Eurythmie

Bewegungskunst
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Eurythmie (gr. für "Schöner Rythmus") ist eine Bewegungskunst, die auf Ersuchen einer Mutter, welche für ihr bewegungsbegabtes Kind eine moderne, zukunftsweisende Berufsausbildung suchte, zwischen 1913 und 1924 von Rudolf Steiner entwickelt wurde. Sie wird an verschiedenen Instituten in einer fünfjährigen Berufsausbildung erlernt [1] Als besondere Formen sind neben der Bühneneurythmie und der "Betriebseurythmie" die pädagogische und die Heileurythmie als Bestandteil der Anthroposophischen Medizin über eine Zusatz-Ausbildung zu erlernen.

Bühneneurythmie

In Eurythmie-Aufführungen werden dramatische, epische und lyrische, aber auch humoristische Werke der Sprach- und Musikdichtung aller Epochen als "beseelte sichtbare Sprache" und "sichtbarer Gesang" zur Darstellung gebracht, sowohl in großen choreographischen Gruppen-Inszenierungen wie in solistischer Form. Die Darsteller/innen sind in farbige Gewänder (und meistens zusätzlich mit Schleiern) gekleidet, das Bühnenbild ist meist zurückhaltend und arbeitet vornehmlich mit farbigen Lichteffekten. Tanzgeschichtlich ist die Entstehung von Eurythmie in engem Zusammenhang mit der Revolutionierung von Tanztheater und Körperbewusstein Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen.

Hintergrund

Der Ursprung der Gesten und Bewegungen liegt in den räumlichen und zeitlichen Kraftfeldern, weche die menschliche Gestalt hervorbringen, und in denen sich der Mensch bewegt. Auch Sprechen, Musizieren und seelische Aktivität folgen als Bewegungen den Gesetzen von Raum und Zeit. Nicht die eigene Befindlichkeit, sondern die der Sprache (bei der Toneurythmie der Musik) innewohnenden und in ihr wirkenden Zusammenhänge versucht der Eurythmisierende mit Gesten und Bewegungen durch synchrone Gestaltung im Raum in die Sichtbarkeit zu bringen. Gesten, Formen und Körperstellungen wurden auf der methodologischen Grundlage der "Philosophie der Freiheit" Rudolf Steiners [2] mit Hilfe der von ihm ausgearbeiteten anthroposophischen Geisteswissenschaft [3] und auf der erkenntniswissenschaftlichen Basis der von Goethe inaugurierten ganzheitlichen Forschungsart entwickelt.

Eurythmie an der Waldorfschule

Die Eurythmie ist das einzige für Waldorf-Schulen spezifische Unterrichtsfach und an keiner anderen Schule vorhanden. Durchgehend vom Kindergarten bis zur 12.Klasse unterrichtet, ist sie obligatorisches Hauptfach. Sie dient dem Grundmotiv der Waldorfschule, der Erziehung zur Freiheit: Waldorfschule will den Menschen zum Leben mit anderen Menschen auf der Erde befähigen, ohne seine Identität als Individuum preiszugeben, und das bedeutet: Ihm im Spannungsfeld von Notwendigkeit und Freiheit die vom Ich geführte Orientierung und Bewegung in den Dimensionen der Raumeswelt zu ermöglichen. Von allen Künsten ist die Eurythmie die einzige, die den Menschen als individuelles geistiges Wesen über die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit in Denken, Fühlen und Wollen zum Entfalten seiner Bewegungsgestalt im Raum führen soll; sie soll in der Seele des Schülers die Kraft schaffen, das in Haupt- und Fachunterricht Erfahrene in die Gestaltung der eigenen Persönlichkeit zu führen. Es ist eine besondere Leistung der anthroposophischen Menschenkunde, dass sie die seit Descartes und Kant herrschende Vorstellung vom Raume als einer linearen Dreidimensionalität als bequeme Ausrede unseres Verstandes entlarvt hat, die einer gründlichen Untersuchung nicht standhält, wie sie für den Seh-Raum bereits durchgeführt wurde (Habilitation von Gerhard Kienle: Die nicht-euklidische Struktur des Seh-Raumes, Frankfurt 1964). Ein neues Verständnis des Bewegungsraumes muß daraus streng wissenschaftlich erst noch entwickelt werden, während die Eurythmie dem Erleben bereits ein solches wirklichkeitsgesättigtes Verhältnis erschließt. Diese Erfahrung schafft eine fruchtbare Gegenkraft zur lähmenden Wirkung des materialistischen Weltbildes, das den Raum nur als Ansammlung kleinster Partikel darstellt, in welchem der Mensch als Spielball des Zufalls zwischen genetischer Determination („Blut“) und Manipulation durch das Milieu („Boden“) Objekt ideologischer Einflüsse ist. Das stetige eurythmische Üben über die gesamte Schulzeit hinweg trägt maßgeblich dazu bei, dass im heranwachsenden Menschen sich die physiologischen Grundlagen für eine freie und selbstständige Urteilsfähigkeit herausbilden und kräftigen. Vielleicht liegt hier einer der Gründe, warum so wenig Waldorfschüler unter den Anhängern der menschenverachtenden Hitlerei zu finden waren? Im Reigen der Künste ist die Eurythmie die jüngste und ohne historische Vorbilder. Der Mensch bewegt sich im Raum. Indem er sich im Raum bewegt, erlebt und erfährt er die Welt und in ihr sich selbst. Scharf gedacht, könnte man jegliches Wahrnehmen, jedes Handeln, Fühlen und Denken, als Wirkungen und Taten im Raume beschreiben. Innenraum und Außenraum treten in Korrespondenz und entfalten eine wechselwirksame Bewegungs- und Erlebnisfülle. Die Raumes-Erfahrung gewinnt das Kind, wenn es lernt, sich im Raum zu bewegen. Diese Urform des Lernens wird durch die Erfahrung, durch das Erschließen und Erweitern des eigenen Bewegungs- und ‚Spiel’-raumes wirksam. Zugleich ist damit auch das Erlebnis von Grenzen und deren eventueller Überwindung verbunden wie das Ringen mit der Schwerkraft beim Erklettern eines Baumes oder das schrittweise Begreifen geometrischer Sätze. Mit der zunehmenden Wirksamkeit unserer zivilisatorischen Prägung durch Lernziele und -inhalte, Leistungsanforderungen und Zeugnisnoten tritt die elementare Bedeutung der Raumes-Erfahrung, der zeitgleichen Orientierung und Verrichtung mehrerer Tätigkeiten (räumliche Synchronizität) in den Hintergrund, ja in die Vergessenheit. Lernen, Arbeiten und Bewegen werden linear erlebt. Es ist, als ob die Dimensionen von Zeiterleben und Raumerfahrung voneinander getrennt werden. Ein ehemaliger Waldorfschüler, der seinerzeit größte Mühe mit der Eurythmie hatte, die er für absolut sinnlos und überflüssig hielt und entsprechend zu meiden suchte, berichtete, nach Jahren voller neuer Erfahrungen und mit einer herzlichen Freude, welche Früchte er besonders aus dem Eurythmieunterricht gewonnen habe: Zu seiner Berufsausbildung gehöre das Schweißen feiner Verbindungen, wo man die unterschiedlichen Tätigkeiten der linken und der rechten Hand synchron koordinieren und dabei den Plan des Ganzen, die Rohteile und das Fügen einzelner Fertigungsstufen bis zum Endprodukt im Bewußtsein haben muß. Es sei ihm aufgefallen, dass er und andere Waldorfschüler gar keine Schwierigkeiten mit dieser räumlichen Synchronisation hätten, weil sie durch die Eurythmie diese Fähigkeit synchroner Koordination verschiedener Bewegungen bewußt erarbeitet haben. Ausdrücklich meinte er, dies sei eine der Früchte des Eurythmieunterrichtes und er selbst war höchst verblüfft, dies zu entdecken, weil er sein lange gehätscheltes Vor-Urteil revidieren mußte, Eurythmie sei weltfremd und überflüssig. Die Eurythmie als Raum-Bewegungskunst erschließt dem an der Welt teilnehmenden und zu sich selbst erwachenden Bewußtsein des heranwachsenden Menschen auf einer bewußten Stufe die Erfahrung dieses Ur-Lernens, der Eroberung des eigenen Bewegungs- und ‚Spiel’-raumes, auch seiner Grenzen. Durch die eurythmische Arbeit in einer Gruppe müssen sich alle gegenseitig in diese räumliche Synchronisation einbeziehen, und es entsteht eine gemeinsame Tragkraft und Bereicherung durch die Gemeinschaft, die größer ist als die Summe der Einzelnen. Eurythmie arbeitet mit den Zukunftskräften im Menschen und ermöglicht Selbst-Verwandlung. Das aktive Verhältnis der Lehrerschaft zur Eurythmie ist dabei von zentraler Bedeutung; an Schulen, an denen die Lehrer selber aktiv eurythmisch üben, haben Schüler kaum Probleme mit dem Fach.

Hintergrund

Eurythmie ist die Kunst, in Sprache und Musik wirksame Gesetzmäßigkeiten und Beziehungen durch menschliche Bewegung sichtbar zu machen. Hierzu werden verschiedenen Gestaltungsmittel, wie Gesten, Farben und Raumformen (Choreographie), u.a. auch so genannte Seelengesten eingesetzt. Es geht hierbei nicht um willkürliche Bewegungen, sondern darum, die Bewegung aus dem Bewußtsein der Beziehung von eigenem Leib dem ihn umgebenden Raum und der Zeit zu gestalten. Die eurythmische Gestaltung eines Musikstückes oder einer Dichtung soll deren künstlerische Gestalt und die sie hervorbringenden Bildekräfte sichtbar werden lassen. Das bedeutet, dass intensives Erarbeiten des Kunstwerkes und ebenso intensives Üben der eurythmischen Grundelemente und ihrer Bewußtseinsgrundlagen der Anfang jeder eurythmischen Arbeit ist. Dabei arbeitet der Eurythmiker an seinem eigenen seelischen Erleben und Verständnis ebenso wie an seinem Bewegungsleib, wodurch Eurythmie zu "beseelter sichtbarer Sprache" und "sichtbarem Gesang" werden kann - wenn es dem Eurythmiker oder der Eurythmikerin gelingt, die persönlichen subjektiven Sympathien und Interpretationen zurückzunehmen und sich zu öffnen für den geistigen Gehalt, das Subjekt des Kunstwerkes, das er zur Darstellung bringen will.

Mittel der Darstellung

Form

Jede eurythmische Aufführung verwendet zunächst die so genannten "Formen". Eine Form bestimmt, welche Gänge im Raum der Eurythmist zu welchem Zeitpunkt im Vortrag des Kunstwerks macht. Bei der Entwicklung der Form stehen das Kunstwerk und seine Interpretation im Mittelpunkt, das heißt, es wird versucht, die innere Dynamik des Kunstwerks durch Bewegungen im Raum abzubilden. So ist es im Bereich der Toneurythmie beispielsweise üblich, höhere oder lauterer Töne durch Gang nach vorne und tiefere oder leisere Töne durch Gang nach hinten zu betonen. Änderungen im Rhythmus der Musik werden durch schnellere oder langsamere Schritte dargestellt. Zumeist besteht die Gesamtdarstellung eines Kunstwerks aus mehreren Formen, in denen sich auch Wiederholungen und Variationen des Kunstwerks widerspiegeln. Auch können verschiedene Eurythmisten oder Gruppen zur gleichen Zeit unterschiedliche Formen laufen. Die verschiedenen Stimmen eines Musikstückes werden z.B. häufig von unterschiedlichen Gruppen dargestellt. Im Bereich der Lauteurythmie ist eine Strophen- oder Versweise Variation der einzelnen Gruppen und Formen häufig anzutreffen.

Gebärden

Neben der Form sind die Gebärden die zweite Grundlage der eurythmischen Darstellung. Die elementarsten Gebärden sind Bewegungen des eigenen Körpers in den sechs Raumrichtungen, also Aufrichten, Zusammenziehen und Beugen des Körpers. Diese Bewegungen werden überlagert von Bewegungen der Arme. Für diese gibt es eine Reihe von Hauptgebärden für Töne, Intervalle und Laute, die jedoch in ihrer Größe und Ausrichtung im Raum, in ihrer Reihenfolge und in der Verknüpfung untereinander vielfältig variiert werden können, sodass sich zusammen mit der Form eine Vielzahl von Bewegungskombinationen denken lässt, die dem Künstler Freiraum zur Interpretation gewährt.