Bürgergesellschaft
Zu keiner der im Artikel gegebenen Erklärungen od. Definitionen ist angegeben wer die Begriffe so beschreibt. Stellenweise liest sich der Text wie ein Thesenpapier, nicht wie eine enzyklopädisch-sachlich-neutrale Darstellung. --Tsui 20:54, 9. Aug 2006 (CEST)
Unter Bürgergesellschaft wird eine demokratische Gesellschaftsform verstanden, welche aus der Aktivität ihrer Mitglieder heraus lebt und durch diese geprägt und entwickelt wird.
Begrifflichkeit
Ursprünglich stammt der Begriff aus dem südamerikanischen Raum und wurde dort als "civil society" benannt. Die "civil society" wurde vor allem als Gegenmodell zu den verschiedenen autoritären Regimen, insbesondere verschiedenen Militärdiktaturen verstanden. Die "civil society" war damit im Wesentlichen darauf beschränkt, Freiräume zu nutzen, die von der staatlichen Macht nicht besetzt waren. Eine andere Übersetzung der "civil society" neben Bürgergesellschaft ist auch Zivilgesellschaft.
Die "civil society" etablierte sich in der politischen Öffentlichkeit weltweit als Vorbild und Modell für ein gesellschaftliches Miteinander. Bei der Übertragung einzelner Aspekte der "civil society" auf nichtautoritär geprägte Gesellschaften, wurde teilweise nach einer neuen Begrifflichkeit gesucht. Zu solchen Übertragungen kam es z.T. infolge von Systemwechseln innerhalb der betroffenen Staaten, z.T. aufgrund von theoretischen Übertragungen auf andere Staaten. Als Ersatz für den Begriff der "civil society" wird oft der Begriff der "civic society" verwendet. Die "civic society" erhebt den Anspruch, nicht nur gewährte Freiräume auszufüllen sondern darüber hinaus entscheidenden Einfluss auf staatliche Strukturen und Entscheidungen zu nehmen.
Auch für die Beschreibung der Abkehr verschiedener gesellschaftlicher Strömungen in Mittel- und Osteuropa von den autoritären kommunistischen Regimen wurden regelmäßig die Begriffe Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft verwendet.
Beide Begriffe, Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft werden in der öffentlichen Diskussion teilweise als Synonyme, teilweise in unterschiedlicher Begriffsdefinition nebeneinander verwendet. Im englischsprachigen Raum hat sich neben den Begriffen der "civil society" und der "civic society" auch der Begriff der "civil civic society" etabliert, ohne dass es im deutschsprachigen Raum eine etablierte sprachliche Entsprechung, etwa eine Zivilbürgergesellschaft o.ä. gäbe.
Wo von der grundsätzlichen Allzuständigkeit des Staates ausgegangen wird, wird heute der Begriff der Zivilgesellschaft verwendet. Diese Begriffsverwendung deutet darauf hin, dass mit die Übernahme bestimmter Aufgaben durch andere als staatliche Akteure der Staat nicht aus seiner Verantwortlichkeit entlassen werden soll. Viele Nichtregierungsorganisationen bevorzugen den Begriff der Zivilgesellschaft und fordern damit entweder eine staatliche Übernahme der von ihnen bisher erfüllten Aufgaben oder zumindest eine aktive staatliche Unterstützung für ihre zivilgesellschaftliche Aufgabenerfüllung.
In Bereichen, in denen eine nichtstaatliche Ordnung langfristig etabliert ist oder zumindest als wünschenswert angesehen wird, wird bevorzugt der Begriff der Bürgergesellschaft verwendet. Dies betrifft sowohl viele kirchliche Kreise als auch liberale und teilweise auch konservative Gruppen. Mit der Verwendung des Begriffs der Bürgergesellschaft wird zum Ausdruck gebracht, dass der Gesellschaft grundsätzlich eine Selbstorganisationskraft zugetraut wird, so dass der Staat nicht oder jedenfalls nur bei erkennbaren Defiziten der Selbstorganisation eingreifen soll. Der Begriff der Bürgergesellschaft kehrt somit den Gedanken der "civil society" (s.o.) einer Lückenfüllung staatlich überlassener Freiräume durch gesellschaftliche Selbstorganisation um und überlässt nun seinerseits dem Staat nur noch eine lückenfüllende Funktion innerhalb der Gesamtgesellschaft.
Bürgergesellschaft als politische Ordnung
Regelmäßig wird zur Definition der Bürgergesellschaft auf eine Drei- bzw. Vierteilung des Gemeinwesens zurückgegriffen. Neben den Bereichen des Staates, der Wirtschaft und teilweise der Privatheit wird eine dritte bzw. vierte Sphäre der Zivilgesellschaft ausgemacht. Innerhalb dieser vierten Sphäre schließen sich Bürger zusammen, um ihre überindividuellen Interessen gemeinsam wahrzunehmen.
Unter Bürgergesellschaft wird in dieser Sichtweise entweder allein der dritte (bzw. vierte) Sektor verstanden oder (wohl vorherrschend) ein gesammtgesellschaftliches Modell, das zwar maßgeblich vom dritten (bzw. vierten) Sektor aus gestaltet wird, das aber zumindest den Staat und die Wirtschaft mitumfasst.
Die Bürgergesellschaft ist somit eine politische Ordnung, in welcher Demokratie ausgehend von der Eigeninitiative der Bewohner wahrgenommen wird. Dieser Ansatz soll demokratische Beteiligung gerade auch über die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen hinaus ermöglichen. Anders als bei der Zivilgesellschaft stehen somit im Bereich der Bürgergesellschaft Gruppierungen im Vordergrund, die sich nicht auf aktuelle karitative und wohltätige Aufgaben beschränken, sondern darüber hinaus den Anspruch erheben, auf die gesellschaftliche Entwicklung gestalterisch Einfluss zu nehmen.
Umstritten ist, welche Rolle der Staat in einer Bürgergesellschaft einnimmt. Unter den Stichworten motivierender Staat, moderierender Staat, aktivierender Staat wird dem Staat die Rolle zugedacht, bürgergesellschaftliches Engagement zu fördern und gegebenenfalls auch lenkend zu beeinflussen. Diese Rolle wird teilweise als neue Rechtfertigungsgrundlage für den Fortbestand von Staaten und auch von nationalstaatlichen Ordnungen angesehen.
Teilweise wird die Bürgergesellschaft als Modell angesehen, welches den Nationalstaat als grundlegende politische Ordnung abzulösen und dessen Schwächen zu überwinden in der Lage ist. Insbesondere wird der Bürgergesellschaft zugetraut, konstruktive Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, einer sich rasant beschleunigenden Wissensgesellschaft und sich verändernder Arbeitswirklichkeiten zu finden und aus sich selbst heraus zukunftstaugliche Lösungen umzusetzen.
Entsprechend wird die Bürgergesellschaft regelmäßig nicht deskriptiv als bereits bestehend, sondern normativ als Zielperspektive zur Fortentwicklung politisch-gesellschaftlicher Ordnungen angesehen. Bürgergesellschaft beschreibt somit keinen Zustand, sondern einen Prozess hin zu einer umfassenderen demokratischen Teilhabe auf der Basis von Eigeninitiative und Selbstorganisation außerhalb von unmittelbaren staatlichen und wirtschaftlichen Einflussnahmen.
Kritik
Kritik erfährt das Konzept der Bürgergesellschaft sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht.
Theoretisch wird die Tragfähigkeit der Bürgergesellschaft angezweifelt. Insbesondere wird bezweifelt, dass sie die starke Bindungskraft und die damit verbundene hohe Leistungsfähigkeit des Nationalstaates aufbringen könne. Außerdem wird in einer zu großen Einflussnahme von einzelnen Gruppen auf die politische Ordnung auch eine Gefährdung demokratischer Grundprinzipien erkannt, wonach die Gleichheit aller Bürger gerade durch das gleiche Wahlrecht sichergestellt wird.
Praktisch wird darauf verwiesen, dass gerade dort, wo bürgergesellschaftliches Engagement am dringensten nötig wäre, solches am wenigsten vorzufinden ist. Während in bevorzugten Wohngebieten regelmäßig auch das gesellschaftliche Leben und die Vereinstätigkeit sehr stark ausgeprägt sind, verbleibt in benachteiligten Wohngebieten sowohl die karitative-gemeinnützige Aufgabenerfüllung als auch die Einbindung der Bevölkerung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge primär eine staatliche Aufgabe oder findet gar nicht statt.
Es stellt sich somit sowohl für Befürworter als auch für Gegner eines weiten Bürgergesellschaftskonzeptes die Frage, welches die Voraussetzungen einer solchen Ordnung sind und ob bzw. wie diese Voraussetzungen auch außerhalb bereits bestehender bürgerlicher Gesellschaftsstrukturen umfassend verwirklicht werden können.
Literatur
- Francis Fukuyama: The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order, The Free Press, New York 1999
- Robert D. Putnam: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, Simon & Schuster, New York 2000
- Wiesbadener Grundsätze Für die liberale Bürgergesellschaft. Parteiprogramm der FDP.
- Die Defekte Demokratie in Südamerika Diego Garrido, Münster, 2003. Zur demokratischen Entwicklung in Südamerika mit vielen weiteren Nachweisen.
Weblinks
- Christopher Gohl: Bürgergesellschaft als politische Zielperspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6-7/2001, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2001.
- Bürgergesellschaft / Stiftungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B14/2004, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2004.
- Bericht der Enquete-Kommission: „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (PDF), Deutscher Bundestag 2002
- „Wegweiser Bürgergesellschaft“, Projekt der Stiftung Mitarbeit in Kooperation mit der Stabsstelle Moderner Staat – Moderne Verwaltung des deutschen Bundesministeriums des Innern
- civil-society-network Wissenschaftliches Forum mit Schwerpunkt auf dem non-profit-Gedanken der civil-society-Forschung.
- Transnationalisationsforschung der Universität Bielefeld.
- Eurojargon Wie der Begriff der Bürgergesellschaft im Alltag der Institutionen der Europäischen Union verstanden wird.