Wilhelm Tell für die Schule

Erzählung von Max Frisch
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Wilhelm Tell für die Schule ist eine kurzes Prosawerk des Schriftstellers Max Frisch aus dem Jahr 1971. Es entheroisiert die Schweizer Legende um Wilhelm Tell sowie das gleichnamige Drama Friedrich Schillers und stellt dem Schweizer Nationalmythos um Tell eine weitgehend konträre Lesart gegenüber.

Inhalt

Wilhelm Tell für die Schule erzählt die Sage aus der Perspektive Gesslers, des bösen Landvogts aus Schillers Stück, der durch sein tyrannisches Auftreten den Widerstand Tells weckt und die Urschweizer zum Aufstand gegen die Herrschaft der Habsburger treibt.

Frisch dagegen schildert den Vogt, hinter dem er die historisch verbürgte Gestalt des Konrad von Tillendorf vermutet, als eher gutmütigen, dicklichen Ritter. Der kleine Beamte der Habsburger unternimmt im Sommer 1291 im Auftrag der Erben des kurz zuvor verstorbenen deutschen Königs Rudolf I. widerwillig eine Dienstreise nach Uri, um mit dem dortigen Landammann, dem greisen Freiherrn von Attinghausen über Wegerechte und Zölle am Gotthardpass zu verhandeln. Die örtlichen Adligen zögern die Verhandlungen jedoch immer weiter hinaus und verbünden sich hinter Tillendorfs Rücken gegen die Habsburger. So sieht sieht dieser sich gezwungen, seine Zeit in dem unwirtlichen Gebirgsland totzuschlagen. Schließlich findet das Treffen mit Attinghausen doch statt, aber es endet ergebnislos. Angesichts der fremdenfeindlichen, engstirnigen und auf überkommene Traditionen pochenden Art, mit der die Urschweizer ihm begegnen, ist der vom Föhn geplagte Vogt froh, heimkehren und das Hochgebirge, das ihn anödet, verlassen zu können.

Am Morgen seiner Abreise wird dem Ritter jedoch gemeldet, einer der Urner, Wilhelm Tell, habe den kaiserlichen Hut auf der Stange vor seinem Haus nicht gegrüßt. Die Zeremonie, die Schiller als einen demütigenden Willkürakt schildert, war eine im Mittelalter gängige Loyalitätsbekundung, vergleichbar mit dem Salutieren vor einer Flagge. Dem Ritter kommt die Verzögerung durch diese Lappalie äußerst ungelegen. Um sie schnellstmöglich zu erledigen, gibt er sich mit Tells Eingeständnis zufrieden, er habe den Hut einfach nicht gesehen. Als Tell aber spürt, dass seine umstehenden Landsleute ihn wegen seiner Nachgiebigkeit gegenüber den Fremden verachten, gibt er sich aufmüpfig und sagt, er grüße weder einen habsburgischen noch einen kaiserlichen Hut. Zugleich geht sein vorlauter Sohn Ritter Konrad damit auf die Nerven, dass er immer wieder die Schießkünste seines Vaters anpreist. Dieser könne ihm sogar einen Apfel vom Kopf schießen. Tillendorf versucht, die lästige Angelegenheit mit der scherzhaften Aufforderung zu beenden, dann solle Tell doch genau das einmal tun. Völlig humorlos und stets bereit, einem landfremden Vogt jede Gräueltat zuzutrauen, nehmen die Umstehenden den Witz jedoch für bare Münze. Tell legt zwei Pfeile in seine Armbrust und schickt sich tatsächlich an, zu schießen. Anders als bei Schiller verhindert der Vogt den Apfelschuss jedoch im letzten Moment, indem er den schon eingelegten Pfeil von der Waffe nimmt. Gefragt, was er mit dem zweiten Pfeil auf der Armbrust vorgehabt habe, antwortet Tell, genau wie in Schillers Drama, damit habe den Landvogt erschießen wollen, falls er sein eigenes Kind getötet hätte. Nach dieser Todesdrohung bleibt dem Ritte nichts anderes übrig, als Tell zu verhaftenr, um seine und die kaiserliche Autorität zu wahren. Während der Gefangene in Schillers Stück aus eigener Kraft fliehen kann, lässt Frischs Ritter Konrad Tell ganz einfach nach einiger Zeit laufen, um endlich ungestört weiterreisen zu können. Anstatt dankbar für die nachsichtige Behandlung zu sein, lauert Tell Konrad von Tillendorf in der hohlen Gasse zwischen Küssnacht und Immensee auf und ermordet ihn durch einen Schuss mit seiner Armbrust.[1]

Für ein fiktives Werk eher ungewöhnlich, enthält Wilhelm Tell für die Schule zahlreiche, zum Teil sehr umfängliche Fußnoten, in denen Frisch die historischen und literarischen Quellen der Tell-Sage offenlegt und diskutiert, die traditionelle Schweizer Geschichtsschreibung kritisiert und eigene Überlegungen zum historischen Kern des Tell-Mythos anstellt.

Entstehung und Intention

Max Frisch schrieb das Werk im August 1970. Es erschien am 29. September 1971 als zweiter Band der Reihe Suhrkamp Taschenbuch. Zu dem kleinen Prosastück war Frisch nach eigener Aussage durch den Terroranschlag auf dem Zürcher Flughafen Kloten angeregt worden, den palästinensische Mitglieder der Fatah im Jahr zuvor verübt hatten. Einer der Attentäter hatte sich nach seiner Verhaftung auf den „Freiheitskämpfer Wilhelm Tell“ berufen.[2] Frisch, der Schillers Drama als „Agitprop-Stück des deutschen Idealismus“ bezeichnete, wollte mit seinem Werk zeigen, dass sich ein verfestigtes Narrativ wie die Tell-Sage bei genauer Betrachtung der Quellen auflösen lässt, und einer gänzlich anderen Interpretation Raum geben kann.[3]

Ausgaben

Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971 (= suhrkamp taschenbuch. Band 2), ISBN 3-518-36502-9<500>

Einzelnachweise

  1. Apfelschuß war nicht verlangt, Adolf Muschg über Max Frisch: Wilhelm Teil für die Schule, Artikel im Spiegel vom 9. August 1971
  2. Als es auf dem Flughafen Zürich Tote gab, 20 Minuten vom 17. Februar 2014
  3. ‘‘Max Frisch und Wilhelm Tell (1971)‘‘, SRF-Archiv 2016