Lovemobil ist ein 2019 veröffentlichter Film von Elke Lehrenkrauss über den Alltag zweier Prostituierter, die ihre Dienste in einem Wohnmobil in der niedersächsischen Provinz anbieten.[1] Die Recherche- und Dreharbeiten für den vom NDR koproduzierten Film erstreckten sich über einen Zeitraum von drei Jahren.[2]
Film | |
Titel | Lovemobil |
---|---|
Produktionsland | Deutschland |
Originalsprache | Deutsch |
Erscheinungsjahr | 2019 |
Länge | 109 Minuten |
Stab | |
Regie | Elke Lehrenkrauss |
Drehbuch | Elke Lehrenkrauss |
Musik | David Hermann, Dascha Dauenhauer, Thomas Resch |
Kamera | Christoph Rohrscheidt |
Schnitt | Elke Lehrenkrauss |
Dem als Dokumentarfilm publizierten und international preisgekrönten Werk wurde im März 2021 der Deutsche Dokumentarfilmpreis wieder aberkannt, nachdem durch eine Recherche der NDR-Redaktion STRG_F öffentlich bekannt wurde, dass nahezu alle Protagonisten von Darstellern verkörpert und weite Teile der Handlung inszeniert worden waren.
Handlung
Die vorgeblich aus Nigeria geflüchtete Prostituierte „Rita" und eine als „Milena aus Bulgarien" benannte Darstellerin arbeiten in sogenannten Lovemobilen an der Bundesstraße 188 bei Gifhorn in Niedersachsen.[3] Die Wohnwagen werden ihr von Uschi vermietet. Laiendarsteller und Bekannte der Regisseurin wirken in Rollen als rassistische Zuhälter und stereotypische Freier. Der als Dokumentarfilm konzipierte Film suggeriert zudem aus dramaturgischen Gründen fälschlicherweise, dass während der Dreharbeiten eine russische Kollegin der beiden Hauptdarstellerinnen in ihrem Wohnwagen von einem Freier ermordet wurde.[4]
Produktion
Die Recherchearbeiten an der Produktion begann Lehrenkrauss 2016 und dauerten ein Jahr. Anschließend wurde über einen Zeitraum von zwei Jahren an insgesamt 65 Drehtagen vor Ort bei Gifhorn gedreht.[5]
Lehrenkrauss' eigene Produktionsfirma konnte als Koproduzenten den NDR gewinnen, der die Produktion mit 36.000 € mitfinanzierte.[6] Für die Herstellung von Lovemobil erhielt Lehrenkrauss von der staatlichen Medienförderungsgesellschaft Nordmedia bereits im Jahr 2014 eine Produktionsförderung von bis zu 79.897,30 Euro[7] sowie im Jahr 2019 eine weitere staatliche Förderung für den Filmverleih, Vertrieb und Verbreitung in Höhe von 2.255,00 Euro.[8]
Die Uraufführung des Films wurde am 09.05.2019 auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival dok.fest in München abgehalten. Der offizielle Kinostart fand am 2. März 2020 im Grafitti-Kino in Hannover statt. Bedingt durch die bundesweiten Schließungen aller Kinos im Zuge der Corona-Maßnahmen lief der Film nach seiner Veröffentlichung nur wenige Tage auf der großen Leinwand.[9][10] Am 8. Dezember 2020 lief der Film zum ersten Mal im deutschen Fernsehen im NDR.[11]
Auszeichnungen
- Int. Filmfestival Braunschweig (Deutschland, 2019); Kategorie: Tilda (Frauenfilmpreis)[12]
- Int. Filmfestival Braunschweig (Deutschland, 2019); Kategorie: Heimspiel
- Unabhängiges Filmfestival Osnabrück (Deutschland 2019); Kategorie: Friedensfilmpreis[13]
- Camden International Film Festival (USA, 2019); Kategorie: Cinematic Vision Award
- BIAFF Batumi Int. Art House Film Festival (Deutschland, 2019); Kategorie: International Competition
- International Film Festival KineNova Skopje (Nordmazedonien, 2019); Kategorie: International Competition
- DOC LA, Los Angeles Documentary Filmfestival (USA, 2019); Kategorie: International Competition
- Deutscher Dokumentarfilmpreis (Deutschland 2020); (Aberkennung des Preises im März 2021)
Enthüllung durch STRG_F
Die Editorin des Films, Irem Schwarz, informierte 2020 die NDR-Redaktion STRG_F über „Manipulationen im Dokumentarfilmbereich“.[14] Bei den im März 2021 veröffentlichten Recherchen der Redaktion stellte sich heraus, dass der Lovemobil weitgehend aus nachgestellten Szenen mit nicht authentischen Protagonisten besteht. Einzig die Person der Vermieterin der Wohnmobile sei real, dagegen die beiden Hauptprotagonistinnen keine Prostituierten, sondern Darstellerinnen. Auch Szenen mit Zuhältern, vermeintlichen Freiern und Kolleginnen seien inszeniert, gespielt von Laiendarstellern, teils Bekannten der Regisseurin. Darüber hinaus sei aus dramaturgischen Gründen ein Mord an einer Prostituierten von der Filmemacherin erfunden und der Tatort eingerichtet worden.
Lehrenkrauss, die in zahlreichen Interviews zuvor das Dokumentarische an dem Film herausgestellt[15][16] und auch versichert[17][18][19] hatte, es habe weder Schauspieler noch ein Drehbuch (Scripted Reality) gegeben, berief sich in der Reportage auf das Künstlerische und erklärte dazu, sie habe die Realität nicht verfälscht, vielmehr sei die „Realität“, die sie in dem Film geschaffen habe, eine „viel authentischere Realität“ als die, die sie mit Direct Cinema hätte herstellen können. Die nachgestellten Stellen als solche zu kennzeichnen oder den Film als „Mischform“ zu kommunizieren, habe sie versäumt.[14]
Der NDR, der den Film mit Timo Großpietsch als verantwortlichem Dokumentarfilmredakteur mitproduziert hatte, distanzierte sich von dem Film, entfernte ihn aus der Mediathek und sperrte ihn für Wiederholungen.[20][21] Er warf der Autorin Täuschung vor, da „kein Hybriddokumentarfilm oder Spielfilm“ vereinbart worden war.[22] Die Redaktion habe während der gesamten Zusammenarbeit keinen Anlass gesehen, an der Glaubwürdigkeit der Darstellung zu zweifeln. Ferner kündigte der Sender an, eine Verschärfung seiner Kontrollmechanismen zu prüfen, um sich in Zukunft besser „vor solchen Irreführungen schützen“ zu können.[23] In einem Interview wies die Leiterin des Programmbereichs Kultur und Dokumentation des NDR Anja Reschke Lehrenkrauss' Behauptung, der Film sei eine „Mischform“, zurück. Da fast alle Protagonisten Darsteller und fast alle Szenen gestellt seien, handele es sich vielmehr um Fiktion.[24]
Reaktionen
- Der Journalist und Herausgeber Michael Hanfeld kritisiert in der FAZ Lehrenkrauss' Vorgehensweise, sieht aber zudem eine generelle Schuld der mitproduzierenden TV-Sender und bemängelt einen „systemischen Fehler“ im Dokumentarfilmsektor. „Redaktionen erwarten von Dokumentarfilmern quasi perfekte Realität nach Drehbuch, wollen von vornherein wissen, wie ein ,dokumentarischer´ Film ausgeht. An dem arbeiten Autorinnen wie Lehrenkrauss jahrelang, für Hungerlohn, klauben Geld von der Filmförderung zusammen, weil der Sender den Mini-Etat nicht stemmt.“ führt Hanfeld aus.[25]
- Der Filmkritiker Rüdiger Suchsland sieht ebenfalls in der mangelnden Finanzierung des Dokumentarfilms eine der Hauptursachen für das Verhalten der Regisseurin und stellt fest: „Für 36.000 Euro erwartet also ein öffentlich-rechtlicher Sender, dass eine Regisseurin jahrelang unter Straßenprostituierten recherchiert und einen fertigen Langfilm fürs Kino im Stil des Direct Cinema dreht. Dies ist eine lächerliche Summe, für die die Regisseurin Elke Lehrenkrauss diesen Film in welcher Weise auch immer hätte fertigstellen können. Selbstverständlich hat sie noch etwas mehr Geld bekommen: Zu den 36.000 Euro vom NDR kamen von der Nord-Media, der Filmförderung von Niedersachsen und Bremen weitere 50.000 Euro; im Rahmen eines Stipendiums schließlich 15.000 Euro. Alles in allem hat sie also etwa 100.000 Euro bekommen – auch das ist erschreckend wenig für eine mehrjährige Recherche und für einen Film, der de facto eigentlich 400.000 bis 500.000 Euro wert ist.(...) Die Regisseurin hat trotz allem Wege gefunden, den Film für einen vergleichsweise Spottpreis fertigzustellen. Sie hat ihn selber produziert, hohe Eigenanteile eingebracht. Das setzt die Regisseurin von Anfang an unter Druck. Unter Druck setzt sie auch die Erwartungshaltung, die offenbar bestand, in jedem Fall einen Film in diesem Stil und ohne Inszenierung abzuliefern. War es dieser Druck, dem sie nicht standhalten konnte? Das sind Vermutungen, die wir nicht belegen können. Aber man müsste einmal nachfragen, ob ein Grund für die Unwahrheiten, für die Verschleierungstaktik der Regisseurin, für ihr Verschweigen, dass Passagen inszeniert worden sind, auch darin lagen, dass sie sich schlicht und einfach nicht getraut hat, der Redaktion die Wahrheit zu sagen.“[26]
- Der Dokumentarfilmer Stephan Lamby konstertiert in der Süddeutschen Zeitung, dass Lovemobil exakt das Beuteschema von Filmpreis-Jurys erfülle: „Packende Geschichten, tolle Protagonisten, aussagekräftige O-Töne, hautnahe Kameraführung, wunderbares Licht.“ Einige Juroren hätten Zweifel an der Echtheit des Films gehabt, meint Lamby, „aber sie haben diese Zweifel weggewischt, weil ihnen der Film so schöne Einblicke in eine verborgene Welt bot.“[27]
- Der Journalist Steffen Grimberg, Vorsitzender des Fördervereins des Grimme-Instituts, bemängelt in der taz eine Überreaktion des NDR und dass durch die Enthüllung „Sinn und Zweck von ,Lovemobile', nämlich auf die beschissene Situation von Frauen an der Straße aufmerksam zu machen.“ verloren gehen. [28]
- René Martens, Vorsitzender der Grimme-Preis-Nominierungskommission Information & Kultur schreibt bei Zeit online: „Als die Grimme-Preis-Nominierungskommission Information & Kultur Lovemobil im Januar 2021 sichtete, entwickelten sich relativ schnell Diskussionen über die inszenierten Szenen. Dass es von diesen im Film nur so wimmelt, ist offensichtlich. Dokumentarfilmerinnen können nicht das Glück haben, bei jedem entscheidenden Ereignis im Alltag ihrer Protagonisten und Protagonistinnen anwesend zu sein, erst recht nicht im Milieu der Prostitution. Solange solche nachgestellten Szenen wahrhaftig sind, sind sie im Bereich des Dokumentarfilms legitim.Nach Einschätzung der Mehrheit der Kommission war das hier der Fall. Zudem war die Gruppe beeindruckt davon, dass der Film Einblicke in eine Welt liefert, die uns sonst verborgen bleibt.“ [29]
- Die Nominierung für den Grimme-Preis 2021 in der Kategorie Kunst & Kultur wurde zeitgleich mit Veröffentlichung des NDR-Berichts von der Nominierungskommission zurückgezogen.[30]
- Im Zuge der Enthüllungen durch STRG_F gab der SWR bekannt, dass Lehrenkrauss den Deutschen Dokumentarfilmpreis sowie das damit verbundene Preisgeld in Höhe von 10.000 € zurückgibt und „schwerwiegende Fehler“ bedaure.[31][32]
- Die Sexarbeiterinnen-Organisation Doña Carmen bezeichnet den Film in einer Mitteilung als „Lügen-Doku“ und wirft Lehrenkrauss „abgrundtiefe Missachtung von Sexarbeiter*innen“ vor: Sie habe ihren Figuren „unter dem Deckmantel der Empathie ihre angeblich ‚authentischere Realität‘“ übergestülpt. Gefordert wurde die Überprüfung von weiteren Dokus.[33][34]
Weblinks
- Lovemobil bei IMDb
- Lovemobil bei filmportal.de
- Lovemobil bei Crew United
- Webpräsenz für den Film
- LOVEMOBIL: Dokumentarfilm über Prostitution gefälscht? In: STRG_F, ARD-Mediathek, 23. März 2021 (YouTube, 27 Min.)
- Harald Hordych, Claudia Tieschky, Sabina Zollner: Der Fall Lovemobil erschüttert die Dokubranche. In: sueddeutsche.de. 25. März 2021, abgerufen am 26. März 2021.
Einzelnachweise
- ↑ "Lovemobil“: Dokumentarfilm über Prostitution ( vom 11. März 2020 im Internet Archive)
- ↑ Sexarbeiterinnen in Deutschland Gebraucht werden, für einen Moment. Spiegel, 3. März 2020
- ↑ „Lovemobil“: Prostituierten-Alltag an der Bundesstraße PRO, 05.12.2020
- ↑ Harte Arbeit. Süddeutsche Zeitung, ?
- ↑ „Lovemobil“: Prostituierten-Alltag an der Bundesstraße PRO, 05.12.2020
- ↑ Rüdiger Suchsland Wider die puritanische Phantasie Cinema Moralia, 25.03.2021
- ↑ Nordmedia Geschäftsbericht 2014. (PDF 3,0 MB) S. 42, abgerufen am 23. März 2021.
- ↑ Nordmedia Geschäftsbericht 2019. (PDF 3,32 MB) S. 47, abgerufen am 30. März 2021.
- ↑ LICHTER Filmfest Frankfurt International
- ↑ Filmpremiere „Lovemobil“. „Mein Plan ist es, Geld zu machen“. Welt, 5. März 2020]
- ↑ Im Abseits: Die Doku "Lovemobil". Emma, 8. Dezember 2019
- ↑ Liste der Filmpreise für Lovemobil crew-united.com
- ↑ Ralf Döring Filmfest Osnabrück irritiert über Dokumentarfilm "Lovemobil" NOZ, 23.03.2021
- ↑ a b LOVEMOBIL: Dokumentarfilm über Prostitution gefälscht? In: STRG_F, 23. März 2021 (YouTube, 27 Min.)
- ↑ Regisseurin über ihre Doku "Lovemobil" - Minibordelle am Straßenrand. In: Deutschlandradio Kultur. Abgerufen am 14. August 2019.
- ↑ Elke Lehrenkrauss: „Zeigen wir Sex oder nicht?“ In: SWR Doku Festival. 16. Juni 2020, abgerufen am 1. Juli 2020.
- ↑ Q&A with LOVEMOBIL director Elke Lehrenkrauss In: Goethe-Zentrum Atlanta, 2. März 2021 (YouTube, 58 Min.)
- ↑ Lovemobil | Q&A | Lovemobilis | Virtualus susitikimas su režisiere Elke Margarete Lehrenkrauss In: Nepatogus Kinas, 12. Oktober 2020 (YouTube, 58 Min.)
- ↑ Documentary Masterclass: Elke Margarete Lehrenkrauss (Lovemobil) In: Scottish Documentary Institute, 21. Oktober 2020 (Vimeo, 103 Min.)
- ↑ René Martens: Eine Realitätsshow. In: ZEIT ONLINE. 24. März 2021, abgerufen am 25. März 2021.
- ↑ NDR distanziert sich vom Dokumentarfilm „Lovemobil". In: ndr.de. Abgerufen am 22. März 2021.
- ↑ Stellungnahme der NDR Dokumentarfilmredaktion zu „Lovemobil“. In: ndr.de. Abgerufen am 22. März 2021.
- ↑ Preisgekrönte Reportage: NDR distanziert sich von „Lovemobil“. In: ndr.de. Abgerufen am 23. März 2021.
- ↑ Christian Meier: Anja Reschke über „Lovemobil“: „Fast alle Szenen sind gestellt“. In: DIE WELT. 28. März 2021 (welt.de [abgerufen am 29. März 2021]).
- ↑ Michael Hanfeld Ein Skandal und seine Folgen FAZ online, 27.03.2021
- ↑ Rüdiger Suchsland Wider die puritanische Phantasie Cinema Moralia, 25.03.2021
- ↑ Harald Hordych, Claudia Tieschky, Sabina Zollner: Der Fall Lovemobil erschüttert die Dokubranche. In: sueddeutsche.de. 25. März 2021, abgerufen am 26. März 2021.
- ↑ Steffen Grimberg Ein überreagierender NDR Die Tageszeitung, 26.03.2021
- ↑ René Martens Eine Realitätsshow Zeit online, 24.03.2021
- ↑ Nominierung zurückgezogen: Kein Grimme-Preis für „Lovemobil“. In: faz.net. 23. März 2021, abgerufen am 24. März 2021.
- ↑ „Lovemobil“: Filmemacherin gibt Deutschen Dokumentarfilmpreis zurück. In: swr.de. 24. März 2021, abgerufen am 26. März 2021.
- ↑ Deutscher Dokumentarfilmpreis in vier Kategorien verliehen, meedia.de, erschienen und abgerufen 2. Juli 2020
- ↑ Doña Carmen e.V.: Im falschen Film: Doku-Lüge „Lovemobil“ als Fake entlarvt! In: Doña Carmen. 23. März 2021, abgerufen am 27. März 2021.
- ↑ Peter Weissenburger: NDR-Doku „Lovemobil“: Die „authentischere“ Realität. In: Die Tageszeitung. 23. März 2021, abgerufen am 26. März 2021.