Hedwig Richter

deutsche Historikerin und Hochschullehrerin
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 8. September 2020 um 11:06 Uhr durch Susanne Wosnitzka (Diskussion | Beiträge) (aktuelle Rezension beigefügt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Hedwig Richter (* 1973) ist eine deutsche Historikerin. Sie ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München.

Hedwig Richter (2017)

Beruflicher Werdegang

Nach dem Abitur absolvierte Richter ein Freiwilliges Soziales Jahr in Israel. Danach studierte sie Geschichte, deutsche Literatur und Philosophie an der Universität Heidelberg, der Queen’s University Belfast und der FU Berlin. Im Jahr 2008 wurde sie an der Universität zu Köln promoviert. Im selben Jahr war sie Postdoktorandin an der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Von 2009 bis 2011 war sie „Postdoctoral Fellow“ an der „Bielefeld Graduate School in History and Sociology“ der Universität Bielefeld. Von 2011 bis 2016 war sie wissenschaftliche Assistentin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. 2005 und 2011 war sie Fellow am Deutschen Historischen Institut Washington. Nach der Habilitation 2016 in Greifswald wurde sie zur Privatdozentin ernannt. Sie arbeitete ab 2016 am Hamburger Institut für Sozialforschung und vertrat im Sommersemester 2018 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg. Seit Januar 2020 hat sie eine W3-Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München inne.[1]

Ihre Forschung konzentriert sich auf die europäische Geschichte, die Geschichte der Vereinigten Staaten, Demokratie- und Diktaturforschung, Geschlecht, Migration und die Geschichte der Religion.[2]

Hedwig Richter schreibt unter anderem für die Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung,[3] Süddeutsche Zeitung[4] und die taz sowie für die Wochenzeitung Die Zeit.[5]

Forschung

Demokratie

Richter setzt sich in verschiedenen Arbeiten mit Demokratie auseinander, die sie als Elitenprojekt bezeichnet.[6] Insbesondere zu Beginn der Demokratiegeschichte um 1800 seien demokratische Praktiken wie Wahlen eher „von oben oktroyiert als von unten eingefordert [worden], und auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erwiesen sich moderne Wahlen zwar nicht immer, aber immer wieder als Elitenprojekt“.[7] In Moderne Wahlen argumentiert Richter, dass sich die Demokratiegeschichte nicht als eine Erzählung einiger weniger Länder wie den USA oder Großbritannien schreiben lasse, sondern nur als gemeinsame und transnationale Geschichte. Wahlen dienten in allen nordatlantischen Ländern häufig nicht nur der Legitimationsstiftung, sondern auch der Disziplinierung der Bevölkerung oder als Ritus der Zustimmung oder gar Unterwerfung der Bürger unter die Staatsmacht.[8] Die Habilitationsschrift von Richter, die in der Laudatio zum Anna Krüger Preis als „provokativ“ bezeichnet wird, ist auf Lob und Kritik gestoßen. Die Politikwissenschaftlerin Stine Marg sieht darin einen „Beitrag zum Verständnis der Geschichte der modernen Demokratie“ und „ein historisch fundiertes Argument für den ‚fiktionalen Charakter von Demokratie‘“. Marg kommt zum Schluss, Moderne Wahlen sei „nicht nur aus historischer, sondern auch aus aktueller politikwissenschaftlicher Perspektive ein lesenswertes Buch, das über die Entwicklung der Wahlpraxis und die Historizität vermeintlich tragender Säulen der gegenwärtigen demokratischen Prinzipien umfassend“ informiere.[9] Der Jurist Florian Meinel lobte das Buch in der Frankfurter Allgemeine Zeitung als „radikal antinormative Archäologie moderner Wahlverfahren“. Richter erzähle die „anderen, kleinteiligeren Geschichten des Wählens“.[10] Die Historikerin Heidi Mehrkens lobt in ihrer Rezension, dass das Buch Wahlen in eine breite politische Kulturgeschichte einbette.[11]  Für den Historiker Holger Czitrich-Stahl zeigt das Buch, „dass das Wahlrecht immer auch ein Ausdruck gewachsener und erkämpfter Kräfteverhältnisse“ sei.[12] Die Historikerin Nadine Zimmerli lobte es als „richly detailed book on the halting extension and enactment of suffrage rights on either Side of the Atlantic“.[13]

Der Historiker Hartwin Spenkuch von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften übte Kritik an Richters Thesen, „weil ihnen Verkürzungen realhistorischer Zusammenhänge zugrunde“ lägen.[14] Darüber hinaus bemängelt Spenkuch die „Zahl der Widersprüche, Sachfehler und kontrafaktischen Behauptungen“; zahlreiche Formulierungen Richters seien „gedankenlos oder gar grotesk“. In der Gesamtschau kennzeichne eine „widersprüchliche Uneindeutigkeit“ die Arbeit Richters. Die Journalistin Elke Schmitter kritisierte Richters 2020 erschienenes Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre im Spiegel unter der Überschrift „Geschichte als Soap“ als „Potpourri aus steilen Thesen und frommen Phrasen“.[15] Stephan Speicher preist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Richters Buch als „Optimismus, der sich auch von den aktuellen Krisenerscheinungen nicht einschüchtern lässt. Wer beobachtet, dass Demokratie mit Grenzziehung und Zähmung zu tun hat [...], der wird mit Vergnügen das Zusammenspiel der gedanklichen Motive verfolgen, auch dort, wo er womöglich zu anderen Schlüssen kommt.“[16]

Migration

Hedwig Richter spricht mit Blick auf Diskurse über die Arbeitsmigration nach Deutschland von einem „Opfer-Plot“. Er ist nicht nur blind für die transnationalen Verwicklungen des Migrationsprozesses, sondern er entmündigt auch die Migrantinnen und Migranten, denn diese ließen sich keineswegs naiv nach Deutschland locken.[17] Die Mehrheit der Arbeitsmigranten und -migrantinnen erhoffte sich schnelles Geld für einen sozialen Aufstieg in der Heimat – und zeigte sich empört, wenn jemand erwartete, dass sie länger als geplant in Deutschland bleiben sollte. Tatsächlich kehrten von 14 Millionen eingereisten Arbeitsmigranten 12 Millionen wieder zurück. Bis heute prägen der Opfer-Plot und die Konzentration auf die Integration die Diskussion über Migration und verbiegen die Perspektive, so Richter.[18]

Auszeichnungen

Hedwig Richters Dissertation Pietismus im Sozialismus wurde von der Universität Köln mit dem Offermann-Hergarten-Preis ausgezeichnet. Im Jahr 2018 erhielt sie für ihr Buch Moderne Wahlen den Preis der Demokratie-Stiftung.[19] 2020 wurde Richters Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre für den Bayerischen Buchpreis nominiert.[20] Hedwig Richter erhielt 2020 den Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin.[21]

Publikationen (Auswahl)

Monographien

  • Demokratie. Eine deutsche Affäre. C.H. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75479-1.
  • Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2017, ISBN 978-3-86854-313-1 (zugleich Habilitation, Univ. Greifswald 2016).
  • Die DDR (= UTB. Band 3252). Schöningh, Paderborn 2009, ISBN 978-3-8252-3252-8.
  • Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Band 186). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-37007-0 (zugleich Dissertation, Univ. Köln 2008).
  • mit Ralf Richter: Die Gastarbeiter-Welt. Leben zwischen Wolfsburg und Palermo. Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 3-506-77373-9.

Herausgeberschaften

Commons: Hedwig Richter – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Professur an der Universität der Bundeswehr München. Abgerufen am 1. Januar 2020.
  2. Forschung und Lehrschwerpunkte. Abgerufen am 1. Januar 2020.
  3. Vgl. etwa Wir Untertanen. Deutscher Sonderweg?, in: FAZ vom 22. Juni 2018.
  4. Vgl. etwa Streitbar. Das Ende der Demokratie droht?, in: SZ vom 13. August 2018.
  5. Vgl. etwa Schnaps für die Wähler, in: Die Zeit vom 7. November 2016.
  6. Hedwig Richter: Desinteresse und Disziplinierung. In: Geschichte und Gesellschaft. Band 44, Nr. 3, 5. September 2018, ISSN 0340-613X, S. 336–366 (vandenhoeck-ruprecht-verlage.com [abgerufen am 18. September 2018]).
  7. Moderne Wahlen. Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert. Hamburger Edition, Hamburg 2017, S. 10.
  8. Transnatioal reform and democracy: Election Reforms in New York City and Berlin around 1900, in: Journal of the Gilded Age and Progressive Era 15 (2016), S. 149–175. auf academia.edu, abgerufen am 28. Februar 2018.
  9. Frei, gleich, geheim? Abgerufen am 8. September 2020 (deutsch).
  10. Florian Meinel: Wie Stimmen gezählt werden, versteht sich nicht von selbst. So diszipliniert man das Stimmvieh: Hedwig Richter vergleicht die Geschichte des Wählens in Preußen und den Vereinigten Staaten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2017
  11. Rezension von Heidi Mehrkens, in Francia recensio, hg. vom Deutschen Historischen Institut Paris, 6.6.2019.
  12. Czitrich-Stahl Holger:, Rezension auf GlobKult. Politik Gesellschaft Kultur Geschichte, 8.10.2017.
  13. Rezension von Nadine Zimmerli, Germany History 36/4 (2018), 17.9.2018.
  14. SEHEPUNKTE - Rezension von: Moderne Wahlen - Ausgabe 18 (2018), Nr. 5. Abgerufen am 29. August 2018.
  15. Elke Schmitter, DER SPIEGEL: Steile Thesen, fromme Phrasen - DER SPIEGEL - Kultur. Abgerufen am 8. September 2020.
  16. Stephan Speicher: Wenn Elite und Masse zueinanderfinden. FAZ Nr. 207. Samstag 5. September 2020, S. 10.
  17. Hedwig Richter, Die Komplexität von Integration. Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland von den fünfziger bis in die siebziger Jahre, in: Zeitgeschichte-Online, November 2015.
  18. Hedwig Richter u. Ralph Richter, Der Opfer-Plot. Probleme und neue Felder der deutschen Arbeitsmigrationsforschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (2009), S. 61–97.
  19. Stiftungspreis der Demokratie-Stiftung der Universität zu Köln. Abgerufen am 1. Januar 2020.
  20. Bayerischer Buchpreis 2020 - Die nominierten Bücher: Sachbuch. Abgerufen am 4. September 2020.
  21. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin verleiht den Anna Krüger Preis für Wissenschaftssprache an Hedwig Richter. Abgerufen am 4. September 2020.