen Belege dafür, dass Wolfgang Priklopil von diesem Roman Kenntnis hatte oder dessen Verfilmung gesehen hat[20]. Zudem habe Priklopil auch nur selten gelesen[21].

Quellen

  1. a b Der Spiegel: Soko prüft Hinweis auf Komplizen, 25. August 2006 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „spiegel-250806“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  2. Die Presse: Jahrelang Spekulationen um Natascha, 24. August 2006
  3. Der Spiegel: Vermisstes Mädchen taucht nach acht Jahren wieder auf, 23. August 2006
  4. Der Standard: Es ist Natascha Kampusch, 24. August 2006
  5. Der Spiegel: 3096 Tage hinter einer schalldichten Tresortür, 24. August 2006
  6. noe.ORF.at:Kampusch war mit Entführer auf Skiausflug
  7. RP online: Staubsauger half Natascha bei der Flucht, 25. August 2006
  8. wien.ORF.at: Großfahndung nach mutmaßlichem Entführer, 23. August 2006
  9. Die Presse.com: "Natascha Kampusch braucht jetzt Ruhe", 7. September 2006 [1]
  10. Der Standard: "Zum zweiten Mal Opfer" – Buße oder Entgelt von Medien, 30. August 2006 [2]
  11. Der Standard: Chefredakteure halten Berichterstattung für "angemessen", 29. August 2006[3]
  12. Der Standard: Kampusch-Brief war Zusammenfassung, 1. September 2006[4]
  13. Der Standard: Kopf des Tages: Christoph Feurstein, kein Mann für "leichte Kost", 5. September 2006[5]
  14. Mediaresearch.orf.at TV-Interview mit Natascha Kampusch [6]
  15. Der Standard: Andrea Ramirez-Gillett verkauft im ORF die Rechte am Interview, 5. September 2006[7]
  16. quotenmeter.de: Kampusch-Interview lockt sieben Millionen zu RTL
  17. Der Standard: Kampusch spricht – am Boulevard, 5. September 2006[8]
  18. Falter: Handel mit Emotionen, Ausgabe 37/06 S.21f
  19. Die Zeit: Wurde sie erpresst? Ausgabe 14.09.2006 Nr. 38 [9]
  20. http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,434718,00.html
  21. http://www.timesonline.co.uk/article/0,,3-2339179,00.html