Jack London erzählt in ’’Martin Eden’’ die Geschichte eines jungen, ungebildeten, ungehobelten jedoch weltklugen jungen Mannes, der sich heroisch um die Zuneigung eines Mädchens aus der gehobenen Schicht bemüht. Martin Eden glaubt, einzig durch das Erlangen von Bildung und Respekt würdig für die Liebe der jungen Ruth Morris zu sein. Er kann sich aber keine Schule und keinen Lehrer leisten und beschließt somit, sich selbst autodidaktisch zu unterrichten. Auf diesem Weg offenbaren sich ihm Geschichten, die es wert sind erzählt zu werden, Geschichten über sein eigenes Leben und das Leben anderer, Geschichten, die seine Erfahrungen aus einer gesellschaftlichen Schicht erzählen, die von Ruth, ihren Eltern, ihren Brüdern und derem sozialen Umfeld verpönt werden.
Martin lernt unbeirrt weiter und erlangt dadurch Ruths Zuneigung und Liebe. Er entschließt sich fortan lieber Schriftsteller als Bankangestellter, Lehrer oder Rechtsanwalt zu sein. Je größer seine Hingabe in der Verwendung des neu erlangten Wissens, der Verfeinerung seiner Sprache, Ausdruckskraft und Fähigkeit, seine fiktiven und autobiographische Geschichten zu erzählen, die seiner Vergangenheit als Seemann eine Stimme verleihen, und je größer sein Wissen in den weltlichen profanen Angelegenheiten, desto mehr entwickelt sich sein in ihm bis dahin schlummerndes Talent.
Die autodidaktische Selbstausbildung Martin Edens wird auf den Prüfstand gestellt, als er das erste Mal den lebhaften, gebildeten Freunden und Lehrern Ruths vorgestellt wird. Martin entdeckt, dass sein Wissen nicht nur Schritt halten kann mit jenen, die ihre Schulzeugnisse auf die übliche Art erlangt hatten, sondern ihm seine selbstständige Arbeit an seiner eigenen Bildung ein besseres Verstehen von Leben und Politik verliehen hat. Eden wird sogar noch überzeugter, dass er schreiben kann und das sich seine Geschichten verkaufen werden, kurz – dass er sich als Schriftsteller unterhalten kann. Er wird jedoch von seiner eigenen Familie, und noch schlimmer, nachdem Eden dieses autodidaktische Meisterwerk der Eigenbildung unternommen hatte, auch von Ruth und ihren Eltern entmutigt.
Martin kämpft um Ruths Unterstützung dadurch, dass er mit ihr seine Werke durchdiskutiert, sie auffordert ihre eigene kritische Intelligenz zu nutzen, um für sich selbst zu bestätigen, dass die Geschichten des Mannes der sie liebt, einen Wert haben und dass andere sie lesen werden. Eden setzt sein Schreiben fort, mit einem fast besessenen Selbstbewusstsein, das mit jedem Tag an dem die Herausgeber ablehnen seine Geschichten zu veröffentlichen, noch stärker zu werden scheint.
Mit jeder Stunde dem Schreiben gewidmet und dennoch ohne ein Publikum für seine Geschichten, wird Martin zum armen Mann und somit unakzeptabel für Ruths Umfeld. Es dauert nicht lange und Martin wird von Ruth, ihren Eltern und den sozial prominenten Freunden ihrer Familie zurückgewiesen. Seine Geschichten bleiben unveröffentlicht.
Doch gerade als die Ablehnung am Zerstörerischsten und seine Zukunft zutiefst gefährdet ist, kommt der ersehnte Schicksalsschlag. Eins von Martins obskuren Manuskripten, mit einem äußerst philosophischen Unterton und keinesfalls eines seiner besten Werke, wird veröffentlicht und freudig begrüßt. Er wird zum Autor um den sich nun die Herausgeber reißen. Jene die ihn am konsequentesten wiederholt abgelehnt hatten, bieten ihm nun nie gekannte Höchstpreise für seine Geschichten. Aber zu dieser Zeit hat er das schon Schreiben aufgegeben. Er ist durch die immer wieder kehrenden und finanziell bedingten Hungerphasen körperlich geschwächt, emotional ausgelaugt und zum Zeitpunkt seines Erfolgs ein geschlagener Mann. Seine Niederlage ist so vollkommen und wird von ihm so tief empfunden, dass ihn kein Erfolg mehr aufheitern kann. Er wird zu gesellschaftlichen Treffen sozial prominenter Bürger als Ehrengast eingeladen, kann jedoch die Erkenntnis nicht überwinden, dass es die ein und dieselben Menschen sind, die ihm vor seinem öffentlich anerkannten Erfolg als Schriftsteller aufgrund seiner unbedeutenden Herkunft und gesellschaftlicher Position ausgewichen sind.
Martin sagt, „sie akzeptieren mich nun für eine schon getane Arbeit“. Er wird jetzt ohne Vorbehalt von Ruth und ihrer Familie akzeptiert, für dieselbe Arbeit, die exakt gleichen Fähigkeiten und Geschichten, für die er vorher belächelt wurde, damals, als er noch als unbekannter Autor in der Armut zu ertrinken schien. Martin ist sich dessen bewusst, dass die Liebe und die Zuneigung von Ruth sich einzig auf seinen neuen Ruhm begründen können.
Martin Edens Erfolg ist zwar wohl verdient, aber die Erfahrung abgelehnt worden zu sein hilft ihm zur Erkenntnis über die Falschheit des Ruhmes. Martin weiß, dass die Abwesenheit seiner sozialen Akzeptanz, Ruth und die anderen in ihrem Umfeld blind gemacht hatte, um zu erkennen, was wirklich wertvoll ist. Ruth war erst in der Lage Martin zu lieben, nachdem der ganze Rest der Welt das bestätigt hatte, was ihre Bildung und das Bewusstsein ihrer Klasse nicht vorbereitet waren zu akzeptieren. Das das Gute und das Wahre keine Fragen der Veröffentlichungen und dadurch keine Frage des Wissensgrades der modernen Massengesellschaft ist.
Martin Edens Geschichte lädt ein, vorsichtig zu sein, unser Vertrauen naiv in das angebliche Wissen des Establishments zu legen. Herausgeber entscheiden was publiziert wird, doch Herausgeber sind ebenso kontaminiert mit Blindheit und Ignoranz, wie es auch Ruth und ihre Familie sind.
Die Moral der Geschichte über Martin Eden ist nicht, dass das Gute letztendlich gewinnen wird. Obwohl sich der Leser um Martin Edens willen ein Happy-End herbeisehnt, steuert Jack London seine Geschichte in eine ganz andere Richtung. Um der Heuchlerei und Scheinheiligkeit seiner Welt zu entkommen, segelt Martin Eden in Richtung einer Südseeinsel. Leise gleitet Martin Eden aus der Luke in das dunkle Wasser, während das Schiff seinem Ziel entgegensegelt.
Martin Edens Erfolg zeigt uns, wie wir beurteilen ob etwas gut ist und wie die Gesellschaft (insbesondere Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins) zu schädlichen und falschen Meinungen leiten, wenn man beurteilt, ob etwas (oder jemand) wertvoll oder wahrhaftig ist. Die Geschichte von Martin Eden, eine Geschichte über das Verlangen, über die Bildung und die Erkenntnis, über die Armut und die gesellschaftliche Unbewusstheit, ist eine Geschichte über die Ethik. Martin Eden versagt - indem er sein Ziel erreicht. Es ist ein Versagen unserer Welt, in der die Fähigkeiten und das Wissen nur dann akzeptiert werden, wenn sie von dem jeweiligen Establishment für richtig empfunden werden. Es ist nicht nur ein Problem, womit sich ein Schriftsteller auf der Suche nach seinem Publikum auseinandersetzt, sondern ein Problem, mit dem sich jeder von uns irgendwann einmal auseinandersetzen wird, indem er nach den anderen sucht, die die Wahrheit in seinen Worten erkennen können.