Stammeszeichen der Yoruba (yoruba: ila) sind Skarifizierungen (Ziernarben oder Narbentatauierungen), die zur spezifische Identifikation und Verzierung im Gesicht oder auf dem Körper der Angehörigen der Yoruba angebracht wurden. Die Stammeszeichen sind seit vielen Jahrhunderten Teil der Kultur der Yoruba und wurden gewöhnlich durch Einbrennen oder Einschneiden der Haut in der Kindheit abgebracht. Die primäre Funktion der Stammeszeichen war die Identifikation des Stammes, der Familie oder des patrilinearen Erbes einer Person. Andere sekundäre Funktionen der Zeichen waren dekorativer Art und Ausdruck der Kreativität der Yoruba sowie der Erhaltung schelmischer Kinder (ila Abiku). Diese Praxis war bei den Yoruba in Nigeria, Benin und Togo sehr verbreitet, wird aber in neuerer Zeit nicht mehr praktiziert.


Hintergrund
In traditionellen Yoruba-Gesellschaften wurde jedes Kind in einen patrilinearen Clan (yoruba: idile baba) geboren. Jeder Clan besaß gemeinsame Clan-Namen (orile), mündliche Überlieferungen (oriki), Tabus (eewo) und Stammes- oder Gesichtsmarken (ila). Die Gesichtsmarken des Kindes weisen ihm die vollen Clan-Mitgliedschaftsrechte zu. Kinder mit Gesichtsmarken wurden Okola genannt. Familien oder Einzelpersonen, denen die mit dem Stamm übereinstimmenden Merkmale fehlen, wurden nicht als vollwertige Mitglieder in der Yoruba-Gesellschaft angesehen. Ihnen wurde die Fähigkeit zu bedeutungsvollem Handeln, wie z. B. Grüßen, Befehlen oder Angeben abgesprochen. Jeder Stamm der Yoruba verwandte individuell unterschiedliche Motive, die an verschiedenen Stellen am Körper in unterschiedlicher Größe und Form erscheinen. Die Lage und Position der Motive hing vom jeweiligen Stamm und dessen Kultur ab. Die Stammeszeichen waren üblicherweise im Gesicht, konnten aber auf der Brust, dem Arm, dem Schoß oder dem Gesäß angebracht sein.
Während des transatlantischen Sklavenhandels wurden Stammeszeichen für repatriierte Sklaven wichtig, die darüber ihre frühere Stammeszugehörigkeit nachweisen konnten.
Stile
Die Stammeszeichen der Yoruba gab es in verschiedenen Stilen und Ausprägungen. Zu den wichtigsten gehörten Pele, Owu, Gọmbọ und Abaja, daneben gab es zahlreiche weitere wie Ture, Mande, Bamu oder Jamgbadi.
Pele
Der Pele-Stil bestand aus drei Längslinien, die auf beiden Wangen eingeschnitten waren.
Pele hatten viele verschiedene Varianten. Zu den Varianten gehören: Pele Ife, eine dreifache Längslinie auf der Wange, die den Ile Ife-Leuten eigentümlich waren. Pele Ijebu und Pele Ijesha waren weitere Varianten, die aus je drei kurzen Längslinien auf den Wangen gebildet wurden.
Owu
Die Stammeszeichen der Owu aus Abeokuta der Hauptstadt des nigerianischen Bundesstaates Ogun, bestanden aus sechs Einschnitten auf jeder Seite der Wangen. Der ehemalige Stammeshäuüptling und späterer Präsident Nigerias Olusegun Obasanjo trug ebenfalls Stammeszeichen der Owu.
Gọmbọ
Der Gọmbọ-Stil, auch bekannt als Kẹkẹ, besteht aus mehreren geraden und gebogenen Linien, die in Abständen von etwa einen Zentimeter voneinander entfernt auf den Wangen auf beiden Seiten des Mundes schnitten wurden. Die Einwohner von Ogbomosho im Bundesstaat Oyo identifizierten sich mit Stammeszeichen im Gombo- oder Kẹkẹ-Stil.
Abaja
Die Marken im Abaja-Stil konnten sowohl simpel oder als auch komplex ausgeprägter auftreten. In ihrer Grundform bestanden sie aus drei oder vier horizontalen Streifen auf den Wangen. Sie konnten aber auch aus zwölf horizontalen Linien, sechs Linien pro Wange bestehen. Sie wurden als Abaja Alaafin Mefa Mefa bezeichnet. Dieses Stammeszeichen ist einzigartig für die Ureinwohner von Oyo. Ein bekannter Träger eines Stammeszeichen im Abaja-Stil war Lamidi Adeyemi III, der Alaafin von Oyo.
Heutige Verbreitung von Stammeszeichen
Die Verwendung von Stammeszeichen als Mittel zur Identifizierung und Verzierung innerhalb der Yoruba ist nicht mehr die Norm. Einige Staaten haben die Anbringung dieser Zeichen an Minderjährigen verboten. Verstöße dagegen können mit Geldstrafen, Freiheitsstrafen, oder beidem geahndet werden. So ist im Bundesland Oyo dieses Verbot ein integraler Bestandteil des Kinderschutzgesetze, wonach niemand ein Kind tätowieren oder ein Hautabzeichen anbringen oder veranlassen darf, dass ein Kind tätowiert oder ein Hautabzeichen bekommt.
Ende der 2010er Jahre machte das Nigerianische Fotomodel Adetutu Alabi auf sich aufmerksam, die ihre traditionellen Stammesnarben auf den Wangen selbstbewusst präsentiert und als Teil ihres Markenzeichens trägt. Alabi lehnt die Anbringung von Stammeszeichen an Minderjährigen ab, auch sie hatte in der Vergangenheit deswegen unter Hohn und Sport zu leiden. Trotz dieses Makels gelang ihr eine Karriere als Fotomodell und sie wurde auch über die Grenzen Nigerias bekannt.[1]
Literatur
- Gesichtsmarkierungen — Ein „Ausweis“, der unter Nigerianern an Bedeutung verliert. In: Erwachet! 8. Januar 1999, S. 23–25 (jw.org [abgerufen am 29. März 2020]).
- Olanike Orie: The Structure and Function of Yoruba Facial Scarification. In: Anthropological Linguistics. Nr. 53, 2011, JSTOR:41472238 (englisch).
- James Odunbaku: The Use of Tribal Marks in Archaeological and Historical Reconstruction. In: Research on Humanities and Social Sciences. Nr. 6, 2012 (englisch).
Einzelnachweise
- ↑ Caroline Hoffmann: Nigeria: Gezeichnet durch Stammesnarben. In: Weltspiegel. DasErste, 12. Januar 2020, abgerufen am 29. März 2020.