Selbstausschaltung des Parlaments
"Selbstausschaltung des Parlaments" ist die vom damaligen österreichischen Bundeskanzler, dem christlichsozialen Engelbert Dollfuß, geprägte Bezeichnung für die am 4. März 1933 erfolgte Auflösung des Österreichischen Nationalrates. Tatsächlich verhinderte Dollfuß am 15. März 1933 das Wiederzusammentreten des Parlaments nach einer Geschäftsordnungskrise, durch einen gegen die Abgeordneten gerichteten Polizeieinsatz.
Die Ereignisse des 4. März 1933
An diesem Tag standen drei Anträge in Bezug auf den Eisenbahnerstreik auf der Tagesordnung. Die Christlichsozialen beantragten Disziplinierungsmaßnahmen gegen die streikenden Eisenbahner, während die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) und Großdeutsche jeweils einen eigenen Antrag gegen den Antrag der Christlichsozialen stellten. Während der sozialdemokratische Antrag mehrheitlich abgelehnt wurde, nahm der Nationalrat den Antrag der Großdeutschen mit drei Stimmen Mehrheit (82 zu 79) an.
In der Folge entspann sich eine Geschäftsordnungsdebatte in der es darum ging, ob der Antrag der Christlichsozialen noch abgestimmt werden solle, nachdem bereits der Antrag der Großdeutschen angenommen wurde. Nationalratspräsident Karl Renner von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei unterbrach die Sitzung für etwas weniger als eine Stunde und teilte danach mit, dass es während der Abstimmung zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist. In der Folge korrigierte er das Abstimmungsergebnis auf 81 zu 80. Der Antrag der Großdeutschen galt somit trotzdem als angenommen.
In der Folge kam es zu einem heftigen Tumult, ausgelöst von christlichsozialen Abgeordneten, die eine neue Abstimmung forderten. Karl Renner sah sich laut stenographischen Protokoll nach kurzer Zeit außer Stande, den Vorsitz der Sitzung weiter zu führen, und trat zurück. Nun übernahm der christlichsoziale Abgeordnete Rudolf Ramek den Vorsitz und erklärte die Abstimmung für ungültig, was einen Tumult auf seiten der Sozialdemokraten zur Folge hatte. Aus diesem Grund gab auch Ramek den Vorsitz nach kurzer Zeit ab. Als dritter Nationalratspräsident kam nun der Großdeutsche Sepp Straffner an die Reihe, der den Vorsitz sofort niederlegte.
Dass die drei Rücktritte aus abstimmungstechnischen Gründen erfolgten, da die drei Präsidenten für ihre Fraktionen mitstimmen wollten, gilt mittlerweile als eher unwahrscheinlich, da eine Wiederholung der Abstimmung zu diesem Zeitpunkt nicht angesetzt war. Durch die Rücktritte der drei Parlamentspräsidenten konnte die Sitzung jedoch nicht mehr ordnungsgemäß beendet werden, wodurch eine Situation geschaffen wurde, die die österreichische Bundesverfassung und die Geschäftsordnung des Nationalrats nicht vorgesehen hatte. Das Parlament war formell beschlussunfähig.
Die Ereignisse des 15. März 1933
Der Versuch der Opposition, die Sitzung am 15. März 1933 fortzusetzen und ordnungsgemäß zu schließen, wurde von der Polizei mit Waffengewalt verhindert. Der Christlichsoziale Bundespräsident Wilhelm Miklas verabsäumte es in der Folge auf Druck seiner Partei, den Nationalrat aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.
Folgen
Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzte diesen Zustand für einen Staatsstreich, indem er von einer "Selbstausschaltung des Parlaments" sprach. Dollfuß negierte das Vorhandensein einer Staatskrise und regierte auf der Basis des kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes weiter.
Der Weg zum Austrofaschismus und zur autoritären Verfassung 1934 war frei, welcher mit dem österreichischen Bürgerkrieg und den darauf folgenden standrechtlichen Erschießungen oppositioneller Sozialdemokraten blutige Höhepunkte hatte.
Damit eine "Selbstausschaltung" des Nationalrats wie am 4. März 1933 geschehen nie wieder behauptet werden kann, wurde im Bundesgesetz vom 4. Juli 1975 über die Geschäftsordnung des Nationalrats (GOG-NR) in § 6 leg cit geregelt, dass im Falle der Verhinderung aller drei Präsidenten ihr Amt auszuüben oder der Erledigung ihrer Ämter der an Jahren älteste, am Sitz des Nationalrats anwesende Abgeordnete den Vorsitz führt, sofern er einer Partei angehört, die auch einen der drei Präsidenten stellte. Dieser Abgeordnete hat unverzüglich den Nationalrat einzuberufen und die Wahl dreier neuer Präsidenten vornehmen zu lassen. Kommt er dieser Pflicht nicht binnen acht Tagen nach, gehen die vorher genannten Rechte an den nächsten jeweils ältesten Abgeordneten über. Die so gewählten Vorsitzenden bleiben im Amt, bis mindestens einer der an der Ausübung ihrer Funktionen verhinderten Präsidenten sein Amt wieder ausüben kann.
Literatur
- Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik, Ökonomie, Kultur. 1933-1938. 5. Aufl., Lit, Münster u. a. 2005, ISBN 3-8258-7712-4
- Stephan Neuhäuser (Hsg): "Wir werden ganze Arbeit leisten" - Der austrofaschistische Staatsstreich 1934, ISBN 3-8334-0873-1
Weblinks
- „Wir werden ganze Arbeit leisten...“ Der austrofaschistische Staatsstreich 1934 (Hg. Stephan Neuhäuser)