Der Untergang des Römischen Reiches ist das wohl meistdiskutierte Thema der Altertumswissenschaft. Es geht um die Gründe für den Fall des (West-)Römischen Reiches, wobei höchst unterschiedliche Theorien entworfen wurden; Ostrom hingegen überdauerte den Zusammenbruch des weströmischen Kaisertums.

Ältere Forschungsmeinung
In der älteren Forschung gab vor allem Edward Gibbon den Ton an. In seinem fulminanten Werk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire postulierte Gibbon die Meinung, Rom sei vor allem an strukturellen Schwächen untergegangen: Dabei gab er zu einem nicht geringen Teil dem Christentum die Schuld; dieses habe die alten Kräfte des Römischen Reiches geschwächt. Er schloss sich auch der Dekadenztheorie Montesquieus an, während seine Christentumstheorie den Ideen Voltaires folgen.
Noch im 19. Jahrhundert gab man dem Christentum und dem äußeren Druck durch die Germanen die Schuld am Fall Roms. Es muss in diesem Kontext betont werden, dass jede Zeit versuchte, ihre eigenen Antworten zu finden - und damit nicht immer sehr glücklich lag. Oswald Spengler sah einen zyklischen Verlauf: Auf den Aufstieg eines Großreiches folge der Niedergang (Niedergang des Abendlandes). Diese zyklische Schule findet zum Teil auch heute noch Anhänger. Arnold Joseph Toynbee sah ein Versagen der moralischen Instanzen, aber auch den Zufall, der eine Rolle spielte. Die Spätantike wird in diesem Sinne oft als Spiegelbild der eigenen Gesellschaft gedeutet. So kann es dazu kommen, dass der Historiker seine eigene Zeit oft zu stark miteinbezieht (wie Spengler). Otto Seeck sah die Spätantike als eine reine Verfallszeit an, während Henri Pirenne als Grund für den Zusammenbruch der spätantiken Mittelmeerwelt den Ansturm des Islam anführte (siehe Islamische Expansion und Pirenne-These).
Neuere Forschungsmeinung
Heute wird die Spätantike, in deren Zeitraum (etwa 300 bis 600) der Fall Roms fiel, differenzierter gedeutet als beispielsweise noch von Otto Seeck. Die Dekadenztheorie wird als weitgehend obsolet betrachtet. Obwohl vor allem ab etwa 550 ein Rückgang der Bildung konstatiert werden kann, ist es wohl richtiger, statt von Verfall von Transformation zu sprechen - auch wenn diese seit etwa 1980 dominierende Sichtweise in letzter Zeit wieder von einigen Gelehrten (z. B. Bryan Ward-Perkins) angegriffen worden ist, die ausgehend vom archäologischen Befund nun doch wieder von einem Niedergang sprechen wollen, der im 5. Jahrhundert Westrom und im frühen 7. Jahrhundert Ostrom betroffen habe.
Doch der wirtschaftliche Niedergang ist als Begründung des Verfalls wohl nur bedingt gültig. Im Gegenteil: Vielmehr war die Spätantike nicht eine erstarrende Zeit, sondern eine Zeit des Umbruchs und der ungebrochenen wirtschaftlichen Vitalität, vor allem – aber anfangs nicht nur – im Osten (vgl. Demandt, Spätantike, S. 453), auch wenn es wohl in einigen Regionen zu einem Bevölkerungsrückgang kam (Jones, Later Roman Empire, Bd. 2, S. 1038 ff.).
Das gleiche trifft auf die abwertende Bezeichnung „Dominat“ zu, die eher der Haltung mancher liberaler Historiker des 19. Jahrhunderts entspricht (wie Theodor Mommsen), die im spätrömischen Reich eine Militärdiktatur erblicken wollten. Die Bürokratisierung nahm zwar zu, auch wenn das römische Reich im Vergleich zu modernen Gesellschaften eher unteradministriert war, allerdings auch die gesellschaftliche Mobilität. Zudem waren viele Züge dieser Entwicklung bereits viel früher feststellbar. Das Militär entzog sich oft der Kontrolle des Kaisers, ebenso wie die Kirche und Teile des Adels. In jene Zeit fiel vielleicht auch ein deutlicher Rückgang der Sklaverei (vgl. Demandt, Spätantike, S. 454; in der Forschung allerdings nicht unumstritten), wenn es auch verstärkt Kolonate gab (Bindung der Bauern an das Land).
Die Schuld, die dem Christentum gegeben wurde ist ebenfalls differenzierter zu betrachten. Oft wurde sie den Christen von Agnostikern gegeben. Doch objektiv mag auch einiges richtig sein, wenn auch in einem anderen Zusammenhang: So wandten sich viele Männer von höchster Integrität dem Christentum zu und verbrachten ihr Leben im Dienst der Kirche, gingen so aber dem Staat verloren. Die Bürokratie des Staates musste sich oft mit Korruption herumschlagen, wenngleich diese aber wohl auch nicht so weit verbreitet war, wie manch einer meint (vgl. Jones, Later Roman Empire, Bd. 2, S. 1063 f.).
Diesen systemimmanenten Erklärungsversuchen steht die Theorie der äußeren Einflussnahme gegenüber. Und hier kommt man auf ein Kernproblem des spätrömischen Staates zu sprechen: die Armee. Diese war längst nicht mehr in der Lage, die Grenzen effektiv zu schützen. Gründe waren eine gemessen an den gewachsenen Herausforderungen zu geringe Mannschaftsstärke sowie erhebliche Rüstungsfortschritte der Germanen; einen bedeutenden Aderlass stellten wohl auch die Schlacht von Adrianopel (378) und die am Frigidus (394) dar. Im Osten stand dem Imperium mit dem Sassanidenreich zudem ein beinahe gleichwertiger Gegner mit einer regulären Armee gegenüber. Immer mehr römische Bürger umgingen den Dienst in der Armee, die bereits in der frühen Kaiserzeit Söldner angeworben hatte. Nun nahmen Anwerbungen nichtrömischer Söldner immer mehr zu. Germanen und andere dienten in der Armee, die immer mehr barbarisiert wurde. Hinzu kam ein starker Druck auf die Grenzen. Den Römern gelang es nicht, die Germanen in den Reichsverband einzubinden (Demandt, Spätantike, S. 471). Das Problem mit unzuverlässigen Barbaren trat jedoch nach den Quellen nur bei den foederati auf, also den als Bundesgenossen dienenden Germanen, nicht aber bei den ins Heer integrierten Germanen (Jones, Later Roman Empire, Bd. 2, S. 1038). Die Rolle, die die Germanen letztlich bei der Entstehung der mittelalterlichen Welt spielten - besetzten bzw. übernahmen sie das Weströmische Reich eher, als dass sie es gewaltsam erobert hätten? - ist bis heute nicht befriedigend geklärt worden.
Unfähige Kindkaiser (Arcadius, Honorius, Valentinian III.) und die Haltung manch eines (meist germanischen) Magister militum, lieber die Waffen gegen die eigene römische Regierung zu ergreifen, um so die eigene Position zu stärken, trugen zum Machtverlust des westlichen Kaisertums bei. Westroms Macht war schon vor 476 bzw. 480 zeitweilig nur noch ein Schatten seiner selbst - die kaiserliche Zentralregierung in Ravenna wurde schließlich von den germanischen Heermeistern ausgehebelt. Als Zäsur gilt die Ermordung des weströmischen Generals Flavius Aëtius 454, der mit seinen Armeen die römische Herrschaft in Italien, weiten Teilen Galliens sowie Katalonien und Dalmatien aufrecht erhalten hatte.
Die germanischen Foederaten übernahmen nun die Verwaltung ihrer Gebiete vollends selbst und erkannten z. T. den oströmischen Kaiser als ihren Oberherren an. Noch Justinian I. war in der Lage, den römischen Herrschaftsanspruch im Westen auch militärisch durchzusetzen - zumindest teilweise und für begrenzte Zeit. Erst die arabische Expansion, die die Kaiser in Konstantinopel für alle Zukunft daran hinderte, im Westen wirksamen Einfluss auszuüben, bedeutete den endgültigen Untergang des Römischen Reiches.
Fazit
Es ist schwer, eine eindeutige Antwort zu formulieren, warum das weströmische Reich unterging. Dem Christentum und der angeblichen Dekadenz kann aber nicht die (alleinige) Schuld gegeben werden. Im Osten erwies sich das Christentum in gewissem Maße als einigendes Band, im Westen hatte sich das Heidentum offenbar überlebt. Schuld waren jedoch sicherlich gewisse systemimmanente Mängel in der Verwaltung und der Armee, vor allem aber war der Westen militärisch nicht stark genug. Das Westreich wurde von der Wucht der spätantiken Völkerwanderung (375 - 568) mit ganzer Härte getroffen, zumal dort weniger Truppen lagen als an Donau und Euphrat. Der Westen verfügte auch nicht über die Bevölkerungszahlen und die hohe Wirtschaftskraft des Ostens - außerdem gelang es dem weströmischen Staat offenbar immer weniger, auf das zum Teil noch immer gewaltige Privatvermögen reicher Senatoren zuzugreifen oder genügend Reichsbewohner zum Militärdienst anzuwerben.
Der weitgehend fehlende Widerstand gegen die Germanen kann eigentlich nur zweierlei bedeuten: Entweder waren die einst so kriegerischen Römer in Apathie verfallen, oder aber man empfand die Barbaren gar nicht als bedrohliche Eindringlinge (Lit.: vgl. W. Goffart, dagegen siehe jedoch Heather und Ward-Perkins; Heather betont unter anderem die Rolle der Hunnen).
Eine monokausale Betrachtungsweise wird aber niemals allen diffizilen Problemen gerecht werden. Wahrscheinlich durchschauten die Zeitgenossen die Vorgänge eher noch weniger als die moderne Forschung. So konnten keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Sicher ist nur eins: Rom lebte kulturell fort - und die Spätantike, so schlimm gewisse Ereignisse für Teile der Bevölkerung gewesen sein mögen, formte das zukünftige Europa entscheidend mit und aktivierte auch dynamische Kräfte.
Literatur
- Hartwin Brandt: Das Ende der Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches, München 2002. (Sehr knappe, recht konservative Einführung in die Geschichte der Jahre von 284 bis 565)
- Karl Christ (Hrsg.): Der Untergang des Römischen Reiches, Darmstadt 1970.
- Alexander Demandt: Geschichte der Spätantike, München 1998, S. 445 ff.
- Ders.: Der Fall Roms, München 1984.
- Walter Goffart: Barbarians and Romans A.D.418-584. The techniques of accomodation, Princeton 1980. (Einflussreiche neuere Theorie zur Rolle der Germanen; nicht ganz unumstritten.)
- Peter J. Heather: The Fall of the Roman Empire: A New History, London 2005. (Heather sieht vor allem die Hunnen als Grund für das Eindringen der Germanen ins römische Reich an; siehe auch den Aufsatz unten.)
- Peter J. Heather: The Huns and the End of the Roman Empire in Western Europe, in: English Historical Review 110 (1995), S. 4–41.
- Alfred Heuß: Römische Geschichte, 7. Aufl., Paderborn 2000, besonders S. 500-506 und S. 601 ff. (Forschungsüberblick).
- Arnold Hugh Martin Jones: The Later Roman Empire 284-602. A Social, Economic and Administrative Survey, 2 Bde., Oxford 1964 (Paperback ND Baltimore 1986), speziell Bd. 2, S. 1025ff.
- Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, Stuttgart 2001.
- Bryan Ward-Perkins: The Fall of Rome: And the End of Civilization, Oxford 2005. (Darstellung des Endes des Weströmischen Reiches, welche im Gegensatz zu W. Goffart diesen Prozess als brutalen Einschnitt versteht.)