Die tibetische Literatur ist in der westlichen Welt derzeit noch weitgehend unbekannt. Eine 'Literatur' im europäischen Sinne hat es genaugenommen bis vor kurzem nicht gegeben; stattdessen gab es ein Epos und zahlreiche Märchen oder Erzählungen. Einige dieser Erzählungen sind Zyklen, die von immer derselben Person erzählen, z.B. Onkel Tompa. Die Ursprünge der tibetischen Literatur gehen somit auf mündlich überlieferte Traditionen zurück.
Literatur des Bön
... Bön ...
Buddhistische Literatur
Mit der zunehmenden Bedeutung des Buddhismus kam es unter dem Herrscher Songtsen Gampo im Jahr 632 zur Entwicklung einer tibetischen Schrift auf der Grundlage einer indo-iranischen Schrift durch den Minister Thonmi Sambhota. Gleichwohl der Ursprung der Schrift nicht bewiesen ist, haben manche Autoren auf die große Ähnlichkeit mit der khotanesischen Schrift in Zentralasien hingewiesen, ein Gebiet, das damals zum tibetischen Imperium gehörte und auch einen tibetischen Bevölkerungsanteil hatte. Aufgrund mehrerer Argumente kann man annehmen, daß die Schrift vermutlich in Zentralasien auf Basis eines dortigen Dialekts entwickelt und nach Zentraltibet bereits voll entwickelt eingeführt wurde. Der früheste Schriftgebrauch in Zentralasien war eindeutig administrativ und geschichtsschreibend. Daß man dabei zum Teil chinesische Texte mit tibetischer Schrift verfaßt hat (und umgekehrt), ist ebenfalls hochinteressant (aber sehr spezialisiert) für die historische Sprachwissenschaft.
Mit der Schrift in Zentraltibet wird aber die großangelegte Übersetzung indischer Werke möglich. In wenigen Jahrzehnten werden die Worte des Buddha (Kanjur, tib. <bkah hgyur>) und die Kommentare (Tanjur, tib. <bstan hgyur>) übersetzt. Diese zentrale religiöse Literatur, der "Kanon" sind in der "klassischen" Sprache verfaßt, die vermutlich im großen und ganzen eine stark vom Original beeinflußte künstliche Standardsprache ist. Diese Schriftsprache hält sich allerdings weitgehend in dieser Form bis in die Neuzeit, mit einigen charakteristischen Änderungen ab dem 18. und im 20. Jh.. Erst Mitte des 20. Jh.s wird eine gesprochene Sprache mehr oder weniger genau schriftlich abgebildet. Gleichzeitig entstehen in Bhutan und Ladakh andere Standards. Die Ostdialekte werden dadurch eigentlich gänzlich von der gemeinsamen Schreibung ausgeschlossen, weil sie Zentraltibetisch nicht verstehen.
Im Buddhismus ist die Neuverfassung von Texten eigentlich nicht vorgesehen. Es kann aber angenommen werden, daß die mündlich überlieferten Erklärungen allmählich schriftlich niedergelegt wurden, sodaß Kommentarautoren vielleicht nicht ganz Autoren im westlichen Sinn sind. Tatsächlich sind Kommentare in der Frühzeit eher konzis, später umfangreicher. Spätere Autoren, wie der Klassiker Tsongkhapa verfassen zahlreiche gelehrte Abhandlungen, die textvergleichend sind.
Eine Neuerung ist in der tibetischen Literatur denkbar, das sind "Termas" (tib. <gter ma>), wörtlich "Schätze". Durch die Zeit der Vernichtung des Buddhismus im 8.-10. Jh. überleben versteckte geheime Belehrungen großer Meister wie Padmasambhava, die später von ihren Autoren wiederentdeckt werden. Dabei findet die Wiederentdeckung durchaus auch einfach nur mental, nicht physisch statt, d.h., der (selbst meditativ erfahrene) Autor "sieht" den versteckten Text und reproduziert ihn. Das berühmteste Beispiel ist das fälschlich "Totenbuch der Tibeter" genannte "Bardo Thödol" (tib. <bar do thos grol>), wörtlich "Die Befreiung durch Hören im Zwischenzustand" (ganz wörtlich "Zwischenzustand-Hörbefreiung"). Wenn ein Mensch gestorben ist, erlebt sein Bewußtseinsstrom ohne besondere Einflußmöglichkeit verschiedene Erfahrungen, die man nach unserem Verständnis als Farben, Synästhesien, oder Götter und Dämonen beschreiben kann. Wie der Name schon sagt, gibt es verschiedene Methoden, einen Toten in dieser Situation anzuleiten, damit er oder sie diese Visionen als Illusionen der Qualitäten seines eigenen Geistes erkennt, und die leichteste besteht darin, den Geist durch Vorlesen (Erklären) anzuleiten. Es funktioniert übrigens nur, wenn der Verstorbene ein Kenner der Symbolik des Bardo Thödol war.
Einige große Meister verfaßten originär religiöse Gesänge, die als (sehr schöne) Literatur gelten können. Dies beginnt mit den von Milarepa überlieferten Vajra-Liedern und geht bis zu Texten wie Patrul Rinpoches "Belehrung nützlich am Anfang, in der Mitte und am Ende". Biographien großer Meister sind eine wichtige Textsorte, darin sind dann oft auch gleich dessen Gesänge. Die wichtigste Biographie der tibetischen Literatur ist die von Milarepa aus dem 15. Jh., die bis heute gedruckt und viel gelesen wird.
Ein anderes bedeutendes Werk ist die Mahavyutpatti (Sanskrit-tibetisches Wörterbuch buddhistischer Terminologie), historisch hochinteressant sind Annalen und andere Fragmente aus Dunhuang und Khotan, die den furor islamicus, die unglaubliche Kulturzerstörung der Moslems im buddhistischen Raum, vereinzelt überlebt haben. Die restlose Vernichtung der buddhistischen Literatur von Gandhara und Indien (durch den nämlichen furor) kann gleichfalls weitenteils nur noch von der tibetischen Übersetzungsliteratur abgedeckt werden. Somit ist Tibets Literatur die bei weitem vollständigste Überlieferung buddhistischer Traditionen, die sich darüberhinaus bis vor kurzem in einer religiösen 'splendid isolation' auf höchstem Niveau erhalten konnten.
Geschichtsschreibung
Als Geschichtswerke kann man nennen: Das Tschötschung (<chos byung>) von 1347, 'Geschichte des Buddhismus', das Theb-ter-ngön-po (tib. <deb-ther-sngon-po>) von 1476, die 'Blaue Annalen', und die Werke des Jonang Taranatha.
Grammatikschreibung
Grammatik, die Beschreibung und teilweise Umdeutung der sonderbaren Regeln des Thonmi Sambhota mit dem Ziel, alte Texte verständlich zu machen oder 'korrekter' zu schreiben, bilden einen nicht unbeträchtlichen Bestandteil der Literatur.
Anderes
Mehrere berühmte Gesamteditionen des sehr umfangreichen Kanons (Kanjur und Tanjur) sind von großer Bedeutung, z.B. die Edition von Dege durch Situ Rinpoche.
Der fünfte (????) Dalai Lama fällt auf durch zahlreiche Gedichte von großer Poesie.
Volksliteratur
Von herausragender Bedeutung ist das Gesar-Epos (Gesser Chan). Daneben könnte man wahllos die Serie der Geschichten des Akhu Tompa (Onkel Tompa) erwähnen, die zum Großteil sexuellen Charakters sind; meist gelingt es Onkel Tompa, mit irgendeiner Person Sex zu haben, obwohl er dabei gesellschaftliche Regeln umgehen muß. Damit nur entfernt verwandt sind beliebte Geschichten von sogenannten Verrückten Yogis wie Drukpa Künleg, die durch unkonventionelles Verhalten den Menschen Belehrungen geben, wobei sie häufig deren Begierden und sonstigen Störgefühle aufdecken. Auch hier handelt es sich zum Teil um sexuelle Inhalte, wobei aber auch beim Leser kein Vergnügen, sondern eher Abkehr entstehen wird. Daneben gibt es längere Märchen und kürzere, meist lustige Geschichten, deren Witz dem europäischen Zuhörer mitunter nicht spontan klarwird.
Im tibetischen Exil entstehen Anthologien von tibetischen Märchen. Tibetologen erfassen Geschichten in der Serie "Dialekt und Erzählungen von ...".
Kulturelle Revolution und Anschluß an die Moderne
In der sogenannten Kulturrevolution, die in Tibet zum versuchten Genozid ausartete, wurden tausende Klöster zerstört, mehr als eine Million Menschen getötet (ein Drittel der Bevölkerung), und v.a. die Literatur, so gut es ging, vernichtet. Für Tibeter ist alles Geschriebene heilig, daher wurden Straßen aus Holzdruckstöcken gemacht. Bücher wurden zerstört, die Tibeter mußten darauftrampeln. Man kann annehmen, daß in dieser Barbarei sehr vieles unwiederbringlich verschwunden ist. Zum Teil wurden Bücher durch das traditionelle Auswendiglernen ins Exil gerettet.
Mit der Beruhigung der Lage geht die kulturelle Neuorientierung einher: Eine schriftliche Erzählliteratur im westlichen (!) Sinn existiert in Tibet, in geringem Ausmaß und staatlich verordnet, erst seit wenigen Jahrzehnten, und bislang wird diese im Westen auch kaum wahrgenommen.
Als Begründer der neuen tibetischen Literatur gilt tibetischen Schriftstellern in China Döndrub Gyäl (1953-85, tib. don grub rgyal). Erste Übersetzungen auf Deutsch erschienen in den späten 1990ern mit Kurzgeschichten von Tashi Dawa, Alai und Sebo. Seit 2004 sind im Westen vor allem die Werke Alais bekannt. Alai stammt aus Osttibet, schreibt aber wie viele andere jungen tibetische Autoren auf chinesisch, da er so eine größere Leserschaft hat. Da die meisten Tibeter Bauern und Nomaden sind, von denen viele weder lesen noch schreiben können, können sie auf Tibetisch kaum publizieren. Inzwischen gibt es aber auch in Tibet, insbesondere in Amdo, erste Versuche junger Tibeter, auf englisch zu schreiben - etwas, das im indischen Exil schon länger gebräuchlich ist.
In Osttibet ist der Gebrauch der tibetischen Schrift auf das Mönchsleben oder jedenfalls religiöse Literatur, vielleicht beispielsweise eine Heiligenbiographie für Laien, beschränkt. Die Zivilbevölkerung liest an und für sich nicht, und wenn, dann chinesisch.
Die chinesischen Ideologen bemühen sich sehr, die tibetische Kultur stets mit chinesischer zu vermischen. So sind Zeitschriften gern zweisprachig, und an Touristen verkaufte "tibetische" Musik stellt sich als chinesisch heraus. Bei Musik für Einheimische wechseln sich tibetische und chinesische Lieder ab. Die Literatur ist natürlich ebenso gleichgeschaltet.
Literatur in anderen tibetischen Ländern
... Ladakh, Nepal, Bhutan ... Exilliteratur ...
Literatur
Volksliteratur
- Acharya Ringu Tulku n.d.: bod kyi gnah bohi shod sgrung. deb dang po. Tibetan folk Tales. Book one. Dharamsala: Library of Tibetan Works and Archives (LTWA).
- Causemann, Margret 1989: Dialekt und Erzählungen der Nangchenpas. Sankt Augustin: Vereinigung für Geschichtswissenschaft Hochasiens Wissenschaftsverlag (= Beiträge zur tibetischen Erzählforschung, 11).
- Chophel, Norbu 1989: Folk Tales of Tibet. Dharamsala: Library of Tibetan Works and Archives (LTWA). 170p.
- Dorje, Rinjing & Addison G. Smith 1983: Die tolldreisten Geschichten von Onkel Tompa, dem schlimmen Schalk aus Tibet. Basel: Sphinx. 112p.
- Haller, Felix 2000: Dialekt und Erzählungen von Shigatse. Bonn: Vereinigung für Geschichtswissenschaft Hochasiens Wissenschaftsverlag (= Beiträge zur tibetischen Erzählforschung 13).
- Haller, Felix 2004: Dialekt und Erzählungen von Themchen. Sprachwissenschaftliche Beschreibung eines Nomadendialektes aus Nord-Amdo. Bonn: VGH Wissenschaftsverlag (= Beiträge zur tibetischen Erzählforschung 14).
- Thurlow, Clifford 1981: Stories from beyond the Clouds. An Anthology of Tibetan folk Tales. Dharamsala: Library of Tibetan Works and Archives (LTWA). 174 p.
Moderne Literatur
- Alice Grünfelder: "Tashi Dawa und die neuere tibetische Literatur", Zürich 1999. - ISBN 3897330148
- Franz Xaver Erhard: Der schmale Pfad - tibetische Literatur der Gegenwart. Der Schriftsteller Döndrub Gyäl als Vorbild", in: das neue China, 2005, Heft 4, S.19-21
- Alai: "Roter Mohn", Zürich 2004 - ISBN 3293003273
- Alice Grünfelder (Hg.): "An den Lederriemen geknotete Seele. Erzähler aus Tibet" Zürich 1997 - ISBN 3293002382
Weblinks
- Asianclassics -- Sammlung digitaler Texte vor allem in tibetischer Sprache:
- Andreas Gruschke: „Roter Mohn“ von Alai (Eurasisches Magazin)
- Andreas Gruschke: Buchbesprechung: "An den Lederriemen geknotete Seele" (Homepage von Andreas Gruschke)
- China Tibetology (Chinesisch und Englisch)
- Das Tibetische Totenbuch - Bardo Thödol (Bodhibaum Community)