Chancengleichheit

Recht auf einen gleichen Zugang zu Lebenschancen
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Chancengleichheit bezeichnet in modernen Gesellschaften das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen. Dazu gehört insbesondere das Verbot von Diskriminierung beispielsweise aufgrund des Geschlechtes, der Religion oder der Herkunft, das in den Menschenrechten festgeschrieben ist.

Während in der Natur Chancen nach statistisch beschreibbaren Regeln, per Zufall oder über die Macht des Stärkeren / Ersteren / Angepasstesten (engl. fittest) verteilt werden, werden Chancen in menschlichen Gesellschaften durch Menschen reguliert. In den Bemühungen um Chancengleichheit drückt sich das Verständnis von Gerechtigkeit als Demokratie aus. Mangelnde Chancengleichheit wird als ungerecht empfunden und kann den sozialen Frieden gefährden.

Ideologische Positionen zur Idee der Chancengleichheit

Es gibt zumindest vier ideologisch-politische Grundströmungen, die jeweils ein anderes Verhältnis zur Idee der Chancengleichheit haben:

  • Für die liberale gelten die Gesetzmäßigkeiten des Marktes (Marktwirtschaft und u.U. Kapitalismus) und der Leistung (Meritokratie). Diese seien in der Lage, langfristig Chancengleichheit herstellen. Maßnahmen zur Erhöhung von Chancengleichheit oder Schutzmaßnahmen von Schwächeren seien tendenziell schädlich und eine Verzerrung des Marktprozesses.
  • Die konservative ist bestrebt, die bestehende Ordnung zu erhalten. Veränderungen zwecks Erhöhung gesellschaftlicher Chancengleichheit werden eher abgelehnt, große gesellschaftliche Ungleichheiten allerdings auch, weil diese sich mit dem christlichen Menschenbild nicht vertragen. Zumindest das Existenzminimum sollte abgesichert werden.
  • Die sozialstaatliche ist bestrebt, durch staatliche Maßnahmen dort Chancengleichheit zu befördern, wo der Marktprozess versagt. Außerdem wird die Angleichung der Lebensverhältnisse angestrebt, jedoch nicht mit dem Ziel, völlige Gleichheit zu erreichen. Das Ziel ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit.
  • Die sozialistische Richtung strebt danach, bestehende Ungleichheiten der Chancen möglichst vollständig zu überwinden und so möglichst viel Gleichheit zu erreichen.

Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit können zum Beispiel Mainstreaming, Quotierung oder Bildungsförderung sein.

siehe auch: Chance (Ideologie)

Chancengleichheit im Bildungssystem

In den modernen Gesellschaften wird dem Bildungssystem eine große Bedeutung bei der Herstellung von Chancengleichheit zugesprochen. Allerdings besteht in der Bundesrepublik Deutschland eine international kritisierte Bildungsbenachteiligung, so dass von einer Chancengleichheit nicht gesprochen werden kann. Zahlreiche Studien belegen eine eklatante Ungleichheit der Chancen: Es "... entscheidet in keinem anderen Industriestaat die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland."[1]

Chancengleichheit im Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland

Zu den formalen Voraussetzungen auf Chancengleichheit in der Bundesrepublik Deutschland

Im deutschen Bildungssystem waren bislang die formalen Voraussetzungen auf Chancengleichheit erfüllt:
1. Es gibt nicht nur ein Recht auf Schulbesuch, sondern sogar Schulpflicht.
2. Der Schulbesuch ist, bedingt auch durch die Lernmittelfreiheit, kostenlos.
3. Das Curriculum ist an allen staatlichen Grundschulen grundsätzlich gleich.

Diese formalen Voraussetzungen für Chancengleichheit sind im konkreten Fall häufig bedroht. Beispiel dafür sind:

  • Für Migrantenkinder gilt nur bedingt die Schulpflicht.
  • Der kostenlose Schulbesuch wird durch die Aufhebung des Zuschusses für Fahrtkosten und Bücher in Nordrhein-Westfalen, so wie der Einführung von Büchergeld in Bayern konterkariert. Da auch die Übermittagsbetreuung kostenpflichtig ist und die Kinderarmut in Deutschland explosiv gewachsen ist, kann auch nur von einer kostenlosen Halbtagsschule gesprochen werden, nicht jedoch von einer kostenlosen Ganztagsschule.
  • In Nordrhein-Westfalen wird durch die Aufhebung der Grundschul-Bezirke 2008 ein zunehmendes soziales Auseinanderklaffen verschiedener Grundschulen in Kauf genommen, wodurch ein formal gleiches Curriculum unmöglich gemacht wird. Die Grundschul-Bezirke und die Verpflichtung der Eltern ihre Kinder in diese Bezirke einzuschulen hatte den Hintergrund eine soziale Ghettoisierung der Schulen zu verhindern.

Zur Realisierung von Chancengleichheit in der Bundesrepublik Deutschland

Nicht zuletzt durch die Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes und des Steuerfreibetrags für Kinderbetreuungskosten werden seitens der Bundesregierung bereits in den ersten Lebensmonaten ungleiche Bedingungen für Kinder geschaffen. Allerdings haben Kinder von Eltern mit höherem Einkommen schon prinzipiell bessere Entwicklungsmöglichkeiten, da sich die finanziellen Spielräume deutlich unterscheiden. So stehen wohlhabenden Familien deutlich mehr bildungsfördernde Instrumente im Elternhaus zu Verfügung als ärmeren Schichten. Diese Ungleichheit setzt sich fort in der Kostenpflichtigkeit von Kindergärten und Kindertagesstätten. Gerade die Verfügbarkeit von Plätzen in Kindertagesstätten ist in Westdeutschland sehr gering, sodass auch vielen interessierten Familien diese Förder- und Betreuungsmöglichkeit nicht zur Verfügung steht.

Internationale Vergleichsuntersuchungen wie die IGLU-Studie für Viertklässler, die PISA-Studie für 14jährige und der EURO-Student-Report stellen fest, dass im deutschen Bildungssystem die bestehenden Verhältnisse in einem besonderen Maß bei den kommenden Generationen aufrechterhalten werden. Dies liegt neben der verpassten frühkindlichen Förderung auch an der schwachen personellen Ausstattung der Schulen, die eine individuelle Betreuung der Kinder schwer realisierbar macht und so einen weiteren Teil der Förderung an die Elternhäuser weitergibt. Insbesondere Kinder aus Arbeiterfamilien haben kaum Chancen auf eine höhere Bildung. In jüngster Zeit sind deren Chancen nochmals deutlich gesunken. Während 1986 die Wahrscheinlichkeit, ein Studium zu beginnen, bei Beamtenkindern 9 mal so hoch wie bei Arbeiterkindern war, lag sie 2003 20 mal so hoch. Dazu trägt - in Kombination mit den oben genannten Ungleichheiten - vor allem die frühe Zuordnung in die Oberschultypen (Haupt- und Realschule sowie Gymnasium) bei, die hier in der Regel nach der 4. Klasse geschieht. (Ausnahmen sind Berlin und Brandenburg, die noch eine sechsjährige Grundschule haben.) Die außer- und vorschulischen Einflüsse (zum Beispiel die Erziehung in den Familien) können durch die kurze Grundschulzeit kaum ausgeglichen werden. Auch der 2. Bildungsweg, der in Deutschland breit ausgebaut ist, kann diesen Effekt kaum korrigieren.

In den 1960er und 1970er Jahren gab es verstärkt Versuche, Chancengleichheit im Bildungssystem herzustellen. Ausgangspunkt war der Sputnikschock und die Feststellung, dass durch die bestehenden Verhältnisse die Fähigkeiten von vielen Menschen nicht optimal ausgenutzt werden. Ralf Dahrendorf prägte in diesem Zusammenhang das Bild des katholischen Arbeitermädchens vom Lande, deren Bildungsbedürfnisse nicht angemessen respektiert würden und die besonders zu fördern sei. Ansätze zur Förderung dieser Bildungsreserve waren beispielsweise die Abschaffung der Studiengebühren und die Einrichtung von Lernmittelfreiheit, BAföG, Schüler-BAföG, Schulbussen, Oberstufenzentren, Gesamtschulen und Gesamthochschulen. Allerdings werden einige Maßnahmen momentan rückgängig gemacht: Sämtliche Gesamthochschulen wurden 2003 wieder geschlossen. Neben der Einrichtung von Langzeitstudiengebühren sollen nun auch Studiengebühren ab dem 1. Semester erhoben werden. Bedenklich ist auch die zunehmende Abschaffung der Lernmittelfreiheit. Ebenso wird kritisiert, dass in NRW ab 2006 Eltern die Möglichkeit haben sollen, die Grundschulen für ihre Kinder auszusuchen (Gefahr einer verstärkten Ghettoisierung)

Chancengleichheit im Beruf

Im Berufsleben sind Menschen ebenso von Diskriminierung betroffen wie im Alltag, wenn aufgrund des engen Zusammenlebens nicht sogar noch mehr. Da sich Diskriminierung schlecht auf die Arbeitsmoral auswirkt, innerbetriebliche Reibereien oder sogar Rivalitäten zwischen den ethnischen Gruppen entstehen können und solche Fälle in der Presse äußerst schlecht aufgenommen würden, versuchen Unternehmen in einem gewissen Rahmen, Chancengleichheit zu gewährleisten. Ein weiterer Grund für das eigenständige Handeln ist die Möglichkeit, dass durchaus qualifizierte Fachkräfte ausgegrenzt oder ferngehalten werden können oder Betroffene das Unternehmen verklagen (besonders in den USA).

Dennoch gab es gerade von deutschen Unternehmen starke Vorbehalte und Interventionen gegen das Antidiskriminierungsgesetz. Und zumindest in den Führungsetagen der großen deutschen Konzerne sind weder Frauen zu finden, noch Menschen mit einer "niedrigeren" sozialen Herkunft (Michael Hartmann: Vom Mythos der Leistungseliten, 2003)

Chancengleichheit im Unternehmen betrifft gleichen Lohn für gleiche Arbeit, das Zulassen der Besetzung angesehener Stellen durch Minderheiten und die Beseitigung versteckter Diskriminierung, wie Regelungen, die z.B. durch Präsenzpflichten Frauen mit Kindern gewisse Positionen verunmöglichen. Betriebswirtschaftliche Ansätze zur Schaffung von Chancengleichheit werden unter dem Term Diversity Management zusammengefasst. Obwohl grundsätzlicher Konsens über die Richtigkeit der Chancengleichheit besteht, ist man sich über ihren Grad uneinig.

Quellen

  1. Bundesministerium für Bildung und Forschung September 2006: Internationale Leistungsvergleiche im Schulbereich [1]

Zitate

"Chancengleichheit ist weder eine Utopie noch eine Illusion. Die abstrakte Verwirklichung von Chancengleichheit im Bildungswesen oder durch das Bildungswesen ist nichts anderes als die Legitimation (oder Verschleierung) der Regeln und Verfahren, nach denen Menschen tatsächlich in Güteklassen eingeteilt werden. Mit diesen Regeln und Verfahren werden nicht nur bereits erörterte Prämissen, Zwecke und Konsequenzen, sondern auch die Kriterien anerkannt, hinsichtlich derer Erfolg versus Mißerfolg (häufig völlig fraglos) jeweils definiert sind." (Helmut Heid 1988, S.11) siehe auch: Die Lösung des Bildungsparadox durch die Kritik der Chancengleichheit

Literatur

  • Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Klett, Stuttgart 1971
  • Heid, Helmut, Zur Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit, in: Zeitschrift für Pädagogik, Flitner Hrsg., Jahrgang 34, S.1-17, Weinheim/Basel 1988
  • Steeg, Friedrich H.: Lernen und Auslese im Schulsystem am Beispiel der "Rechenschwäche". Ffm./Berlin/Bern/N.Y./Paris/Wien 1996, Peter-Lang-Verlag, ISBN 3-631-30731-4 Rezensionen und Buchdownload

Siehe auch