Das ca. 100 Jahre n.u.Z. verfasste Diamant-Sutra zählt zu den wichtigsten Texten des Mahayana-Buddhismus. Es hat in den verschiedensten asiatischen Ländern schon früh eine weite Verbreitung gefunden und ist Bestandteil der "Prajnaparamita-Sutren". (prajnaparamita (Sanskrit) = vollkommene Weisheit). Die erste Druckversion des Sutras stammt aus China und wurde im Jahre 868 im Holzdruckverfahren hergestellt (Dieses Dokument gilt als eines der ersten Buch-Druckerzeugnisse der Menschheitsgeschichte). Der vollständige Titel des Sutras lautet "Vajracchedika Prajnaparamita" und bedeutet "Der Diamant, der Unwissenheit, Wahn und Illusion durchschneidet".
Form
Das relativ lange Diamant-Sutra untergliedert sich in 32 Abschnitte. Die Rezitation des gesamten Sutra nimmt etwa 45 Minuten in Anspruch. Das Sutra ist ein durch Fragen und Antworten strukturierter Dialog zwischen "Subhuti", einem erfahrenenen Schüler des Buddha und dem Buddha selbst.
Inhalt
"Form ist Leerheit - Leerheit ist Form": Der buddhistische Kerngedanke aus dem "Herz-Sutra" zieht sich (wenn auch nicht explizit) wie ein roter Faden durch das Diamant-Sutra. Nach der Lehre des Buddhas existieren zwei Wirklichkeiten/zwei Wahrheiten: 1) einerseits die Welt der Form, die Welt der sinnlich erfahrbaren Phänomene, die Welt der in Zeichen und Begriffen geronnenen trügerischen, da einseitigen, Wahrnehmungen und 2) auf der anderen Seite: die Welt der Leerheit (sunyatta), die Welt der "Soheit", eine Sphäre jenseits der Form, jenseits von Geburt und Tod, Anfang und Ende, Selbst und Nichtselbst, eine Welt jenseits aller Begriffe. Der Buddha wäre aber nicht der Buddha, wenn er sich darauf beschränkte, diese beiden Wirklichkeiten einander gegenüber zu stellen. Form und Leerheit sind letztlich eins, es gibt keine Dualität von Form und Nicht-Form - beide sind Ausdrucksformen ein und derselben Wirklichkeit, zwei Gesichter ein und der gleichen Welt.
Ein Gleichnis mag diesen Gedanken illustrieren: Eine Welle im Ozean ist nur scheinbar
ein isoliertes, selbsthaftes Phänomen: sie ist Teil des Ozeans, geht aus ihm hervor. Die Welle besteht also letztlich ausschließlich aus Elementen, die Nicht-Welle sind (Form ist Leerheit). Trotzdem geht die Welle nicht völlig im Ozean auf, sie bleibt trotz ihres Eingebettet-Seins in den Ozean des Universellen eine Welle, ein individuell existentes Phänomen (Leerheit ist Form).
Diese Kernaussage wird im Diamant-Sutra in zahlreichen Varianten ausgebreitet. Das Sutra fordert uns auf, hinter die Oberfläche der Phänomene zu schauen und die Illusion zu durchschauen, die Wirklichkeit erschöpfe sich in der Oberfläche der sinnlich erfahrbaren und begrifflich fixierbaren Phänomene. Darum lautet der eigentliche Titel des Sutras auch korrekt und vollständig übersetzt: "Der Diamant, der die Illusion durchschneidet" (vajrachedika sutra). Der Diamant - das ist die Lehre des Buddha, und eigentlich sind es gleich mehrere Illusionen, die in diesem Sutra durchschnitten werden: die Illusion, die "Welle" habe eine unabhängige Selbstexistenz, sei getrennt und unabhängig vom Ozean, ferner die Illusion, man könne das wahre Wesen der Welle mithilfe von Zeichen (Begriffen) erfassen aber letztlich auch die Illusion, die Welle ginge völlig auf im Ozean und habe keinerlei Existenz jenseits der Leerheit des Ozeans. "Form ist Leerheit - Leerheit ist Form". Die Weisheit des Buddha überschreitet die Grenzen der Sprache - die rätselhaften Paradoxa des Diamant-Sutras sind Ausdruck dieser alle Logik sprengenden und alle Begriffe transzendierenden Weisheit. "Subhuti, du musst wissen, dass die Bedeutung dieses Sutras jenseits von Gedanken und Worten liegt".
Vier falsche Wahrnehmungen
Die Lehre des Buddha hat viele philosophische Elemente. Daher wird im Buddhismus auch der menschliche Wahrnehmungsakt immer wieder problematisiert und in Frage gestellt: Was sehen wir? Sehen wir die wahre Natur der Dinge oder nur unsere Vorstellungen/Bilder/Zeichen der Dinge? Im Diamant-Sutra sind es Vier Falsche Vorstellungen/Wahrnehmungen, die immer wieder angesprochen werden:
- die Vorstellung von einem Selbst (abgetrenntes, für sich stehendes Selbst)
- die Vorstellung von einer Person (Trennung von Mensch und Nicht-Mensch)
- die Vorstellung von einem Lebewesen (Trennung von belebter und unbelebter Materie)
- die Vorstellung von einer Lebensspanne (Geburt & Tod)
Alle diese Vorstellungen sind der Sphäre der Phänomene/"Welle" (s.o.) verhaftet, verbleiben im Bereich begrifflich-rationaler Unterscheidung und verfehlen damit die wahre Natur der Dinge, die diese Vorstellungen überschreitet.
Die Dialektik des Diamant-Sutra
Formulierungen wie die folgende finden wir in fast jedem Abschnitt des Sutra: "Das, was alle Dharmas (=Phänomene) genannt wird, sind in Wirklichkeit alles Nicht-Dharmas. Darum werden Sie alle Dharmas genannt." Der paradoxe Dreischritt all dieser - die Grenzen der Logik sprengenden - Sätze ist der folgende:
- 1) Was man A nennt 2) ist nicht A 3) und deshalb ist es A
Diese Paradoxie hat der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh in seinem Kommentar zum Sutra wie folgt aufgelöst:
- 1) „Betrachten wir A ganz sorgfältig und genau 2) und erkennen wir, dass A nicht A ist, 3) dann sehen wir A in seiner höchsten Blüte” (Das Diamant-Sutra, S. 59).
Oder anders formuliert:
- 1) „Betrachten wir eingehend ein Dharma 2) und sehen alles darin, was nicht dieses Dharma ist, 3) dann beginnen wir dieses Dharma zu sehen” (Ebenda, S. 69)
- Oder: “Können wir bei der Betrachtung einer Rose die Nicht-Rose-Elemente sehen, dann ist es für uns ungefährlich, das Wort „Rose”zu benutzen.” (Ebenda, S. 117)
Die Paradoxie löst sich in dem Moment auf, in dem klar wird, dass diese Sätze zwischen den eingangs erwähnten Realitäten (Welle/Wasser) hin- und herspringen, sich jeweils auf andere Wahrheiten, oder besser: andere Seiten/Aspekte der gleichen Wahrheit beziehen.
Literatur
- Thich Nhat Hanh: Das Diamant Sutra. Kommentare zum Prajnaparamita Diamant-Sutra (verfasst 1988). Theseus 1996. Sutra-Text + Kommentar.