Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt
Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt (auch Europäische Dienstleistungsrichtlinie oder Bolkestein-Richtlinie genannt) ist eine geplante EG-Richtlinie zur Liberalisierung des EU-Binnenmarkts. Die Richtlinie soll nach ihrer Begründung bürokratische Hindernisse abbauen, den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen fördern indem die Europäische Union zu einer Freihandelszone für Dienstleistungen würde. Sie wird von der EU-Kommission, die den Vorschlag vorantreibt, als ein wichtiger Bestandteil der Lissabon-Strategie angesehen, die vorsieht, Europa bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu entwickeln.
Der ursprüngliche Entwurf der "Bolkestein-Richtlinie"
Der vieldiskutierte Vorschlag des ehemaligen EU-Binnenmarkt-Kommissars Frits Bolkestein vom 13. Januar 2004 (KOM (2004) 0002) sah die Beseitigung von zwischenstaatlichen Hemmnissen für den freien Handel mit Dienstleistungen und weitere Erleichterungen für niedergelassene Dienstleister (u.a. Schaffung einheitlicher Ansprechpartner, elektronische Verfahrensabwicklung etc.) vor. Der Anwendungsbereich des Richtlinienvorschlags war sehr weit: Erfasst werden sollten nicht nur klassische Dienstleister wie Frisöre, IT-Spezialisten, Dienstleister im Baubereich und Handwerker, sondern z.T. auch so genannte Daseinsvorsorgeleistungen wie Altenheime, Kinderbetreuung, Behinderteneinrichtungen, Heimerziehung, Müllabfuhr, Verkehrssysteme etc.), soweit diese im betreffenden Mitgliedstaat bereits unter Marktbedingungen erbracht werden. Maßstab sollte die Entgeltlichkeit der Dienstleistung sein, gleichgültig, ob das Entgelt durch den Endnutzer oder durch Dritte zu entrichten ist.
Den Mitgliedstaaten verbot der Entwurf eine Reihe von Regulierungen der Tätigkeit von Dienstleistern und stellte eine Reihe von weiteren Regulierungen unter Überprüfungs- und Rechtfertigungszwang. Nach dem Vorschlag der Kommission sollte ein Dienstleistungserbringer - von einigen in der Richtlinie u.A. in Art. 2 und 17 abschließend definierten Ausnahmen abgesehen - außerdem grundsätzlich nur noch den Gesetzen des Landes unterliegen, in dem er niedergelassen ist ("Herkunftslandsprinzip" - Art. 16 RL-Entwurf). Nach dem Willen der Kommission sollte dieser Vorschlag - wiederum von einigen ausdrücklich ausgenommenen Regelungen und Rechtsmaterien abgesehen - überdies grundsätzlichen Vorrang vor allen anderen europäischen Richtlinien und Verordnungen genießen.
Erste Diskussions- und Protestphase
Der Entwurf war in den Jahren 2004 und 2005 der Gegenstand einer allgemeinen und teilweise sehr kontrovers geführten öffentlichen Debatte mit vielen Mitwirkenden. Nach allgemeiner Einschätzung trug er wesentlich dazu bei, dass der Entwurf einer Europäischen Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde.
Analyse des parlamentarischen Kompromisses
Begleitet von großen europaweiten Demonstrationen der Richtlinienkritiker beschloss die Mehrheit von EVP und SPE im EU-Parlament schließlich am 16.2.2006 ein in letzter Minute zwischen diesen beiden Fraktionen zustande gekommenes Kompromisspaket mit insgesamt 213 Abänderungen des Kommissionsentwurfs. Unter anderem wurden Gesundheit, Verkehr, Sicherheitsdienste, das Arbeits-, Arbeitskampf-, Gewerkschafts- und Sozialrecht sowie Arbeits- und Gesundheitsschutz, Zeitarbeitsagenturen und einige Teilbereiche der öffentlichen Dienste vollständig von der Richtlinie ausgenommen. Die gleichfalls umstrittenen Artikel 24 und 25 der Richtlinie wurden vom Parlament gestrichen; diese beiden Artikel hätten effektive Kontrollen des Arbeitslandes gegenüber Entsendefirmen nach Einschätzung vieler Kritiker praktisch unmöglich gemacht.
In einer Reihe von weiteren Änderungen wurde die ursprüngliche Absicht der Kommission, der Richtlinie mit wenigen Ausnahmen absoluten Vorrang vor allen anderen europäischen Regelungen zu verschaffen, durch das Parlament teilweise in das Gegenteil verkehrt und insbesondere dem Internationalen Privatrecht (ROM I und ROM II-Abkommen) und der Entsenderichtlinie (96/71/EG) Vorrang vor der Richtlinie eingeräumt.
Das Herkunftslandprinzip
Der Hauptkonfliktpunkt, das Herkunftslandprinzip, wurde durch das "Prinzip des freien Dienstleistungsverkehrs" ersetzt, d.h. an die Stelle der Anwendung der Bestimmungen des Herkunftslands tritt die Bestimmung, dass das Zielland für eine freie Aufnahme und Ausübung der Dienstleistung zu sorgen hat, unabhängig von den Bestimmungen des Herkunftslands. Das bedeutet, dass das Zielland Dienstleistern aus anderen Mitgliedsstaaten überhaupt keine Beschränkungen auferlegen darf, d.h. selbst die Bestimmungen des Herkunftslands können nicht eingefordert werden und alle nicht-inländischen Dienstleister unreguliert wären.
Die nun in Artikel 16 verankerten Ausnahmen hinsichtlich öffentlicher Ordnung, Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz hatte die Kommission selbst im Artikel 17 (17) des ursprünglichen Kommissionsentwurfes - allerdings verknüpft mit besonderen Merkmalen des Ortes der Dienstleistungserbringung - bereits vorgesehen.
Das Parlament griff mit seiner Neuformulierung des Art. 16 nicht die wesentlich umfangreichere und nicht abschließende Liste der "zwingenden Gründe des Allgemeininteresses" auf, aus denen heraus der Europäische Gerichtshof die Anwendung des Bestimmungslandsrechts im Einzelfall jeweils für gerechtfertigt hielt. Zwar findet sich diese nicht abschließende Liste als Begriffsdefinition in Artikel 4 Ziffer 7a der Parlamentsfassung wieder, auf diese Definition wird jedoch in Artikel 16 nicht zurückgegriffen.
Dass das Herkunftslandsprinzip trotz der Entfernung des Begriffs erhalten blieb, wird von den führenden Verhandlern der EVP bestätigt. Der Verhandlungsführer EVP, also der Verhandlungsgegner von Frau Evelyne Gebhardt beim Aushandeln der vom Parlament angenommenen Änderungsanträge, der britische Konservative Malcolm Harbour, erklärte nach der Abstimmung im EU-Parlament wörtlich: "Das Herkunftslandsprinzip ist Teil der europäischen Rechts. Es ist weiterhin gültig. Die Arbeit der EVP-ED-Fraktion ... ebnete den Weg für dieses Resultat" (Euractiv, 17. 2. 2006). Ebenso erklärte der österreichische ÖVP-Abgeordnete Karas, der gleichfalls an den Verhandlungen beteiligt war, dass: "der Begriff Herkunftslandprinzip nicht mehr verwendet wird, aber das Grundprinzip bleibt" (Der Standard", 9. 2. 2006).
Standpunkt der Kommission zu den Änderungsanträgen des Parlaments
Am 4.4.2006 hat nun die Europäische Kommission einen geänderten Entwurf (KOM (2006) 160 vorgelegt. In ihm hat sie formal viele Änderungen des Parlaments übernommen, namentlich den geänderten Art. 16. An vielen anderen Stellen weicht der Kommissionstext allerdings vom Wortlaut der Parlamentsänderungen ab. Neben rein redaktionellen Änderungen der Parlamentstexte hat die Kommission dabei auch inhaltliche Änderungen vorgenommen. An anderen Stellen hat die Kommission zwar Änderungen des Parlaments in Bezug auf diesen Richtlinienentwurf formal übernommen, aber den ursprünglichen Inhalt in andere Dokumente überführt; so wurde z.B. die Streichung der Art. 24 und 25 in die geänderte Dienstleistungsrichtlinie übernommen, aber ebenfalls am 4.4.2006 eine Kommissionsmitteilung KOM (2006) 159 veröffentlicht, die erneut grosse Teile der gestrichenen Art. 24 und 25 enthält.
Weiterer Verlauf des Mitentscheidungsverfahrens
Der Rat der Europäischen Union hat sich am 29.5.2006 in erster Lesung auf einen "Gemeinsamen Standpunkt" (10003/06) geeinigt. Dieser orientiert sich weitgehend an dem geänderten Kommissionsentwurf vom 4.4.2006. Er enthält aber auch einige wichtige Abweichungen von dieser Kommissionsfassung. So wird im Gemeinsamen Standpunkt z.B. die Anwendung des nationalen Strafrechts gegenüber der geänderten Kommissionsfassung insoweit eingeschränkt, als dass Strafrechtsbestimmungen nicht angewandt werden sollen, "die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen" (Art. 1 Nr. 5 des Gemeinsamen Standpunktes). Auch Art. 1 Nr. 7 Satz 2 - der in der geänderten Kommissionsfassung noch ohne jeden Vorbehalt vorsah, dass das Tarifverhandlungs- und Streikrecht unberührt bleibt, wurde insoweit stark eingeschränkt, als dass diese Rechte nun nur noch dann von der Richtlinie unberührt bleiben sollen, wenn sie "unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts" angewandt werden. Insbesondere die mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten, UK und die Niederlande hatten sich für diese und weitere Änderungen im Rat eingesetzt. An ihrem Widerstand scheiterte aber andererseits die von einigen Akteuren geforderte grundlegende Überarbeitung derjenigen Artikel im geänderten Kommissionsentwurf, die sich mit der gegenseitigen Behördenzusammenarbeit bei der Kontrolle der Dienstleister befassen. Weitgehend unverändert übernahm der Rat die Kommissionsformulierungen zu den Artikeln 14 und 15, die bestimmte vorhandene nationale Regelungen bei der Niederlassung von Dienstleistern entweder verbieten oder unter einen Begründungszwang stellen und gegenüber der heutigen Rechtslage verschärfte Anforderungen für den Erlaß solcher Neuregulierungen auf nationaler Ebene vorsehen.
Sobald der Gemeinsame Standpunkt dem Europäischen Parlament im September 2006 offiziell übermittelt ist, wird sich das Europäische Parlament in zweiter Lesung damit befassen. Es hat nach der offiziellen Übermittlung drei Monate Zeit, evt. erneute Änderungsvorschläge zu beschliessen oder aber den Ratstext anzunehmen. Die Plenarabstimmung im Europäischen Parlament ist zur Zeit für November 2006 vorgesehen.
Finden sich mehr als 366 Stimmen für Änderung oder Abweisung des Vorschlags in dieser zweiten Lesung, so kann das Parlament die Richtlinie abweisen oder erneut ändern. Diese hohe Stimmenanzahl (mehr als die Hälfte der gewählten Europaparlamentarier) kann nur durch breite Koalitionen der größten Parlamentsfraktionen (Konservative und Sozialdemokraten) oder deren Übereinstimmung in einzelnen Punkten erreicht werden, denn von den aktuell 762 gewählten Parlamentariern sind selbst bei großen, wichtigen Abstimmungen nur wenig mehr als 500 Abgeordnete anwesend.
Sollte das Parlament mit dieser Mehrheit den Text ein weiteres Mal ändern, hätte der Rat in zweiter Lesung die Möglichkeit, das Ergebnis anzunehmen. Wenn er es nicht tut, käme es dann zu einem Vermittlungsverfahren, dessen Ergebnis Parlament und Rat einvernehmlich zustimmen müssten, anderenfalls wäre die Richtlinie gescheitert.
Kritik an der Richtlinie
Gewerkschaften und Globalisierungskritiker sehen auch mit den Änderungen des Parlaments weiterhin Bedenken, insbesondere durch den nochmals davon abweichenden Kommissionsentwurf.
Kritisiert wird weiterhin auch die Einschränkung der Kontrollmöglichkeiten des Arbeitslandes zur Durchsetzung seiner Mindeststandards bei Lohn, Arbeitszeit, Urlaub und Arbeitsschutz nach der Entsenderichtlinie 96/71 EG. Unternehmen, die ihre Beschäftigten grenzüberschreitend einsetzen („entsenden“), sollten sich nach dem Vorschlag im Arbeitsland nicht mehr anmelden müssen, brauchten dort keine Verantwortlichen mehr zu benennen und keine Arbeitspapiere mehr bereitzuhalten.
Herkunftslandsprinzip
Für viele Kritiker stellte der Vorschlag Bolkesteins ein Symbol für den neoliberalen Kurs der EU-Kommission dar. Sie befürchteten insbesondere eine Abwärtsspirale in der Regulierung und Kontrolle von Unternehmen im Dienstleistungsektor. Bezogen auf das Herkunftslandsprinzip wurde ein Wettlauf der Mitgliedstaaten befürchtet, in dem Unternehmen in das EU-Land mit den geringsten Standards und Kontrollen ausweichen.
Diese Regelung ist jetzt zwar ersetzt worden, jedoch gilt nun, dass das Zielland ohne Rücksicht auf die Regelungen im Herkunftsland keine Beschränkungen der Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungen anwenden darf. Damit wären alle Dienstleistungserbringer aus anderen Ländern als dem Zielland, die nicht in eine der Ausnahmen fallen, unabhängig vom Herkunftsland unreguliert.
Siehe auch
Weblinks
Offizielle Seiten und Dokumente:
- Seite der Europäischen Kommission zur Dienstleistungsrichtlinie
- www.dienstleistungsrichtlinie.de – Informationsseite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zur Richtlinie
Mitteilungen der EU-Kommission vom 4.4.2006:
- KOM (2006) 159: Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (PDF)
- KOM (2006) 160: Geänderter Kommissionsentwurf zur Dienstleistungsrichtlinie (PDF)
Stellungnahmen:
- IABInfoSpezial zum Thema EU-Dienstleistungsrichtlinie mit Veröffentlichungen, Forschungsprojekten, Institutionen und weiterführenden Links
- Info-Brief zur Dienstleistungsrichtlinie vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags (PDF)
- Auswirkungen auf den Bildungssektor – Diskussion im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestags
- http://www.euronews.net/create_html.php?article=339896&lng=3 – News bei Euronews zu den Protesten zur Bolkensteinrichtlinie
Kritiker der Richtlinie:
- www.dienstleistungsrichtlinie.at – Informationsseite Österreichischer Gewerkschaften
- http://www.dienstleistungsrichtlinie.dgb.de Deutscher Gewerkschaftsbund
- http://www.attac.de/bolkestein Attac Deutschland
- http://www.akweb.de/ak_s/ak493/30.htm ak – analyse+kritik (18. März 2005)
- http://www.stopbolkestein.org Stop Bolkestein: Möglichkeit, Petition zu unterzeichnen
- http://www.sahrawagenknecht.de/de/html/die_bolkesteinrichtlinie.php Sahra Wagenknecht, MdEP der Linkspartei.PDS, ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON).
- Auswirkungen der Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt auf das Bildungswesen – Hintergrundpapier der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Dezember 2004