Kiemenlochtiere

Stamm im Reich Tiere (Animalia)
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Kiemenlochtiere
Systematik
Reich: Tiere (Animalia)
Unterreich: Vielzeller (Metazoa)
Abteilung: Gewebetiere (Eumetazoa)
Unterabteilung: Bilateria
Stammgruppe: Neumünder (Deuterostomia)
Stamm: Kiemenlochtiere (Hemichordata)
Klassen

Die Kiemenlochtiere (Hemichordata) bilden in der klassischen Systematik einen zur Stammgruppe der Neumünder (Deuterostomia) gehörigen Tierstamm. Ihr wissenschaftlicher Name bedeutet "halbe Chordatiere"; damit wird die traditionelle Ansicht wiedergegeben, dass sie die Urform der Chordatiere (Chordata), zu denen auch die Wirbeltiere (Vertebrata) zählen, darstellen.

Die systematische Stellung der Kiemenlochtiere ist heute jedoch umstritten: So werden neben den Chordatieren auch die Stachelhäuter (Echinodermata), zu denen z. B. die Seesterne (Asteroidea) oder Seeigel (Echinoidea) gehören, als stammesgeschichtliche Schwestergruppe in Betracht gezogen. Es gilt sogar zunehmend als wahrscheinlich, dass die Kiemenlochtiere keine monophyletische Gruppe bilden, d. h. nicht alle Nachkommen ihres gemeinsamen Vorfahrens umfassen. Weitere Angaben zu ihrem Verhältnis zu den anderen Gruppen der Neumünder finden sich im Abschnitt zur Stammesgeschichte am Ende dieses Artikels.

Anatomie

Kiemenlochtiere haben einen weichen wurmähnlichen, aber unsegmentierten Körper, der wie bei allen Bilateria zweiseitig symmetrisch aufgebaut ist und somit über eine eindeutig definierte Körperachse verfügt. Sie kommen in verschiedenen Farben von weiß bis dunkelviolett vor und können bis zu 2,50 m lang werden, andererseits finden sich aber auch nur millimetergroße Tiere. Charakteristisch ist die Gliederung des Körpers in drei Teile: Der vorderste Abschnitt ist der Kopflappen (Prosoma), der in der Klasse der Flügelkiemer (Pterobranchia) schildförmig geformt ist und daher auch als Kopf- oder Rostralschild bezeichnet wird. Darauf folgt ein kurzer Kragen (Mesosoma), in dem die Mundöffnung untergebracht ist und ein langer Rumpf (Metasoma). Die grundlegende Dreiteilung des Körpers setzt sich auch in der Leibeshöhle (Coelom) fort.

Insbesondere in der Klasse der Eichelwürmer (Enteropneusta) befinden sich im Rumpfabschnitt bis zu hundert für die Gruppe namensgebende Kiemenspalten, durch welche die Tiere atmen und an denen das durch den Mund eingesogene Wasser unter Rückhaltung der Nahrungspartikel wieder ausströmen kann. Sie verbinden den ersten Darmabschnitt, den so genannten Kiemendarm, mit der Außenwelt. Bei den Flügelkiemern dagegen sind entweder nur zwei paarig angelegte Kiemen vorhanden oder diese fehlen ganz.

Als Ausstülpung des Magens in den Mundlappen (Buccaltasche) entsteht bei den Eichelwürmern eine weitere charakteristische Struktur, das so genannte Stomochord. Früher galt es als möglicher Vorläufer des Notochords der Chordatiere. Da es mit diesem allerdings keine wesentlichen Gemeinsamkeiten aufweist und auch zu keinem Zeitpunkt als hydrostatisches Skelett dient, wird diese Ansicht heute wissenschaftlich kaum mehr vertreten.

Das offene Blutgefäßsystem der Kiemenlochtiere ist recht primitiv ausgebildet, nur im Kragen und Kopflappen befinden sich zwei echte Blutkanäle. Im Kopflappen liegt auch das sehr elementare "Herz", das lediglich aus einem einzigen zusammenziehbaren (kontraktilen) Blutgefäß besteht, das rückseitig (dorsal) ankommendes Blut in die bauchseitige (ventrale) Ader pumpt. Der Blutfluss ist also gerichtet (unidirektional).

Die Ausscheidung flüssiger Abfallstoffe geschieht hauptsächlich durch die Haut, darüberhinaus existiert ein Glomerulus genanntes Membransystem, in dem aus dem Herz einströmendes Blut nach und nach zu Urin gefiltert wird, der in die Leibeshöhle des Kopflappens entlassen wird und von dort durch eine Pore nach außen gelangt.

Das Nervensystem besteht im wesentlichen aus je einem bauchseitigen und rückseitigen Nervenstrang, die im Kopflappen und um den Darm herum ringförmig verbunden sind und Nervenenden in die Außenhaut (Epidermis) entsenden. Bei den Eichelwürmern verläuft der rückseitige Nerv in einer speziellen Falte im Kragen - dies wird manchmal als Homologie zum Rückenmark der Chordatiere angesehen.

Ernährung und Lebensraum

Kiemenlochtiere können sich auf zwei verschiedenen Wegen ernähren: Entweder graben sie sich durch das Sediment des Meeresbodens, d. h. sie nehmen Bodenschlamm auf und verdauen den darin enthaltenen organischen Inhalt, in etwa wie ein Regenwurm oder sie filtrieren frei im Wasser schwebende Nahrungsteilchen wie z. B. Algen. Sie leben daher meist in oder unterhalb der Gezeitenzone auf dem Grund des Meeres, zum Teil bis in Tiefen von 5000 Metern, und bilden dort oft U-förmige Wohnhöhlen. Nur wenige Arten leben im offenen Meer (pelagisch).

Fortpflanzung

Kiemenlochtiere haben getrennte Geschlechter, die sich allerdings äußerlich kaum unterscheiden. Aus den befruchteten Eiern entwickeln sich meist erst bewimperte Larven, die den Larven der Stachelhäuter ähneln und aus denen sich die erwachsenen Tiere entwickeln. Bei manchen Arten geschieht die Entwicklung allerdings auch direkt, d. h. ohne ein dazwischengeschaltetes Larvenstadium.

Neben der geschlechtlichen Fortpflanzung findet man auch die ungeschlechtliche: Dabei schnürt sich ein Jungtier in einem Knospung genannten Vorgang einfach vom genetisch identischen Elterntier ab. Daneben kann es auch vorkommen, dass ein Individuum einfach in zwei Teile zerfällt, die dann unabhängig voneinander fortbestehen.

Fossilien

Die ersten fossilen Funde von Kiemenlochtieren entstammen wahrscheinlich dem kanadischen Burgess-Schiefer, der im erdgeschichtlichen Zeitalter des Kambrium entstanden ist. Unumstrittene Fossilien aus der Klasse der Flügelkiemer sind aber auf jeden Fall aus dem Zeitalter des Ordoviziums bekannt. Eine heute ausgestorbene Gruppe von Kiemenlochtieren, die Graptolithen (Graptolithina) bilden sogar wichtige Leitfossilien für Ordovizium und Silur.

Systematik

Man unterscheidet in der klassischen Systematik drei Klassen noch heute lebender Kiemenlochtiere, dazu kommen die ausgestorbenen Graptolithen.

  • Die Eichelwürmer (Enteropneusta) umfassen 65 Arten in vier Familien. Sie leben als Einzeltiere und sind im Gegensatz zu den Flügelkiemern nicht mit Tentakeln ausgestattet. Ihre Größe variiert zwischen 2,5 und 250 Zentimetern. Die vier Familien sind:
    • Ptychoderidae
    • Harrimaniidae
    • Spengelidae
    • Saxipendiidae
  • Die etwa zwanzig Arten der Flügelkiemer (Pterobranchia) haben eine eher vasenförmige Körperform, verfügen über Tentakel und werden höchstens einen Zentimeter lang. Anders als die Eichelwürmer leben sie in Kolonien, in denen die Einzeltiere (Zooide) durch so genannte Stolons miteinander verbunden sind. Eine solche Kolonie ist oft von einem aus Kollagen bestehenden Netzwerk von Höhlungen umgeben. Man unterscheidet drei Familien:
    • Cephalodiscidae
    • Rhabdopleuridae
    • Atubaridae
  • Die Planctosphaeroidea enthalten nur eine einzige Art, Plantosphaera pelagica, von der allerdings nur die charakteristische rundliche Larvenform bekannt ist, die im freien Ozean lebt und bis zu einen Zentimeter groß werden kann. Formell wird sie einer Familie zugeteilt.
    • Planctosphaeridae

Die Graptolithen (Graptolithina) bilden darüber hinaus eine wichtige Gruppe ausgestorbener Kiemenlochtiere; ihre Fossilien sehen wie spiralig aufgewundene kleine Sägeblätter aus. Es wird vermutet, dass dies eine Anpassung an das Schweben im freien Ozeanwasser (ihre pelagische Lebensweise) darstellt.

Stammesgeschichte

Wie bereits zu Beginn erwähnt, gehen die Ansichten über die tatsächlichen stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Kiemenlochtiere teils weit auseinander. Für eine Gruppierung mit den Chordatieren sprechen die Kiemenspalten und das rückenseitig eingefaltete Kragenmark, dagegen das Fehlen einer inneren Segmentierung (von der Dreiteilung wird hier abgesehen) und eines hinter dem After gelegenen Schwanzes. Mit den Stachelhäutern vereinigt die Kiemenlochtiere dagegen in erster Linie ihre Larvenform; auch molekulargenetische Befunde werden aber für eine Verwandtschaft als gegenseitige Schwestergruppen angeführt.

Auch ob es sich bei den Klassen der Kiemenlochtiere um natürliche Gruppen handelt, ist umstritten: So gelten nach neueren molekulargenetischen Befunden die Eichelwürmer nicht mehr als monophyletisches Taxon, das heißt, einzelne Untergruppen sind vermutlich näher mit den Flügelkiemern verwandt als mit anderen Eichelwürmern. Sollte sich dies als korrekt herausstellen, wäre die Stammform der Kiemenlochtiere (und damit vermutlich auch der Chordatiere) kein filtrierender Organismus, sondern eher ein wurmähnliches Lebewesen gewesen.

Selbst ob die Kiemenlochtiere selbst monophyletisch sind, ist umstritten. Nach einem Modell bilden die Eichelwürmer die Schwestergruppe der Stachelhäuter:

Neumünder (Deuterostomia)
|--Chordatiere (Chordata)
|--N. N.
   |--Flügelkiemer (Pterobranchia)
   |--N. N.
      |--Stachelhäuter (Echinodermata)
      |--Eichelwürmer (Enteropneusta)

Ein modernes, aber nur auf morphologischen Daten basierendes Modell aus dem Jahr 2001 sieht die Kiemenlochtiere als vollkommen künstliches Taxon, dass nur nach primitiven Merkmalen zusammengewürfelt ist. Demnach werden dann nicht nur die Kiemenlochtiere, sondern auch einzelne Klassen aufgelöst und neu gruppiert: So bildet die Flügelkiemer-Familie Rhabdopleuridae dann die Schwestergruppe eines Pharyngotremata genannten Taxons, dass sich aus der Familie Cephalodiscidae und einem neuen Taxon Cyrtotreta zusammensetzt. Letzteres vereinigt dann die Eichelwürmer mit den Chordatieren.

Neumünder (Deuterostomia)
|--Stachelhäuter (Echinodermata)
|--N. N.
   |--Rhabdopleuridae
   |--Pharyngotremata
      |--Cephaldoscidae
      |--Cyrtotreta
         |--Eichelwürmer (Enteropneusta)
         |--Chordatiere (Chordata)

Diese Darstellung widerspricht allerdings wiederum modernen genetischen Befunden. Die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse müssen daher einstweilen als ungeklärt gelten.

Literatur

  • Anderson, DT (2001): Invertebrate Zoology, 2nd Ed., Oxford Univ. Press, Kap. 17, S. 418, ISBN 0195513681
  • Barnes, RSK, Calow, P., Olive, PJW, Golding, DW, Spicer, JI (2001): The invertebrates - a synthesis, 3rd ed., Blackwell, Kap. 7.2, S. 147, ISBN 0-632-04761-5
  • Brusca, RC, Brusca, GJ (2003): Invertebrates, 2nd Ed., Sinauer Associates, Kap. 23, S. 847, ISBN 0878930973
  • Goldschmid A (1996): Hemichordata (Branchiotremata), in Westheide, Rieger: Spezielle Zoologie Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere, Gustav Fischer Verlag Stuttgart, Jena.
  • Ruppert, EE, Fox, RS, Barnes, RP (2004), Invertebrate Zoology - A functional evolutionary approach, Brooks/Cole, Kap. 27, S. 857, ISBN 0030259827

Wissenschaftliche Literatur

  • Bromham, LD, Degnan, BM (1999): Hemichordates and deuterostome evolution: robust molecular phylogenetic support for a hemichordate plus echinoderm clade, Evolution and Development, 1, S. 166
  • Castresana, J, Feldmaier-Fuchs, G, Yokobori, S, Satoh, N, Päabo, S (1998): The mitochondrial genome of the hemichordate Balanoglossus carnosus and the evolution of deuterostome mitochondria, Genetics, 150, S. 1115
  • Halanych, KM (1995): The phylogenetic position of the pterobranch hemichordates based on 18S rDNA sequence data, Molecular Phylogenetics and Evolution, 4, S. 72
  • Henry, JQ, Tagawa, K, Martindale, MQ (2001): Deuterostome evolution: early development in the enteropneust hemichordate, Ptychodera flava , Evolution and Development, 3, S. 375
  • Tagawa, Satoh, Humphreys (2001): Molecular studies of hemichordate development: a key to understanding the evolution of bilateral animals and chordates. Evol. Dev. 3:443-454.
  • Winchell, CJ, Sullivan, J, Cameron, CB, Swalla, BJ, Mallatt, J (2002): Evaluating hypotheses of deuterostome phylogeny and chordate evolution with new LSU and SSU ribosomal DNA data, Molecular Biology and Evolution, 19, S. 762