Der Begriff Materialismus (abgeleitet von Materie) bezeichnet drei verschiedene Positionen:
- Der erkenntnistheoretische oder ontologische Materialismus ist eine philosophische Position, die die gesamte Wirklichkeit auf ein einziges Grundprinzip, nämlich die Materie, zurückführt (siehe Monismus). Der Materialismus geht davon aus, dass alle Vorgänge und Phänomene der Welt, z.B. auch Gedanken und Ideen, Erscheinungsformen der Materie sind bzw. auf solche zurückgeführt werden können. Er erklärt den Menschen, die ihn umgebende Welt und die in ihr ablaufenden Prozesse ohne geistige bzw. immaterielle Elemente (wie beispielsweise Gott oder die Seele), deren Existenz sich mit der Methodik der Naturwissenschaft, insbesondere dem Experiment, nicht überprüfen (verifizieren bzw. falsifizieren) lässt. In der Gegenwartsphilosophie wird der Begriff "Physikalismus" oft gleichbedeutend mit „Materialismus“ verwendet. - Gegenbegriff ist der erkenntnistheoretische (auch: ontologische) Idealismus, für den das eigentlich Wirkliche die Ideen sind; was wir wahrnehmen, seien nur Abbilder davon. Siehe auch: neutraler Monismus.
- Der historische Materialismus (genauer: ökonomischer Materialismus), der auf Karl Marx zurückgeht, überschneidet sich mit dem erkenntnistheoretischen Materialismus, ist aber nicht mit ihm identisch. Er sieht die menschliche Geschichte nicht so sehr durch Ideen, sondern hauptsächlich durch ökonomische Interessen (und Interessenkonflikte) bewegt. Demnach werden beispielsweise Kriege in erdölreichen Gebieten nicht aus moralischen Gründen, sondern wegen der Ölquellen geführt. Dem historischen Materialismus zufolge durchläuft die Geschichte streng deterministisch eine Abfolge verschiedener Phasen, an deren Ende die klassenlose Gesellschaft, der Kommunismus, steht. - Der Gegenbegriff ist der wissenschaftstheoretische Idealismus, der Ideen bzw. Ideale als einen (von materiellen Interessen) unabhängigen Faktor der Menschheitsgeschichte ansieht.
- Der ethische Materialismus, alltagssprachlich der gebräuchlichste Begriff, kennzeichnet (meist abwertend) eine Lebenseinstellung, die hauptsächlich nach materiellem Besitz und Wohlstand strebt. Siehe auch: Konsumgesellschaft, Konsumismus.
Geschichte
Die Ursprünge des Materialismus liegen in der griechischen Naturphilosophie, wichtige Vordenker sind u.a. Thales, Anaxagoras, Parmenides, Epikur, vor allem aber Leukipp und Demokrit, die Begründer der Atomistik. Die Naturphilosophen suchten natürliche Erklärungen der Wirklichkeit anstelle der mythologischen. Die Naturphilosophie gilt somit auch als Vorläuferin der modernen Wissenschaft.
In der Scholastik wurde die Materie als rein passiv betrachtet. Beeinflusst durch die Peripatetische arabische Schule der Aristoteliker Avicenna (Ibn Sina), Avicebron (Ibn Gabirol) und Averroës (Ibn Roschd) sprach in der Spät-Renaissance Giordano Bruno der Materie aktive Fähigkeiten zu.
Als wichtige Vertreter in der europäischen Aufklärung gelten Paul Heinrich Dietrich von Holbach, Claude Adrien Helvétius, Julien Offray de La Mettrie, Denis Diderot und Ludwig Feuerbach.
Ein streng mechanistisches Weltbild entwarf der französische Mathematiker, Physiker und Philosoph Laplace. Er behauptete, durch die Kenntnis des gegenwärtigen Zustands eines jeden Teilchens im Universum ließe sich auf Grundlage der bekannten (und absolut erfassbaren) mechanischen Gesetze der Zustand des Universums zu jedem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft bestimmen. Der Laplacesche Determinismus hat damit gravierende Auswirkungen auf die Naturphilosophie gehabt, da das Universum in diesem Fall nicht nur vorhersehbar, sondern durch seine Anfangsbedingungen bereits vorherbestimmt sei (siehe Laplacescher Dämon).
Zu den bekanntesten materialistischen Philosophen zählen Karl Marx und Friedrich Engels. Sie verbanden den Materialismus mit der Dialektik, und erklärten die Wirklichkeit als Prozess der permanenten Wechselwirkung von Geist und Materie (vgl. Dialektischer Materialismus). Weiter sei hier der Anarchist Michail Bakunin erwähnt, der in seinem Werk "Gott und der Staat" versucht, die Frage zu beantworten, ob Idealisten oder Materialisten im Recht sind. Ernst Bloch differenziert die Philosophiegeschichte in einen Rechts-Aristotelismus und einen Links-Aristotelismus, je nachdem ob Geist / Form / Idee oder aber Materie als das Schöpferische in der Welt gesehen werde.
Mechanistischer Materialismus und die heutige Naturwissenschaft
Das mechanistische Weltbild, wie es im Laplaceschen Determinismus Ausdruck fand, ist im 20. Jahrhundert von der Quantenmechanik abgelöst worden, was mit einer Abkehr vom deterministischen Materialismus einherging. Allgemein wird die Quantenmechanik heute nicht-deterministisch interpretiert. Es gibt jedoch auch Versuche deterministische Interpretationen der Quantenmechanik zu entwickeln. Bekanntestes Beispiel ist die von David Bohm entwickelte Bohmsche Mechanik als eine deterministische Interpretation der Phänomene der Quantenmechanik. Seine Interpretation der Quantenmechanik geht davon aus, dass die nichtdeterministische Interpretation der Quantenmechanik nicht vollständig ist, und deswegen zusätzliche "versteckte Parameter" zur vollständigen Beschreibung notwendig sind. Allerdings kann experimentell nicht zwischen Bohmscher Mechanik und klassischer Quantenmechanik unterschieden werden, so dass die Existenz dieser versteckten Parameter der Bohmschen Mechanik nicht überprüft werden kann. Unter anderem deshalb sind nichtdeterministische Interpretationen heute vorherrschend, in denen der Faktor "Zufall" als objektiver Teil der Realität existiert. Wegen der Heisenbergschen Unschärferelation können in der klassischen Quantenmechanik Ort und Impuls eines Teilchens niemals zur gleichen Zeit hinreichend genau bestimmt werden. Da also der exakte Zustand eines Systems nie bekannt sein kann, ist auch die Extrapolation des gegenwärtigen Zustands eines jeden Systems besonders im mikroskopischen Bereich nur in statistischer Weise möglich. Interessanterweise gilt dies auch für einige deterministische Interpretationen der Quantenmechanik, wie die bereits erwähnte Bohmsche Mechanik, wo der Zustand der versteckten Parameter, obwohl sie sich deterministisch entwickeln, prinzipiell unbekannt ist.
Bedeutend für den Materialismus ist auch die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Auffassung von Materie. Besonders die Physik spielt hier eine große Rolle, da oftmals physikalische Größen wie Elementarteilchen oder Felder als grundlegende, die Materie konstituierende Entitäten angesehen werden. Insbesondere die Fragestellung, ob die gegenwärtig als fundamental betrachteten Bestandteile der Materie (Leptonen, Quarks) wirklich elementar sind, oder ob diese wiederum wie die früher als elementar angesehenen Teilchen (siehe Atom, Proton, Neutron) aus elementareren Teilchen zusammengesetzt sind, hat dabei Rückwirkungen auf den philosophischen Diskurs. Bedeutend für die Auffassung von Materie ist auch der in der Quantenmechanik beschriebene Welle-Teilchen Dualismus.
Kritik am Materialismus und Auseinandersetzung mit dem Idealismus
Der Materialismus ist seit seinen Anfängen kritisiert worden. Neben Auseinandersetzungen der verschiedenen Strömungen des Materialismus spielt dabei hauptsächlich die Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus eine Rolle.
Grundlegende Positionen
Eines der Hauptargumente von idealistischer Seite gegen den Materialismus ist, dass man mentale menschliche Fähigkeiten wie das Selbstbewusstsein nicht (rein) materiell verstehen und nicht vollständig auf Materie zurückführen könne. Demgegenüber ist eines der wichtigsten Argumente gegen den Idealismus bzw. für den Materialismus, dass der Idealismus die Eigengesetzlichkeit der sinnlich wahrnehmbaren Welt und deren beobachtete Unabhängigkeit von mentalen Prozessen nicht erklären könne. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass jede Form der sinnlichen Wahrnehmung sowie der Beobachtung, jenseits mentaler Prozesse unmöglich ist.
Materialismus, Erkenntnistheorie und die Wahrnehmung von Raum und Zeit
Weiter wird gegen den Materialismus argumentiert, dass der Materialismus sich nicht selbst erklären könne, da er als Theorie und nicht als Materie auftritt. Darüber hinaus sei der Begriff der Wahrheit (bzw. die gesamte Erkenntnistheorie) rein materiell nicht zu verstehen. Die Erkenntnistheorie würde durch den Materialismus auf eine empirische Wissenschaft verkürzt. Kulturelle Inhalte, Ideen und alle immateriellen Formen hätten keine eigenständige Existenz mehr. Eine Erkenntniskritik oder eine unabhängige Reflexion der Erkenntnis seien in einem Materialismus nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Eine Überprüfung von wissenschaftlichen Hypothesen wäre nur noch innerhalb bestimmter metaphysischer Vorbedingungen möglich.
Gegen diese Kritik wird eingewendet, dass die Materie sich sehr wohl selbst erklären könne, und zwar mittels ihrer "höchstentwickelten" Erscheinungsform, des menschlichen Gehirns. So habe der Mensch im Verlauf von Jahrtausenden in der praktischen Auseinandersetzung in und mit der Natur (d.h. durch Arbeit) die Fähigkeit erlangt, seine ihm über die Sinneswahrnehmung vermittelten Erkenntnisse im Denken und in der Sprache zusammenzufassen. Die Resultate des Denkens selbst (die Ideen) seien nicht materiell, beruhten aber auf der Tätigkeit des Gehirns und sind damit Produkt der Materie. Die kompliziertesten Resultate menschlichen Denkens, also die wissenschaftlichen Theorien, hätten ihren Wahrheitsgehalt immer in der konkreten Tätigkeit (z.B. Experiment, Produktion etc.) zu beweisen. Dies nennt man das Kriterium der Praxis (vgl. hierzu W.I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, Berlin 1962).
Diese Kritik des Biologismus sei allerdings auf dem eliminativen Materialismus aufgebaut (s. Churchland) und würde damit auch nicht zur "Selbsterklärung" beitragen. Der Materialismus beruhe auf der Grundannahme, dass wir die Welt so erfahren, wie sie ist, dass wir das Ding an sich unmittelbar wahrnehmen, oder sich unsere Erkenntnis doch jedenfalls im Sinne der Popper'schen Falsifikation mittels empirischer Methoden an die "Welt an sich" stetig weiter annähern kann. Dabei werde jedoch die Tatsache vergessen, dass wir alles nur so wahrnehmen, wie es uns die apriori im Geist verankerten Formen des Raumes und der Zeit erlauben. Wir nehmen die Dinge nur so wahr, wie sie die Sinne und der Geist uns liefern. Der idealistische Standpunkt lässt sich vielleicht mit folgendem (freien) Zitat aus dem buddhistischen Dhammapada zusammenfassen: "Den Dingen geht der Geist voran; der Geist entscheidet ..."
Dagegen wird jedoch wieder im Sinne der Evolutionären Erkenntnistheorie argumentiert, dass dieses angebliche geistige Apriori letztlich doch ein Aposteriori sei, nämlich insofern auf Erfahrung - also auf einer Wechselwirkung mit der Realität - beruhend, als unser Erkenntnisapparat sich im Laufe der Evolution an die eben vorhandene raumzeitliche Struktur seiner Umgebung angepasst habe und diese deshalb von Geburt an, ohne dass dies erlernt werden müsste, voraussetze.
Ethik und Materialismus
Weiterhin seien die Folgen des Materialismus für die Ethik und die Anthropologie nach Meinung seiner Kritiker "verheerend". So werde eine Ontologie konstatiert, die dem Menschen von seinem Wesen her bestimmen wolle. Die sei zu allen Zeiten Aufgabe der Theologie und Philosophie gewesen, die als Ursprung der Naturwissenschaft gelten würden. So werde von vielen bürgerlichen Philosophen der Materialismus als in den Naturwissenschaften vorherrschend angesehen, was als anmaßend und die Grenzen der Naturwissenschaft überschreitend empfunden wird.
Literatur
- Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972)
- Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus. Suhrkamp (stw 70), Frankfurt 1974
- Frederic Gregory: Scientific Materialism in Nineteenth Century Germany. D. Reidel, Dordrecht 1977.
- M. Overmann: Der Ursprung des französischen Materialismus. Die Kontinuität materialistischen Denkens von der Antike bis zur Aufklärung. Peter Lang: Frankfurt 1993.
- Annette Wittkau-Horgby: Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Vandenhoek & Ruprecht: Göttingen 1998.
- Mario Bunge, Martin Mahner: Über die Natur der Dinge. Materialismus und Wissenschaft. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2004.