Thalidomid

Schlaf- und Beruhigungsmittel, das zu Fehlbildungen der Gliedmaßen im Mutterleib führt
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 11. August 2006 um 16:40 Uhr durch Sven Jähnichen (Diskussion | Beiträge) (kat). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Thalidomid (alpha-Phthalimidoglutarimid) ist der Wirkstoff des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan, das Ende der 1950er Jahre zu zahlreichen schweren Schädigungen am ungeborenen Leben führte. Thalidomid ist eine chirale Verbindung, die in Form des racemischen Gemischs der beiden Enantiomere als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht wurde. Zunächst wurde angenommen, dass für die Fehlbildungen (die teratogene Wirkung) allein das (S)-Enantiomer verantwortlich sei und nur das (R)-Enantiomer die gewünschte beruhigende Wirkung hervorrufe. Da die Enantiomere bei Thalidomid im Körper allerdings racemisieren, kann keinem der beiden Enantiomere eine beruhigende bzw. teratogene Wirkung zugesprochen werden. Die Gabe eines reinen Thalidomid-Enantiomers hätte die Contergan-Katastrophe also nicht verhindern können.

Datei:Thalidomid strukturformel.png
Die beiden Enantiomere des Thalidomids

Geschichte

Das 1954 synthetisierte und vom 1. Oktober 1957 bis Ende 1961 von der Stolberger Pharmafirma Grünenthal vertriebene Beruhigungsmedikament Contergan führt, innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen, zu schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder sogar Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen der Kinder. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische, morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase hilft, wurde es Ende der 1950er Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Im Hinblick auf Nebenwirkungen galt es als besonders sicher, denn es war ein Schlafmittel, mit dem man sich nicht so leicht durch eine Überdosierung vergiften konnte. Mit Contergan Suizid zu begehen, war praktisch unmöglich, denn die tödliche Dosis war extrem hoch - im Gegensatz zu anderen Schlafmitteln. Der Zusammenhang zwischen der Häufung fehlgestalteter Kinder und der Einnahme von Contergan wurde vom Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz entdeckt.

Im Jahre 1964 fand ein israelischer Hautarzt, der einer Lepra-Patientin Contergan aus Restbeständen verabreichte, heraus, dass sich ihre Geschwüre am nächsten Tag deutlich zurückgebildet hatten. Bedingt durch diese Entdeckung, verschwand der Contergan-Wirkstoff Thalidomid niemals aus der Wissenschaft, sondern wurde weiter an Tieren erprobt und getestet.

Datei:Thalidomid - Enantiomeren-Umwandlung (Vorschlag).png
Ablauf der Umwandlung

Bei Thalidomid handelt es sich um eine stereochemisch aktive Verbindung, die als (R)- und (S)-Enantiomer enantiomerenrein hergestellt werden kann. Die Verbindung wurde als Racemat verkauft und führte zu schweren Fehlbildungen am ungeborenen Leben. Man vermutete zunächst eine teratogene Wirkung der (S)-Verbindung. Da jedoch beide Enantiomere im Körper nach wenigen Stunden racemisieren, wenn auch unvollständig, lässt sich keinem der Enantiomere eine teratogene bzw. beruhigende Wirkung zuschreiben. Dabei wandeln sich die Enantiomere ineinander um, und zwar unabhängig davon ob reines R- oder S-Enantiomer verabreicht wird; es stellt sich ein R/S-Verhältnis von ca. 1:1,7 ein. Die Geschichte vom „guten“ und „bösen“ Thalidomid-Enantiomer hat jedoch noch immer sehr viele Anhänger und ist in vielen renommierten Lehrbüchern und Journalen zu finden. Sogar das Nobel-Komitee macht davor nicht Halt: [1]. Es gibt zwar Hinweise darauf, dass bei ähnlichen Verbindungen das (S)-Enantiomer dennoch das wirksamere, d. h. das fruchtschädigende Enantiomer sein könnte, das in das Immunsystem eingreift. Aber selbst wenn man wüsste, dass nur eines der Enantiomere schädlich ist, würde das wenig nützen, da im Körper durch die Racemisierung immer beide Formen präsent sind.

Wirkungsmechanismus

Thalidomid blockiert den Wachstumsfaktor VEGF (vascular endothelial growth factor), wodurch es zu einer fehlenden Vaskularisierung in den Extremitäten des Embryos kommt. Dies führt zu einer verkürzten oder fehlenden Anlage der Arme und Beine.

Ausmaß der Schädigungen

Obwohl der Stolberger Herstellerfirma 1961 bereits 1.600 Warnungen über beobachtete Fehlbildungen an Neugeborenen vorlagen, wurde Contergan nach wie vor vertrieben. Zu jenem Zeitpunkt hatte es 46% des barbituratfreien Schlafmittelmarktes erobert. In der Zeit nach 1961, nachdem Contergan vom Markt zurückgezogen wurde, wurde es weiterhin an verschiedenen Tierarten getestet. Die Resultate waren größtenteils negativ oder zeigten keine vergleichbaren Fehlbildungen am Nachwuchs. Im Nachhinein zeigt sich hier die noch immer aktuelle Problematik der Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen. Da Ratten nicht thalidomidsensitiv sind, war bei ihnen auch keine sedierende Wirkung zu beobachten. Trotzdem kam es bei ihnen zu einer Häufung von Fehlgeburten, die als embryoschädigend hätten gedeutet werden können.

Ca. 5.000 contergangeschädigte Kinder wurden laut Bundesverband Contergangeschädigter in den darauffolgenden Jahren geboren. Andere Quellen sprechen von 10.000 Fällen weltweit, von denen 4.000 auf Deutschland entfielen, von denen die Hälfte bereits verstorben ist. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von während der Schwangerschaft gestorbenen Kindern.

Die Folgen des Wirkstoffs Thalidomid wurden unabhängig voneinander in Deutschland, Großbritannien und Australien entdeckt. Der deutsche Humangenetiker Widukind Lenz machte seine Erkenntnisse auf einem Kongress publik und löste dadurch den Skandal aus. Die Firma Grünenthal reagierte zunächst nicht auf die Warnungen. Die Markteinführung in den USA wurde von der Food and Drug Administration bis nach Entdeckung der Schädlichkeit verzögert und damit vereitelt, allerdings wurden dort aufgrund einer Testphase mehrere Dutzend Kinder mit Behinderungen geboren.

Der Bundesverband Contergan gibt weiterhin an, dass Grünenthal die rechtliche Verantwortung erst nach insgesamt zehn Jahre dauernden Prozessen im Dezember 1970 übernahm. Die Verantwortlichen von Grünenthal gingen straffrei aus: siehe Contergan-Skandal.

In das juristische Nachspiel hatte sich auch der Henkel-Konzern (Hersteller von Persil) in Gestalt des Dr. Konrad Henkel eingeschaltet. Dabei ging es nicht etwa um Medikamente, sondern darum, zu verhindern, dass in Deutschland ein Hersteller für schädliche und fehlerhafte Produkte in Haftung für dadurch entstandene Schäden genommen werden darf. Ein entsprechendes Urteil hätte wahrscheinlich einen Präzedenzfall gebildet.

In Deutschland wird geschädigten Menschen u.a. mit Leistungen durch die Conterganstiftung für behinderte Menschen geholfen. Ebenso wurde die Aktion Sorgenkind (heute: Aktion Mensch) aufgrund dieses Vorfalls gegründet.

Neue Indikationen

Erstmals wurde 1998 in den USA wieder geprüft, ob Thalidomid als Medikament zugelassen werden soll. Der Pharmakonzern Celgene stellte bei der US-Amerikanischen Food and Drug Administration einen Antrag. Thalidomid sollte das meistkontrollierte in den USA zugelassene Medikament sein. Ein Patient, der am von Celgene initiierten Thalidomid-Programm „S.T.E.P.S.“ teilnimmt, muss starke Auflagen akzeptieren und einhalten. Frauen beispielsweise unterliegen wöchentlichen, von Ärzten kontrollierten Schwangerschaftstests.

Weltweit wird Thalidomid hauptsächlich für die Behandlung von Multiplem Myelom und ENL (einer verschärften Form von Lepra) angewandt. Mit dieser Zulassung gelang es Ärzten auch, die Lebenserwartung von Menschen mit anderen Krankheiten wie Krebs und AIDS um ein Vielfaches zu steigern.

Eine Wiederholung der durch Thalidomid ausgelösten Körperbehinderungen gab es in Brasilien, wo das Mittel an Menschen mit Lepra ausgegeben wurde. Da die Rate der Analphabeten in Brasilien extrem hoch ist, missverstanden viele Frauen das Etikett, mit einer durchgestrichenen schwangeren Frau auf der Verpackung, als Antibabypille. Dadurch kam es in Brasilien zu einer neuen Generation schwer fehlgebildeter Kinder. Infolgedessen verbot Brasilien die Herausgabe von Thalidomid an Menschen im zeugungsfähigen Alter. Thalidomid ist unter Berücksichtigung der fatalen Nebeneffekte dennoch eine gute Alternative zur Behandlung mit Cortison und kommt deshalb in diesen Gebieten häufig zum Einsatz.

Außer in den USA ist Thalidomid zurzeit noch in Australien (seit Oktober 2003), Neuseeland (seit Dezember 2003), der Türkei (seit Juni 2004) und Israel (seit September 2004) zugelassen. In den USA, China, Japan, Korea und Taiwan wird Thalidomid durch die Firma Celgene vertrieben. Für alle übrigen Länder hat die britische Firma Pharmion die Vermarktungsrechte von Celgene erworben. Ein bei der EMEA für die Indikation „Erythema Nodosum Leprosum“ (ENL) eingereichter Zulassungsantrag wurde von Pharmion im Mai 2004 wieder zurückgezogen. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens hatte die EMEA im Januar 2003 erstmals Vertreter der Thalidomid-Opfer aus Großbritannien, Schweden und Deutschland nach London eingeladen um die Frage zu diskutieren, welche Schutzmaßnahmen im Zuge der Verbotsaufhebung getroffen werden müssten. Die Firma Pharmion beabsichtigt, auf Grundlage erweiterter klinischer Daten einen neuen Zulassungsantrag für die Indikation „Multiples Myelom“ einzureichen. Auch wenn Thalidomid von der EMEA bisher nicht zugelassen ist, wurde das Arzneimittel bereits im Dezember 2001 für das Anwendungsgebiet Behandlung des multiplen Myeloms als sog. Arzneimittel für seltene Leiden ausgewiesen und unter der Nummer EU/3/01/068 in das Gemeinschaftsregister für Arzneimittel für seltene Leiden eingetragen („orphan drug status“). In Europa vertreibt Pharmion Thalidomid seit 2003 nach dem sog. „Compassionate use“-Prinzip (Compassionate use ist die Anwendung eines Arzneimittels für eine schwerwiegende, lebensbedrohliche Erkrankung, für die es bisher keine oder nur unzureichende zugelassene therapeutische Alternativen gibt, vor seiner Zulassung.). Die Anwendung erfolgt dabei unter strengen Sicherheitsrichtlinien ähnlich denen des amerikanischen „S.T.E.P.S.“ Programms der Firma Celgene.

Die Befürchtung, dass Thalidomid durch Veränderung des Erbgutes auch nachfolgende Generationen schädigen könnte, hat sich nicht bewahrheitet. Die Kinder thalidomidgeschädigter Menschen sind von dem Thalidomid-Syndrom nicht betroffen.

Das Unternehmen Chemie Grünenthal GmbH, das einst Contergan produzierte, verschenkte Restbestände des Mittels noch bis Ende 2003 an Wissenschaftler. Die inzwischen in Aachen beheimatete Firma vertreibt heute jedoch kein Thalidomid oder Contergan mehr.

Literatur

  • Prof. Klaus Roth: Eine unendliche chemische Geschichte, Chemie in unserer Zeit 2005, 39(3), 212, Wiley-VCH-Verlag, ISSN 0009-2851.
  • Catia Monser: Contergan/Thalidomid: Ein Unglück kommt selten allein, Eggcup-Verlag, 1993, ISBN 3-930004-00-3 – Buch einer Betroffenen