Neue Sachlichkeit
Neue Sachlichkeit ist die Bezeichnung für eine Stilrichtung in der Malerei, Literatur und Architektur, die vor allem in den 1920er Jahren von Bedeutung war. Der Begriff wurde von dem Kunstkritiker Gustav Friedrich Hartlaub anlässlich einer retrospektiven Ausstellung 1925 in Mannheim geprägt. Die Neue Sachlichkeit lässt sich kunsthistorisch als Bindeglied zwischen Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus verstehen und übte starken Einfluss auf den Sozialistischen Realismus aus.
Stile in der Malerei
Die Neue Sachlichkeit wird meist in drei separate Strömungen unterteilt:
Verismus
Im Verismus gestaltet sich die Neue Sachlichkeit als eine politische Kunst, die sich kritisch mit der Gesellschaft der Weimarer Republik auseinandersetzt und mit sozialistischen und kommunistischen Zielen solidarisierte. Aber auch auf die andere Richtung, die Entwicklung einiger Künstler aus der Neuen Sachlichkeit in Richtung Nationalsozialismus, wird von Kunsthistorikern hingewiesen. Beispiele dafür sind z.B. in Österreich Sergius Pauser und Ernst Nepo.
Die wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit waren Otto Dix, Elfriede Lohse-Wächtler, Christian Schad, George Grosz, Conrad Felixmüller und Rudolf Schlichter. Die Veristen entwickelten einen der bekanntesten Topoi der Neuen Sachlichkeit in der Gestalt inhaltlich provokanter Darstellungen, häufig bis ins Groteske übersteigert, mittels altmeisterlicher Techniken.
Klassizismus
Die Entstehung der Neuen Sachlichkeit mit ihrem Rückgriff auf traditionelle Techniken und Malweisen gab auch einer politisch wenig interessierten Gruppe von Malern Raum, die sich formal von einer post-futuristischen Künstlergruppe um die italienische Zeitschrift Valori Plastici (u.a. Giorgio de Chirico) beeinflussen ließ. Ihre wichtigsten Vertreter waren Georg Schrimpf und Alexander Kanoldt, mit ihrem akademischen Stil gelten sie als die Idylliker der Weimarer Republik.
Magischer Realismus
Hauptartikel: Magischer Realismus
Die Unterteilung der Neuen Sachlichkeit in Veristen und Klassizisten nahm bereits Hartlaub bei der "Taufe" vor. Den Begriff Magischer Realismus hingegen führte Franz Roh ein. Anfangs noch konkurrierend zum Oberbegriff verwendet, wird damit heute eine dritte Strömung bezeichnet, die sich als eine Brücke zum Surrealismus verstehen lässt. Der bekannteste Vertreter des "Magischen Realismus" ist Franz Radziwill, weitere Vertreter sind Richard Oelze, Carl Grossberg, Herbert Böttger.
Bildende Künstler
- George Grosz
- Otto Dix
- Elfriede Lohse-Wächtler
- Conrad Felixmüller
- Grethe Jürgens
- Gerta Overbeck
- Curt Querner
- Franz Radziwill
- Heinrich Maria Davringhausen
- Carlo Mense
- Otto Griebel
- Rudolf Schlichter
- Georg Schrimpf
- Alexander Kanoldt
- Carl Grossberg
- Herbert Böttger
- Paul Kälberer
- Christian Schad
- Adolf Erbslöh
- Harald Schaub
- Rudolf Dischinger
- Wilhelm Heise
- Albert Renger-Patzsch
Neue Sachlichkeit in der Literatur
In der Literatur der Weimarer Republik versteht man unter Neuer Sachlichkeit eine Richtung, die sich nüchtern und realistisch abgrenzt vom Pathos des Expressionismus. An die Stelle emphatischer Wendungen und radikal-romantischer Bilder trat eine ernüchterte, oft kühl-distanzierte, beobachtende Haltung, die dokumentarisch-exakt und scheinbar gefühllos die moderne Gesellschaft darstellte, wobei häufig Alltagsdokumente in die Werke einmontiert wurden.
Die Beobachtung und Abbildung der äußeren Wirklichkeit wie die Konstruktion des Lebens auf der Basis von Fakten bestimmt die „neusachliche“ Literatur der 20er und 30er Jahre und schlägt über die Verwendung der „Montage“ die Brücke zum Film. Tendenz ist die Rückkehr zum verlässlichen Äußeren – die expressionistische Vorstellung vom visionären Dichter als „geistigem Führer“ scheint in einer durch den Krieg desillusionierten und dabei immer deutlicher vom Geist des technischen Fortschritts dominierten Welt nicht mehr adäquat. „Es handelt sich nicht mehr darum zu ‚dichten’. Das Wichtigste ist das Beobachtete.“ schrieb Joseph Roth 1927 im Vorwort seines Romans Die Flucht ohne Ende. Bereits hier entbrennt eine Diskussion über die Angemessenheit und Beschaffenheit dieser Sachlichkeit, die zwischen Vorwürfen der affirmativen Haltung und Bekräftigung ihres kritischen Potenzials schwankt. Während die einen die Wirkung der unmittelbar beobachteten „Krassheit“ der Realität betonen, kritisieren andere, dass ohne die verbindende und einordnende Instanz des Denkens überhaupt keine Erkenntnis über die Wirklichkeit zu erlangen sei.
Wesentliche Vertreter der neusachlichen Literatur sind neben anderen:
Joseph Roth
Hermann Hesse
Vicky Baum
Erich Kästner (Fabian)
Hermann Kesten
Anna Seghers
Ödön von Horvath (Geschichten aus dem Wienerwald)
Carl Zuckmayer
Hans Fallada (Kleiner Mann - was nun?)
Erich Maria Remarque (Im Westen nichts Neues)
Ludwig Renn
Irmgard Keun (Gilgi - eine von uns, Das kunstseidene Mädchen)
Walter Mehring
Gabriele Tergit (Käsebier erobert den Kurfürstendamm)
Adolf Uzarski
Walter Hasenclever
Marieluise Fleißer (Ein Pfund Orangen)
Thomas Mann (Mario und der Zauberer)
Heinrich Mann
Lion Feuchtwanger
Auch in den Werken Franz Kafkas, Bertolt Brechts, Franz Jungs, Alfred Döblins oder Arnold Zweigs treten Tendenzen der neusachlichen Richtung deutlich hervor.
Neue Sachlichkeit in der Architektur
Hauptartikel: Neues Bauen
Auch in der Architektur bezeichnet man wie in der Literatur mit der Neuen Sachlichkeit die Abgrenzung vom Expressionismus der ersten Nachkriegsjahre bis in frühen 20-er Jahre, meint damit insbesondere jene Werke, die später als Bauhausstil oder Bauhausarchitektur berühmt wurden. Zur Neuen Sachlichkeit gehören aber auch zahlreiche Bauten und städtebauliche Projekte von Architekten wie Bruno Taut oder Mies van der Rohe, wie etwa die Weißenhofsiedlung aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre. Zu den wichtigsten Propagandisten des Übergangs vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit oder dem sog. Rationalismus gehört der Kritiker Adolf Behne, dabei insbesondere seine 1925 erschienene Schrift Der moderne Zweckbau. Die Neue Sachlichkeit endet in Deutschland mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten mit ihrer entsprechenden Kulturpolitik, die unter anderem auch zur Schließung des Bauhauses und der Emigration vieler Vertreter dieser Richtung in die USA führt.
Der Begriff Neue Sachlichkeit verdankt seine Entstehung auch der Tatsache, dass es mit der Abkehr prominenter Künstler vom sog. Jugendstil vor dem ersten Weltkrieg in Deutschland bereits eine gewisse 'erste' Sachlichkeit in Architektur und Kunstgewerbe gegeben hatte. Die Ansätze zur formalen Vereinfachung im Kunstgewerbe wurden bereits auf der großen Dresdener Kunstgewerbeausstellung von 1906 erkennbar. Mit der Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 wurden in Ausstellungen und Publikationen die Begriffe "Sachlichkeit", "Zweckhaftigkeit" und "moderner Zweckstil" zusammen mit den ersten Ansätzen zu einem 'Industrial Design' in einer zunehmend breiteren Öffentlichkeit thematisiert. Das Ende dieser 'ersten' Sachlichkeit in der Architektur kann auf den Beginn des ersten Weltkrieges mit den ersten bereits sichtbar werdenden Ansätze des Expressionismus und im Zusammenhang mit den Streitigkeiten im Vorfeld der großen Kölner Werkbundausstellung 1914 datiert werden, wo sich in einer Art Richtungsstreit die Rebellion einer jungen Künstlergeneration (unter anderem Walter Gropius und Bruno Taut) gegen Hermann Muthesius ankündigte.
Literatur
- Hans Gotthard Vierhuff, "Die Neue Sachlichkeit - Malerei und Fotografie", Köln, 1980, ISBN 3770112202
- Emilio Bertonati, "Neue Sachlichkeit in Deutschland", Herrsching, 1988, ISBN 3881994475
- Jutta Hülsewig-Johnen, "Neue Sachlichkeit - Magischer Realismus", Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld, Bielefeld, 1990
- Martin Lindner, "Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne", Stuttgart, 1994, ISBN 3476009963
- Helmut Lethen, "Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen", Frankfurt/M., 1994, ISBN 3518118846
- "Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik", Hgg. Sabina Becker u. Christoph Weiß, Stuttgart, 1995, ISBN 347601276X
- K. Schröder, "Die Neue Sachlichkeit in Österreich", Ausstellungskatalog, Kunstforum Wien 1995
- Walter Müller-Wulckow, "Architektur 1900 - 1929 in Deutschland", Reprint und Materialien zur Entstehung. Reprints der vier Blauen Bücher "Bauten der Arbeit und des Verkehrs" (1929), "Wohnbauten und Siedlungen" (1929), "Bauten der Gemeinschaft" (1929) und "Die deutsche Wohnung der Gegenwart" (1932), Vorwort von Reyner Banham, (ausführliche Bibliographie, 182 Architekten-Bio-Bibliographien), Königstein/Taunus, 1999=1929-1932, ISBN 3784580416
- Sabina Becker, "Neue Sachlichkeit", 2 Bde, Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933), Bd. 2: Quellen und Dokumente, Köln, 2000, ISBN 341215699X
- Sergiusz Michalski, "Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933", Köln, 2003 ISBN 3822823708
- "Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzepts", Hgg. Moritz Baßler u. Ewout van der Knaap, Würzburg, 2004, ISBN 3826028120
- "Das wahre Gesicht unserer Zeit - Bilder vom Menschen in der Neuen Sachlichkeit", Ausstellungskatalog, Kunsthalle Kiel 2004, ISBN 3937208070