Gang nach Canossa
Als Gang nach Canossa bezeichnet man den Zug Heinrichs IV. von Speyer nach Canossa zu Papst Gregor VII. im Januar 1077, der den Zweck hatte, die Lösung seiner Person vom Kirchenbann zu erbitten. Deshalb wird heute der Gang nach Canossa im übertragenen Sinne als Bezeichnung für einen erniedrigenden Bittgang verwendet.

Die Vorgeschichte
Der Gang nach Canossa war ein wichtiger Meilenstein im Investiturstreit. Im 11. und 12. Jahrhundert stritten die durch den Kaiser vertretene weltliche und die vom Papst repräsentierte geistliche Macht um das Recht der Investitur, also um das Recht der Einsetzung von Bischöfen und Äbten in ihre Ämter.
Gregor bannt Heinrich
Papst Gregor VII. verhängte im Verlaufe des Investiturstreits den Kirchenbann über König Heinrich IV., da dieser, wie auch der Papst selbst, dieses Recht für sich beanspruchte. Nach damaliger und heutiger Lehre der katholischen Kirche steht das Recht, Bischöfe einzusetzen, allerdings nur dem Papst zu. Am Ende der Fastensynode 1076 bannte Gregor Heinrich mit den berühmt gewordenen Worten
- spreche ich König Heinrich (...) die Herrschaft über das Reich der Deutschen und Italiens ab, löse alle Christen vom Eid, den sie ihm geleistet haben (...) und untersage, dass ihm irgendjemand fortan als König diene (... und) binde ich ihn als Dein [i.e. Gottes] Stellvertreter mit der Fessel des Kirchenbannes.
Heinrich IV. unterlag also dem Kirchenbann. Dies bedeutet aus mittelalterlicher Sicht sowohl in spiritueller als auch materieller Hinsicht ein großes Maß an Handlungsunfähigkeit bzw. Vogelfreiheit. In spiritueller Hinsicht waren Heinrich alle kirchlichen Sakramente wie z.B. Heirat, Absolution, letzte Ölung und ein Begräbnis auf einem kirchlichen Friedhof verwehrt. Dies bedeutete aus der Sicht eines mittelalterlichen, gläubigen Menschen den Verlust seines ewigen Lebens nach dem Tod und die Unmöglichkeit der Wiederauferstehung.
Gleichzeitig bedeutete das Ausstoßen eines Menschen aus der römisch-katholischen Kirche im Mittelalter das Aufkündigen aller persönlichen und rechtlichen Bindungen zwischen der gebannten Person und seinen Untergebenen. Vasallen und Untergebene waren nicht mehr an ihren Lehnseid gebunden und hätten de facto ungestraft den gebannten Heinrich IV. gefangennehmen und töten können. Ein gegenüber einem König und zukünftigen Kaiser ausgesprochener Bann war dennoch etwas Aufsehenerregendes, nie da gewesenes, was Bonizo von Sutri in die ebenfalls berühmt gewordenen Worte fasste:
- Als die Nachricht von der Bannung des Königs an die Ohren des Volkes drang, erzitterte unser ganzer römischer Erdkreis
Die Reichsversammlung von Trebur
Durch den Partikularismus im Deutschen Reich nördlich der Alpen hatte der Adel gegenüber Heinrich IV. Machtpositionen aufgebaut, die weit über seine Lehnsrechte hinausgingen. Eine wie auch immer geartete Schwächung Heinrichs IV. hätte aus ihrer Sicht eine weitere Schwächung der Zentralgewalt dargestellt und partikulare Interessen vorangetrieben. In diesem Sinn ist der Investiturstreit auch ein Meilenstein in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und den von Norbert Elias in seinen Untersuchungen Über den Prozess der Zivilisation (Band 2) so bezeichneten „zentrifugalen Kräften”, d.h. dem Adel, der beharrlich daran arbeitete, sich in den vom König belehnten Herzogtümern auf Dauer festzusetzen, um so die Lehnsherrschaft des Königs aufzuheben. Der Adel baute im Laufe der Zeit seine entlehnten Gebiete durch die Installierung einer Verwaltung und Bürokratie mit Ministerialen zu dynastischen Territorien (siehe auch Territorialisierung bei Norbert Elias) aus und entzog sie so dem eigentlichen Lehnsherren, dem König. Der Investiturstreit zwischen Heinrich IV. und dem Papst bot ihnen die Gelegenheit, mit einem Schlag ihre Interessen sehr weit voranzutreiben.
Dennoch räumten die Fürsten auf der Reichsversammlung von Trebur im Oktober 1076 König Heinrich die damals übliche Frist von einem Jahr und einem Tag ein, um sich vom Bann zu lösen. Bis zum 2. Februar 1077 (ursprünglich schon am 6. Januar) sollte Heinrich sich vom Bann befreien und sich in Augsburg dem Urteil des Papstes unterwerfen.
Die Bußhandlung auf der Burg Canossa
Um seine volle Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, zog Heinrich dem Papst nach Italien entgegen. Die südlichen Herzöge versperrten ihm allerdings die von ihnen kontrollierten einfachen Alpenübergänge, so dass Heinrich den weiten und gefährlichen Umweg über Burgund und den Mont Cenis nehmen musste. Der anstrengende Alpenübergang wird von Lampert von Hersfeld eindrucksvoll beschrieben:
- Sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer; manchmal auch wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter, schließlich gelangten sie doch unter großer Lebensgefahr in der Ebene an. Die Königin und die anderen Frauen ihres Gefolges setzten sie auf Rinderhäute, und (...) zogen sie darauf hinab.
Heinrich und Gregor, der irrtümlich einen militärischen Angriff Heinrichs befürchtete, trafen schließlich auf der Burg Canossa der Mathilde von Tuszien aufeinander. Wiederum Lampert von Hersfeld beschreibt die Bußhandlung des Königs:
- (...) hier stand er nach Ablegung der königlichen Gewänder ohne alle Abzeichen der königlichen Würde, ohne die geringste Pracht zur Schau zu stellen, barfuß und nüchtern, vom Morgen bis zum Abend (...). So verhielt er sich am zweiten, so am dritten Tage. Endlich am vierten Tag wurde er zu ihm [Gregor] vorgelassen, und nach vielen Reden und Gegenreden wurde er schließlich (...) vom Bann losgesprochen.
Das Ausharren vor der Burg im Büßerhemd, mehrere Tage (25.-28. Januar 1077) auf der Erde, um den Papst zur Aufhebung des kirchlichen Bannes zu bewegen, stellt aus mittelalterlicher Sicht nur eine formale Bußhandlung dar, welche absolut gebräuchlich und streng formalisiert war. Aus mittelalterlicher Sicht stellt die Handlung Heinrichs IV. eine Alltagshandlung dar. Die sehr drastische und bildhafte Darstellung in der einzigen ausführlichen Quelle bei Lampert von Hersfeld wird allerdings von der neueren Forschung als tendenziös und propagandistisch bewertet, da Lampert Parteigänger des Papstes und der Adelsopposition war. Die zweite wichtige Quelle zum Gang nach Canossa stammt von Papst Gregor VII. selbst. Dieser verbreitete seine Version von den Ereignissen in einem Brief an alle Erzbischöfe, Bischöfe und sonstigen geistlichen Funktionsträger des Reiches. Nach der Darstellung Lamperts war der ganze Akt im Voraus langwierig ausgehandelt und sein Ablauf festgelegt worden, eine bei der deditio durchaus gängige Praxis der politischen Kommunikation im Mittelalter.
Die im Gegenzug zu erwägende militärische Alternative des Vorgehens gegen den Papst hätte realpolitisch der Position Heinrich IV. nicht genutzt, wenn denn überhaupt noch genügend Gefolgsleute Heinrichs IV. bereit gewesen wären, ihren gebannten Lehnsherren zu unterstützen, und hätte den partikularen Adligen nördlich der Alpen einen umso größeren Vorwand gegeben, gegen einen kirchlich Gebannten vorzugehen.
Die Folgen
Heinrich erlangte durch die Aufhebung des Bannes seine Handlungsfreiheit zurück und konnte später den Papst zur Flucht aus Rom zwingen. Langfristig allerdings wirkte der Canossagang Heinrichs zu Lasten des Königtums nach, denn der öffentlichkeitswirksame Bußgang festigte den päpstlichen Anspruch auf das Richteramt über weltliche Fürsten, nahm dem Königtum den Nimbus und verschob somit das Machtgefüge im Reich weiter zu Gunsten der deutschen Fürsten.
Spätere Interpretationen des Bußganges
Am 14. Mai 1872 wurde dieses Ereignis vom damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck in seiner Rede vor dem Reichstag mit dem Satz „Seien sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht - weder körperlich noch geistig.” aufgegriffen. Dem war ein Streit mit der katholischen Kirche vorausgegangen, der so genannte Kulturkampf, in dem der Papst den deutschen Gesandten beim Heiligen Stuhl abgelehnt hatte. Deshalb wird heute der "Gang nach Canossa" im übertragenen Sinne als Bezeichnung für einen erniedrigenden Bittgang verwendet. Allerdings entspricht diese Bewertung nicht den historischen Tatsachen, was in heutiger Sicht den wahren Sinngehalt des Canossa-Ganges Heinrichs IV. verstellt. Diese spätere Interpretation war eher anachronistisch, da die Probleme der eigenen Zeit in das Mittelalter projiziert wurden.
Quellen
- Lampert von Hersfeld: Analen. Darmstadt 2000. (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 13)
Literatur
- Egon Boshof: Die Salier. Kohlhammer Verlag, Köln 2000, ISBN 3-17-016475-9.
- Stefan Weinfurter: Canossa. Die Entzauberung der Welt. Beck, München 2006, ISBN 3-40-653590-9.
Weblinks
UNBEDINGT BEACHTEN: AUSTELLUNG IN PADERBORN