Neurose

Begriff und Krankheit in der Psychologie
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Unter Neurosen wird eine Gruppe von psychischen Störungen verstanden. Speziell in der Psychoanalyse und der Psychiatrie der Freudschen Schule und deren Nachfolgern wird angenommen, dass eine Neurose durch einen inneren, unbewussten Konflikt zwischen dem Es und dem Über-Ich entsteht. In diesem Konflikt kann es zu einem Zusammenbruch des Ichs kommen. Die Funktionsfähigkeit des Ichs wird durch die Abwehrmechanismen aufrechterhalten. Dies kann ebenso wie der Konflikt selbst zu der neurotischen Symptombildung führen. Das psychoananlytische Modell zur Neurosenentstehung nennt man das Konfliktmodell. Eine Persönlichkeitsstörung (Charakterneurose), welche zumeist Ich-synton ist, wird durch eine frühe Störung in der narzisstischen Entwicklung ausgelöst.

Die Primärtheorie von Arthur Janov erklärt die Neurose in gänzlich anderer Weise als die klassische Freudsche Schule. In der Primärtheorie versucht ein Kind den psychischen Konflikten der zwischen natürlichen Bedürfnissen (Es) und diesen natürlichen Bedürfnissen entgegen stehenden Lebensbedingungen, im weitesten Sinne als Über-Ich zu verstehen, dadurch zu lösen, dass es die Bedürfnisse aus dem bewussten Erleben verdrängt. Im Alter von ca. 6 Jahren, was je nach Lebensbedingungen variieren kann, gewinnt das Kind die grundsätzliche Erkenntnis, dass es mit seinen natürlichen Bedürfnissen niemals anerkannt wird, was zu einem "Umkippen" führt. Die Tendenz zur Verdrängung von Bedürfnissen nimmt ab diesem Zeitpunkt überhand und wird im primärtherapeutischen Sinne als neurotisch bezeichnet.

Theorie

Allgemein lässt sich sagen, dass die Neurose eine psychische Verhaltensstörung von längerer Dauer ist. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie erst im Laufe der Entwicklung entstanden ist. Zur Bestätigung solcher Diagnosen müssen organische Störungen als Ursache des Fehlverhaltens ausgeschlossen werden. Seine ihm charakteristischen Verhaltensstörungen vermag der Neurotiker nicht zu kontrollieren, er ist sich seines Leidens jedoch bewusst und an sich fähig, dessen Ursachen zu ergründen. (Gemäß Freuds Theorie führt schon dies geistige Streben, in Anwendung vor allem der Traumanalyse, zu ersten therapeutischen Ergebnissen.) Der Psychotiker ist dazu tendenziell außerstande, die Übergange zur Neurose bleiben allerdings fließend. So stellen z.B. auch die Träume der Gesunden ("normalen" Neurotiker) nach Freud im weitesten Sinne "psychotische" Vorgänge dar, infolge des im Schlaf momentan geschwächten Ich-Vermögens, die im Traum erlebte Realität von der den Träumer umgebenden Wirklichkeit zu unterscheiden.

Viele Zwangsstörungen (wie etwa der "Waschzwang") oder die Phobien (wie z.B. die Soziophobie) werden von Befürwortern des Begriffs zu den Neurosen gezählt. Als differentialdiagnostisches Kriterium zur Abgrenzung von der Psychose gilt unter anderem auch, dass die Neurotiker ihre Zwänge nicht nur als solche wahrnehmen (s.o.), sondern in aller Regel auch an dem Unvermögen, ihrer Herr zu werden, leiden.

Zur Illustration ein Auszug aus der "Neurosenlehre" von Alfred Adler 1913:

Jede Neurose kann als ein Versuch verstanden werden, sich aus einem Gefühl der Minderwertigkeit zu befreien, um ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen. Der Weg der Neurose führt nicht auf die Linie der sozialen Aktivität, zielt nicht auf die Lösung der gegebenen Lebensfragen, mündet vielmehr in den kleinen Kreis der Familie und erzielt die Isolation. Der Wirklichkeit zum großen Teile abgewandt, führt der Nervöse ein Leben in Einbildung und Phantasie und bedient sich einer Anzahl von Kunstgriffen, die es ihm ermöglichen, realen Forderungen auszuweichen und eine ideale Situation anzustreben, die ihn einer Leistung für die Gemeinschaft und der Verantwortlichkeit entzieht. Diese Enthebungen und die Privilegien der Erkrankung, des Leidens, bietet ihm den Ersatz für das ursprüngliche, riskante Ziel der realen Überlegenheit. So stellt sich die Neurose und die Psyche als ein Versuch dar, sich jedem Zwang der Gemeinschaft durch einen Gegenzwang zu entziehen. Letzterer ist derart zugeschnitten, dass er der Eigenart der Umgebung und ihren Forderungen wirkungsvoll entgegentritt. Der Gegenzwang hat einen revoltierenden Charakter, holt sein Material aus geeigneten affektiven Erlebnissen oder aus Beobachtungen, präokkupiert die Gedanken-die Gefühlssphäre mit solcher Regung, aber auch mit Nichtigkeiten, wenn sie nur geeignet sind, den Blick und die Aufmerksamkeit des Patienten von den Lebensfragen abzulenken. Auch die Logik gelangt unter die Diktatur des Gegenzwangs. Dieser Prozess kann bis zur Aufhebung der Logik, wie in der Psychose, gehen. Alles Wollen und alles Streben des Nervösen steht unter dem Diktat seiner Prestigepolitik, greift immer Vorwände auf, um Lebensfragen ungelöst zu lassen, und wendet sich automatisch gegen die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls.

Selbstverständlich gibt es auch verschiedene Grade dieser Zwänge, so dass nicht alle diese Patienten einer Behandlung bedürfen. Als subjektiv erleichternd, weil das Gefühl sozialer Ausgrenzung bzw. Minderwertigkeit (s.o.) weniger aufkommen lassend, wirkt sich die weite Verbreitung eines bestimmten Typs von Neurose in der jeweils betroffenen Kultur aus, der dadurch also zur sozialen Norm wird. Die Gleichsetzung solcher "Normalität" mit der Bedeutung des Begriffes "Gesundheit" wurde von Freud mit höchster Skepsis betrachtet. Eine Lösung der akademischen Diskussion, die darum seit der Aufklärung im Zusammenhang mit dem Phänomen der Instinktreduktion geführt wird, ist noch nicht in Sicht.´

Neuere Klassifikationssysteme

Durch die Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV wurde der Begriff Neurose, der ausschließlich auf den Theorien der Psychoanalyse beruht, durch für verschiedene Disziplinen und klinische Theorien geeignetere ersetzt. In der offiziellen Nomenklatur dieser Systeme kommt nur noch das Adjektiv neurotisch vor. Begründung für dieses, wenn auch nicht völlig konsequent durchgeführte, Vorhaben, den Begriff Neurose zu meiden, ist

  1. die unzulängliche Abgrenzbarkeit zur Psychose (einem Begriff, der aus demselben Grund ebenfalls nicht verwendet wird), da dies nach den Maßgaben der WHO und zur Differentialdiagnostik wichtig ist
  2. die bislang nicht mögliche scharfe Abgrenzung zwischen neurotischem und gesundem Verhalten und
  3. die Theoriegebundenheit des Begriffs:

Er stammt aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds und impliziert somit bestimmte theoretische Vorstellungen über das Zustandekommen von psychischen Störungen, die von anderen Theorierichtungen nicht akzeptiert werden. Jedoch ist in weiten Kreisen der deutschsprachigen Ärzte und Psychotherapeuten die traditionelle Unterscheidung zwischen Neurose und gesundem Verhalten nach wie vor üblich. So auch die Verwendung des Begriffes Psychose (Störung des ICH-immanenten Vermögens, den Realitätsgehalt Innerer und Äußerer Wahrnehmung zu differenzieren ('Stimmenhören'; 'Wahnvorstellungen')). Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff einen hohen praktischen und wissenschaftlichen Wert hat.

Siehe auch

Wiktionary: Neurose – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wikiquote: Neurose – Zitate


Tiefenpsychologie