Die Stuppacher Madonna ist ein Gemälde von Matthias Grünewald. Es zählt zu seinem Spätwerk. Sollte es sich tatsächlich um den Mittelteil des Maria-Schnee-Altars handeln, so ist sie zwischen 1517 und 1519 entstanden. Das Werk befindet sich heute in der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt im Bad Mergentheimer Stadtteil Stuppach.
Der Bilduntergrund des Gemäldes ist Tannenholz, das mit einer Leinwand überzogen ist. Das Gemälde ist heute 185 Zentimeter hoch und 150 Zentimeter breit und derzeit in einem neugotischen Rahmen gefasst. Sägespuren weisen daraufhin, dass das Gemälde an allen vier Bildrändern beschnitten wurde. Wie viel dabei weggeschnitten wurde, ist nicht mehr rekonstruierbar. Gesichert ist, dass vom unteren Bildrand mindestens fünf Zentimeter entfernt wurden. Ursprünglich muss das Gemälde mindestens 191 Zentimeter hoch und breiter gewesen sein.
Entstehungs- und Besitzgeschichte
Die Entstehungsgeschichte der Stuppacher Madonna ist umstritten. Nachdem der Künstler Grünewald zu Beginn des 20. Jahrhunderts "wiederentdeckt" wurde, ging die Kunstgeschichte überwiegend davon aus, dass die Stuppacher Madonna ursprünglich der Mittelteil des Altartriptychons "Maria-Schnee-Altar" sei. Seit den 1950er Jahren wird diese Auffassung unter Kunsthistorikern kritisch diskutiert.
Mittelteil des Maria-Schnee-Altars?
Belegt ist, dass der Aschaffenburger Kanonikus Heinrich Reitzmann bei Grünewald Altargemälde in Auftrag gegeben hat und dass dieser 1517 bis 1519 an diesem Auftrag arbeitete. Reitzmann, der seit einer Errettung aus Todesgefahr sich der Gottesmutter besonders verpflichtet fühlte, hatte das Schneewunder als Bildthema vorgegeben - die Legende, nach der es Maria im Hochsommer schneien ließ, um anzuzeigen, wo eine ihr gewidmete Kirche in Rom (Santa Maria Maggiore) gebaut werden sollte. Das heute nicht mehr vollständige Triptychon trägt daher den Namen "Maria-Schnee-Altar".
Dem Triptychon sicher zuzuordnen ist der von Grünewald gemalte rechte Seitenflügel; der linke Seitenflügel ist verloren gegangen. Gegen die Auffassung, dass die Stuppacher Madonna der Mittelteil dieses Triptychons sei, sprechen dagegen eine ganze Reihe von Gründen:
- Der Seitenflügel passt sowohl von der Farbgebung als auch vom Architekturhintergrund nicht zu der Stuppacher Madonna. Der Seitenflügel weist an der linken Bildseite eine Lateran-Vedute auf, die Stuppacher Madonna an der rechten Seite ein gotisches Münster.
- Die große Fülle mystischer Symbolik, die das Bild zu einem Huldigungsbild im Sinne mystischer Marien-Minne macht, passt nicht zu dem Seitenflügel, der eher dem Typus "wundertätiges Gnadenbild" zuzuordnen ist. Ikonografisch wäre eine sogenannte Schutzmantelmadonna als Mittelteil passender.
- Zwischen der Stuppacher Madonna und dem Seitenflügel besteht keine "Bezugnahme". So würde man künstlerisch beispielsweise erwarten, dass ähnlich wie auf dem Seitenflügel auch im Mittelteil eine Vielzahl von Personen erscheinen würden. Wiederum wäre eine Schutzmantelmadonna, um die herum sich eine größere Menge an Personen versammeln, die künstlerisch logischere Fortsetzung.
- Die Bildgröße des Seitenflügels und die der Stuppacher Madonna passen nicht zusammen. Der Seitenflügel ist 179 Zentimeter hoch; die beschnittene Madonna dagegen 186 Zentimeter und war vor der Beschneidung mindestens 191 Zentimeter hoch. Der Schneewunder-Flügel ist ohne Rahmen 91 Zentimeter breit; da er gemeinsam mit dem zweiten Flügel den Mittelteil des Triptychons bedeckt hätte, hätte dieses Mittelteil inklusive der Rahmen mindestens 190 Zentimeter breit sein müssen. Auch wenn das Gemälde seit seiner Entstehung an den Rändern beschnitten wurde, scheint es unwahrscheinlich, dass dieser Beschneidung zwanzig oder dreißig Zentimeter geopfert wurden.
Alternative Entstehungsgeschichten
Nach einer alternativen Entstehungsgeschichte schuf Grünewald dieses Gemälde ursprünglich im Auftrag des Großmeisters des Deutschen Ritterordens Walter von Cronberg für die Spitalskirche zu Sachsenhausen bei Frankfurt. Der Entstehungszeitpunkt des Gemäldes wäre dann um 1520. 1525 flüchtete der Deutschherren-Orden nach Bad Mergentheim, nachdem durch die Reformation der Stammsitz dieses Ordens in Sachsenhausen gefährdet war und die erste Zuflucht, das Schloss Horneck, zerstört wurde. Nach dieser Auffassung wäre das Bild als alleinstehendes Altarbild geschaffen worden und von dem Orden jeweils mitgenommen worden.
Ebenfalls diskutiert wird, dass Grünewald das Bild ursprünglich für die Kirche "Maria zur weißen Lilie" (Ecclesia Maria ad lilium album) schuf, ein in Kirchendokumenten dieser Zeit verwendeter Name für die Aschaffenburger Sandkirche. 1532 ging das Gemälde als Geschenk des Mainzer Kurfürstbischofs Albrecht von Brandenburg als Dank für erwiesene Hilfe in den Besitz des Deutschen Ordens über. Es wäre dann direkt von Aschaffenburg nach Bad Mergentheim gelangt.
Unabhängig, ob das Bild im Auftrag des Deutschherren-Ordens entstand oder ob dieser Orden es als Geschenk erhielt, wäre es ein von den Bildinhalten zu dem Orden passendes Gemälde gewesen. Der Orden, dessen lateinischer Ordensname "Ordo Teutonicorum Beatae Mariae Virginis" lautet, war von einer besonderen Verehrung zur Gottesmutter geleitet. Dass es sich auf dem Deutschherren-Schloss in Bad Mergentheim befand, ist bis ins Jahr 1803 belegt.
Altarbild in Stuppach
Gesichert ist, dass das Bild 1809 in den Besitz des ehemaligen Deutschordens-Priesters Balthasar Blumhofer kam. Er erwarb es aus dem Deutschorden-Schloss für seine Pfarrkirche "Maria Krönung", wo es seit 1812 als Altarbild dient. Schlagzeilen machte die Kirchengemeinde, als sie im Jahre 2002 sich weigerte, das Gemälde für die von Dezember 2002 bis Februar 2003 angesetzte Schau "Das Rätsel Grünewald" im Aschaffenburger Schloss auszuleihen. Der Rottenburg-Stuttgarter Diözesankonservator Wolfgang Urban begründete die Entscheidung damit, dass das Gemälde äußerst empfindlich gegen Erschütterungen sei. Das letzte Mal, dass das Gemälde auf Ausstellungen zu sehen war, war das Jahr 1999, als die Stuppacher Madonna wegen an der Kirche stattfindender Restaurierungen ausgelagert werden musste.
Auftraggeber und Bildausführender
Die Stuppacher Madonna weist sehr große Ähnlichkeit zu der Tafel "Engelskonzert" des Isenheimer Altars auf. Es ist motivisch mit ihm stark verwandt und steht ihm auch stilistisch sehr nahe. Unabhängig davon, welche Entstehungsgeschichte die zutreffendere Variante ist, entstand die Stuppacher Madonna zeitlich nach dem Isenheimer Altar. Möglicherweise hat der Auftraggeber die Tafeln des Isenheimer Altars gekannt und ein vergleichbares Bild in Auftrag gegeben.
Der Einfluss des Auftraggebers auf die Ausgestaltung eines mittelalterlichen Gemäldes war immer sehr groß. Maler des 16. Jahrhunderts verstanden sich im allgemeinen nicht als unabhängige Künstler sondern als Handwerker, die die Wünsche ihrer Kunden umsetzten. Auch wenn es sich nicht belegen lässt, ist es wahrscheinlicher, dass die reiche Bildsymbolik der Stuppacher Madonna auf Wunsch des Auftraggebers entstand und weniger die religiöse Auffassung oder das religiöse Verständnis Grünewalds widerspiegelt. Zwei Indizien stützen diese Auffassung: Im Bildarchiv der Stuppacher Kirche wird eine Studie Grünewalds für dieses Gemälde aufbewahrt, die das Kind nicht nur mit Flügeln zeigt sondern auch eine gekrönte Madonna darstellt. Im Gemälde dagegen ist Maria kronenlos. Und während beim Isenheimer Altar eher die Visionen der hl. Hildegard von Bingen die Wahl der Symbole beeinflussten, wird in der Stuppacher Madonna eher auf die Visionen der hl. Brigitta von Schweden Bezug genommen.
Bildaufbau
Das Gemälde ist durch eine Diagonale von links unten nach rechts oben in zwei Hälften geteilt. Die rechte Bildseite, auf der sich unter anderem die Kathedrale befindet, wirkt dunkler und schwerer. Sie scheint sich in größerer Nähe zum Betrachter zu befinden. Die linke Seite erscheint durch ihre Farbgebung heller und ätherischer. Eine zweite Sichtdiagonale, die weniger auffällig ist, verläuft von rechts unten nach links oben vom Mantelsaum über die Haare bis zu den Wolken. Optischer Mittelpunkt des Bildes ist Maria mit dem Kinde, die mit ihrem ausgebreiteten Mantel ein Dreieck bildet. Der Baum zu ihrer rechten Seite folgt in leichter Schwingung ihrer Körperkontur. Ihr Kopf befindet sich im Schnittpunkt der beiden Diagonalen. Exakt in der physischen Bildmitte befinden sich die Hände. Vor dem Hintergrund des Mantels bilden sie in diesem Bild den stärksten Hell-Dunkel-Kontrast.
Bildobjekte
Das detailgetreu gemalte Bild zeigt Maria, die auf einem Brunnenrand oder einer Bank sitzt. Sie trägt ihr langes, blondes Haar offen und keine Krone krönt ihr Haupt. Der Kopf ist dem Kind zugewandt, das auf ihrem Schoß steht und dem sie mit der linken Hand einen Granatapfel reicht. Mit der rechten Hand hält sie das Jesuskind, wobei die Finger in unnatürlicher Haltung gespreizt sind. Mit ebenso unnatürlicher Fingergestik greift das Kind in Richtung Granatapfel und weist gleichzeitig mit seinen Fingern auf den dargestellten Baum. Über dem Kopf Marias wölbt sich ein Regenbogen, darunter ein angedeuteter Heiligenschein. Am linken oberen Bildrand öffnet sich der Himmel; Gottvater und Engel sind erkennbar.
Rechts von Maria befindet sich ein Baum, dessen Krone durch den oberen Bildrand abgeschnitten ist. Er trägt gleichzeitig Laub, Blüten und Früchte. An der Wurzel des Baumes steht ein Gefäß mit Blumen. Eindeutig zu identifizieren sind Rosen und Madonnenlilien. Im Hintergrund des Baumes ist eine Kathedrale mit weit vorspringenden Strebebögen erkennbar, die vom rechten Bildrand teilweise abgeschnitten ist. Kunsthistoriker haben in der dargestellten Kathedrale sowohl Details des Straßburger Münsters, der Stiftskirche in Aschaffenburg als auch des Mainzer Doms entdeckt.
Links sieht man eine Porzellanschale, in der ein Rosenkranz liegt, sowie einen Krug. Darüber ist ein Feigenbaum erkennbar, der sich um ein Holzkreuz windet und dahinter ein Garten mit einem geschlossenen Tor in Kreuzform, Bienenstöcke und darüber eine Landschaft mit Dorf, Gebirge sowie einem in der Ferne angedeuteten Meer.
Bildsymbolik
Bildaussage: Maria als Mutter der Kirche
Wie für Gemälde dieser Zeit typisch, besitzen die meisten der auf diesem sorgfältig durchkomponierten Bild dargestellten Objekte eine tiefere Symbolik. Die Allegorese ist hier allerdings sehr vielschichtig, bezieht sich auf viele mystische Symbole wie sie beispielsweise in den Visionen der hl. Birgitta von Schweden genannt werden und in der deutschen Mystik eine Rolle spielen. Das Bild hebt sich damit von zeitgenössischen Madonnendarstellungen ab. Die Symbolik einzelner Gegenstände erschließt sich teilweise nur in Zusammenhang mit der Symbolik anderer auf dem Bild dargestellter Objekte und lässt Spielraum für eine Reihe unterschiedlicher Leseweisen. Die verwendete Bildsprache war zumindest zu einem Teil den theologisch gebildeten Zeitgenossen Grünewalds geläufig. Neben der reinen Darstellung der Madonna mit dem Kinde diente diesen das Bild als Meditationshilfe über Glaubensinhalte.
Kunsthistorisch besteht heute weitgehend Konsens, dass die zahlreichen Details des Bildes darauf hinweisen, dass Grünwalds Gemälde als eine Darstellung Mariens als Mutter der Kirche zu interpretieren ist. Berta Reichenauer hat dazu geschrieben:
- Grünewald hatte auf seinem Bild die Kirche und ihre göttliche Sendung darzustellen. So wie der Mensch das Spielzeug Gottes ist, die Schöpfung aus dem göttlichen Spiel hervorgegangen ist, so ist auch die Kirche Spielpartner des Höchsten. Maria ist die Mutter der Kirche, dem Hohenlied zufolge die Braut des Herrn. Ihr Spiel ist bräutliches Spiels, wie es die Mystiker verstanden. (Reichenauer, S. 68)
Das Lächeln Marias und das Spiel des Kindes
Auf den unvoreingenommenen Betrachter wirkt das leichte Lächeln Marias, das auf zahlreichen mittelalterlichen Madonnendarstellungen zu sehen ist, als das Festhalten des subjektiven Gefühlsausdruckes einer selbstvergessenen Mutter, die mit ihrem Kind spielt. Es erscheint in ähnlicher Weise beispielsweise bei Raffaels "Madonna im Grünen" oder bei Leonardo da Vincis "Felsgrottenmadonna". Dieses malerisch so häufig festgehaltene Lächeln, das auf viele heutige Betrachter gelegentlich kitschig wirkt, ist der malerische Ausdruck einer langwährenden theologischen Überlegung. Schon die Kirchenväter und die Mystiker hatten sich mit dem Verhältnis Marias zu ihrem Kind auseinandergesetzt und sich mit der Frage beschäftigt, welche Rolle dabei Spielen und Lächeln spielte.
- Sieh, unter dem lieben
- Weinstock, o Christus,
- spielt voller Frieden,
- behütet im Garten
- die heilige Kirche
heißt es schon bei dem Mönch Notker.
Die theologische Überzeugung, dass sich im Lächeln die göttliche Weisheit und Gelassenheit manifestiere und dass der leidende Gott auch ein spielender Gott, ein "Deus ludens" war, spiegelt sich in vielen Gemälden des 15. und 16. Jahrhunderts wider. So spielt bei Raffael das Jesuskind mit dem Kreuz, während bei Grünewald das spielende Kind mit seinen gespreizten Fingern nicht nur nach dem Granatapfel greift, sondern mit dieser Geste gleichzeitig auf den neben Maria stehenden Baum verweist, der hier ebenfalls eine mehrschichtige Symbolik besitzt und unter anderem den Kreuzestod andeutet.
Das spielende Kind auf dem Schoß der Mutter steht dabei auf schwerem, kostbar verbrämtem Brokat und über ihm öffnen sich die Wolken, um den Blick auf Gottvater freizugeben. Im Alten Testament ist die Wolke Symbol der Gegenwart Gottes, während sie im Neuen Testament auf seine Vergegenwärtigung hinweist.
Der Granatapfel
Das Jesuskind der "Stuppacher Madonna" spielt mit einem Granatapfel. Grünewald weicht damit von der gängigen Bildsymbolik ab. Auf der überwiegenden Mehrzahl der "Madonna mit Kind"-Darstellungen spielt das Jesuskind entweder mit einem Apfel - Symbol der Überwindung des Sündenfalls durch den Tod Christi - oder mit einer Weltkugel, dem Symbol seiner Weltherrschaft. Dass Maria ihrem Kinde einen Granatapfel zum Spiele hinhält, ist der Schlüssel zur eigentlichen Bildaussage, dass Maria die Mutter der Kirche sei. Der Granatapfel, der unter einer harten Schale zahlreiche Kerne trägt, besitzt eine vielschichtige Symbolik - mit seiner harten Schale verweist er auf die Askese des Priesterstandes, die reiche Frucht trägt. In seiner Gesamtheit symbolisiert die Frucht die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Auf die zentrale Bedeutung der Frucht für die Bildaussage weist zum einen die Darstellung in der Bildmitte hin sowie die exaltierte Fingerhaltung von Mutter und Kind. Die drei Finger, mit denen Maria ihn hält, weisen auf die Befruchtung, die Empfängnis und die Geburt. Die Haltung der Finger der rechten Hand des Kindes ist mehr als ein spielerisches Zugreifen. Es erinnert an die Segnungsgeste in der kirchlichen Liturgie und mit dieser Geste segnet das Kind nicht nur den Granatapfel als Symbol der Kirche sondern auch Maria, die Mutter der Kirche. Daumen, Zeige- und Mittelfinger, mit denen die Geste ausgeführt wird, deuten auf die Dreifaltigkeit. Berta Reichenauer sieht in ihrer Interpretation des Bildes noch eine weitere Bedeutung in dieser Geste: Allein die Liebe (= Daumen) führt vom Geist (= Bedeutung des Zeigefingers) inspiriert zum wahren, durch das Leiden (= Granatapfel) gekrönten Leben (= Bedeutung des Mittelfingers).
Der Baum
Mit dem Zeigefinger der linken Hand weist das Kind in Richtung Baum. Auffällig an diesem ist, dass er gleichzeitig Früchte und Blüten trägt. Wenn dies auch bei manchen tropischen Bäumen vorkommt, ist dies jedoch keine Eigenschaft mitteleuropäischer Baumarten. Das gleichzeitige Fruchten und Blühen ist ebenso wie die an seinen Wurzeln stehenden Madonnenlilien vor allem Symbol der Jungfräulichkeit Mariens. Auch hier hat Grünewald ein nicht sehr häufig verwendetes Symbol benutzt - auf vielen mittelalterlichen Tafelgemälden sind es die tatsächlich gleichzeitig blühenden und fruchtenden Walderdbeeren, die auf diese Eigenschaft Mariens hinweisen. Der Baum deutet hier jedoch gleichzeitig auf den Kreuztod Christi und ist damit das Symbol der Erlösung.
Ziermann weist jedoch auch darauf hin, dass die Zeigerichtung der Finger auch auf den Halsschmuck Marias deuten: Der zeitgenössische Betrachter las diesen Schmuck als Zeichen der Brautschaft Marias und der jungfräulichen Empfängnis. Im selben Sinne deutete er das Kreuz an der Pforte zum geschlossenen Garten (Ziermann, S. 156).
Die Kathedrale und das Meer
In der Form der Kathedrale wiederholt sich der pyramidale Aufbau der Marienfigur. Grünewald hat in der Darstellung der Kathedrale Bezüge zu drei Kirchen geschaffen; in den Maßwerk-Fenstern sind zwei achtspeichige Räder stilisiert, die auch im Mainzer Wappen auftauchen - er bezieht sich damit auf den Mainzer Dom. Das Querschiff erinnert an die Fassade des südlichen Querschiffes des Straßburger Münsters, bevor dort die Gerichtslaube entfernt wurde und der Treppenaufgang ähnelt dem der Stiftskirche (Augsburg).
Die christliche Literatur nutzt das Bild des Schiffes und der Arche häufig als Sinnbild für die Kirche und verwendet die Formulierung von der Kirche, die einem Schiff gleich durch das "böse Meer der Welt" fährt. Seit dem Beginn der katholischen Literatur im Altertum gab es ebenso wie in der rabbinischen Literatur Auslegungen des Namens "Maria", die einen Bezug zum Meer herstellten und die unter anderem dazu führten, dass zahlreiche lateinische und deutsche Marienlieder Maria als "Meerstern" ansprechen, als Stern, der den Weg in den Hafen des Heils weist. Tatsächlich entdeckt man im fernen Bildhintergrund ein Meer und deutlich sichtbar wölbt sich ein Regenbogen darüber. Der Regenbogen ist schon bei Moses das Zeichen nach der Sintflut des göttlichen Bundes (1. Mos. 9,13), der durch Jesus Christus erneuert wird. Ein mit der christlichen Symbolik vertrauter Zeitgenosse Grünewalds könnte daher in diesem Bild lesen, dass nur der Rettung im Heil fände, der der von Maria gelenkten Kirche angehört - so wie nur die Rettung vor der Vernichtung durch die Sintflut fanden, die sich auf der Arche befanden. Dazu passt, dass über dem Treppenaufgang eine Marienfigur steht - auch dies ist eine Anspielung auf den Ehrentitel Mariens als "Figura ecclesia", als "Bild der Kirche". Für die mittelalterlichen Theologen war Maria allerdings nicht nur "Figura ecclesia", sondern auch "Sponsa et mater Ecclesia", Braut und Mutter der Kirche zugleich.
Kunsthistoriker weisen jedoch auch daraufhin, dass der Regenbogen auch anders gedeutet werden kann. Der Regenbogen taucht auch in den Visionen der hl. Birgitta von Schweden auf. In diesen Visionen spricht Birgitta von der Muttergottes, die wie der Regenbogen über den Wolken stehe und sich wie dieser zu den Erdbewohnern herabneige, den Guten wie den Bösen mit ihrem Gebet berührend.
Die kronenlose Maria und das geschlossene Gartentor
Für die Deutung Marias als Braut der Kirche ist maßgeblich, dass Maria anders als auf der Vorstudie Grünewalds auf dem Gemälde keine Krone trägt. Ihr Halsschmuck weist ebenso auf den Status ihrer Bräutlichkeit hin, wie der Ring an der linken Hand und ihr offenes Haar. Ihr Kleid gleicht dem einer Königin; ihre Haartracht ist jedoch die eines einfachen Mädchens, so wie sie im Hohen Lied der Bibel erwähnt wird. Auch das verschlossene Gartentor, die Lilien, der Sitzplatz unter dem Baum, der über den Bienenstöcken angedeutete Honig, der Regenbogen und der Feigenbaum, der sich um ein im Garten stehendes Holzkreuz windet, verweisen auf diesen Bibeltext. Den "Hortus conclusus", den das geschlossene Gartentor andeutet, wird in der Malerei häufig durch die Darstellung von Blumen ergänzt, die zu den marianischen Symbolen zählen. So sind neben den Rosen, den Lilien und der Feige auch Nelke, Weißdorn und Kamille kreisförmig um Maria angeordnet.
Bienenstöcke tauchen allerdings auch in den Visionen der hl. Birgitta von Schweden auf. In dieser Mystik wird Maria einem Bienenkorb gleichgesetzt, in dessen Schoß Gottes Sohn "die hochgelobte Biene" Einkehr nahm. Ähnlich wie beim Regenbogen ist die Darstellung der Bienenstöcke mehrdeutig.
Restaurierungen
Das Gemälde ist zwischen 1833 und 1931 insgesamt fünfmal restauriert worden. Vor der letzten Renovierung zwischen 1926 und 1931 in Stuttgart war das Gemälde in sehr schlechtem Zustand. Der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger schrieb über den damaligen Zustand:
- Diesem Bild ist es widerfahren, daß ein Bauernmaler die schadhaften Partien auf seine Weise restaurierte. So hat der üble Pinsel dieses Tünchermeisters den ganzen Himmel überschmiert und den dort in der Gloriole Gottes schwebenden Engelreigen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch das Gesicht der Madonna, wie Kopf und Körperchen des Jesusknaben wurden mit einer dicken Farbenkruste zugedeckt, wie schließlich auch die grobe Form des Regenbogens dem Pfuschwerk dieses Restaurators zugehört. (Fraenger, S. 296)
Die Restaurierung in Stuttgart, die durch den Restaurator Tettenborn vorgenommen wurde, ist umfangreich belegt, weil eine Fotodokumentation darüber besteht. Die Restaurierung hat viele der vorherigen Schäden an dem Werk korrigiert, war allerdings an einer Stelle nicht sonderlich werkgetreu. Aufgrund einer Vorstudie Grünewalds, die sich heute im Kupferstichkabinett der Staatsgalerie Stuttgart befindet, geht der Kunsthistoriker Ziermann davon aus, dass insbesondere die Gloriole verändert wurde. Diese zeigt in der Vorstudie einen Christus als Weltenherrscher, der in der linken Hand einen kreuzgekrönten Globus und in der rechten ein Zepter trägt. Das Kreuz an der Spitze des Zepters, das die gleiche Form wie das Kreuz an der Gartenpforte hat, weist auf ihn als himmlischen Bräutigam der Jungfrau. Von seinem Thron aus tragen zwei Engel eine Krone, um sie Maria als der Himmelskönigin zu überbringen. Die jetzige Übermalung zeigt dagegen einen Gottvater, der von einer Vielschar von Engeln umgeben ist.
Wirkungsgeschichte
Der Maler Matthias Grünewald, von dem nur etwa 60 Werke auf unsere heutige Zeit überliefert sind, ist von der Nachwelt für fast vier Jahrhunderte vergessen worden. So befindet sich beispielsweise in der Stiftskirche von Aschaffenburg noch der ursprüngliche Rahmen des "Maria-Schnee-Altars", der die originale Signatur Matthias Grünewalds trägt. Offenbar hielt man irgendwann den Rahmen für kostbarer als das darin befindliche Gemälde, das möglicherweise die Stuppacher Madonna war. Das darin befindliche Bild wurde herausgeschnitten und durch ein neuzeitlicheres ersetzt, wobei nicht mehr rekonstruierbar ist, wann dies geschah. Seit 1947 befindet sich wieder eine der Größe des Rahmens angepasste Kopie der Stuppacher Madonna darin.
Die geringe Wertschätzung, die man Grünewald noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegenbrachte, lässt sich auch an der Besitzgeschichte des rechten Seitenflügels ablesen. Der Seitenflügel befand sich bis 1828 in der Aschaffenburger Stiftskirche, kam dann in die bayerische Zentralgalerie in München und wurde 1852 für den geringen Gegenwert 15 Gulden und 36 Kreuzer an einen Freiburger Domkapitular versteigert und gelangte nach verschiedenen privaten Besitzern 1904 in den Besitz der Stadt Freiburg. Auch die Stuppacher Madonna wurde laut dem Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger für ein Spottgeld von dem Pfarrer Blumenthal erworben. Dies hat sich in den letzten zweihundert Jahren grundlegend geändert. Der für das Gemälde zuständige Diözesankonservator Wolfgang Urban setzte den Versicherungswert des Gemäldes, das nach seiner Einschätzung zu den Hauptwerken der Weltkunst gehört, 2002 mit 100 Millionen Euro an.
Die Veränderung der Wertschätzung gegenüber dem Maler Grünewald seit Ende des 19. Jahrhunderts ist auf die "Wiederentdeckung" des Isenheimer Altars zurückzuführen. Die Stuppacher Madonna befand sich bis zur Restaurierung von 1926 bis 1931 in einem zu schlechten Zustand, als dass man darin die malerische Leistung Grünewalds hätte entdecken können. Bis heute ist es kunsthistorischer Konsens, dass der Isenheimer Altar das Hauptwerk Grünewalds sei. Wenige Kunsthistoriker gehen allerdings so weit wie der 1964 verstorbene Grünewald-Experte Wilhelm Fraenger, der zwar die Stuppacher Madonna als ein malerische Leistung höchsten Ranges einordnet, sie als "berückendste Schaukostbarkeit" bezeichnet, aber die Überzeugung vertritt, dass sie von geringerer seelischer Ausdruckskraft als dieser Wandelaltar sei. Im allgemeinen wird dem Isenheimer Altar größere Bedeutung zugesprochen, weil er sich in seiner Bildsprache sehr stark von zeitgenössischen Werken abhebt. Die Stuppacher Madonna ist im Vergleich dazu konventioneller.
Siehe auch
Literatur
Zur Stuppacher Madonna
- Brigitte Barz: Die Stuppacher Madonna. Urachhaus, Stuttgart 1998. ISBN 3-8251-7193-0
- Tilman Daiber: Die "Stuppacher Madonna" von Matthias Grünewald. Untersuchung zur Maltechnik. Hochschulschrift. Akad. der Bildenden Künste, Stuttgart 1999.
- Werner Groß (Hrsg.): Die Stuppacher Madonna zu Gast im Diözesanmuseum Rottenburg. Süddeutscher Verlag, Ulm 1999. ISBN 3-88294-280-0
- Elsbeth Wiemann: Die Stuppacher Madonna. Ausstellungskatalog. Staatsgalerie, Stuttgart 1998.
- Lieb, teuer und nicht zu kriegen. Grünewald-Schau in Bayern - Auch die Stuppacher Madonna kommt nicht. in: Sonntagsblatt. Evangelische Wochenzeitung für Bayern. 11. August 2002.
Über den Maler Matthias Grünewald
- Horst Ziermann, Erika Beissel: Matthias Grünewald. Prestel, München 2001. ISBN 3-7913-2432-2
- Berta Reichenauer: Grünewald, Kulturverlag Thaur, München 1992. ISBN 3-85395-159-7
- Wilhelm Fraenger: Grünewald, Verlag der Kunst, Dresden 1995. ISBN 3-364-00324-6
- Hanns Hubach: Matthias Grünewald: Der Aschaffenburger Maria-Schnee-Altar. Geschichte — Rekonstruktion — Ikonographie. Mit einem Exkurs zur Geschichte der Maria Schnee-Legende, ihrer Verbreitung und Illustrationen. (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 77, 1996. ISBN 3-929135-09-4.