Der Mithraismus oder Mithraskult war ein im Römischen Reich verbreiteter Mysterienkult, in dessen Zentrum die Gestalt des Mithras stand. Ob diese Gestalt mit dem persischen Gott oder Heros Mithra identifiziert oder aus ihr abgeleitet werden kann, wie bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts allgemein angenommen wurde, ist ungewiss.
In Kleinasien ist der Mithraismus seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. belegt. Die Römer übernahmen den Kult im 1. Jahrhundert n. Chr. Er erreichte seinen Höhepunkt im 2. und 3. Jahrhundert und unterlag im 4. Jahrhundert dem Christentum. Bei den Römern bekam Mithras auch den Beinamen Sol invictus (lat. "der unbesiegbare Sonnengott").
Der Mithraskult war zu seiner Blütezeit im ganzen Römischen Reich verbreitet. Die Mithras-Tempel werden Mithräen genannt und waren oft unterirdisch angelegt oder höhlenartig in Fels gehauen. Die Zeremonien fanden nicht öffentlich statt. Wie die übrigen Mysterienkulte der griechisch-römischen Welt kreiste auch der Mithraismus um ein Geheimnis, das nur Eingeweihten enthüllt wurde. Bei Eintritt in den Kult wurde jedes neue Mitglied zum strengsten Stillschweigen verpflichtet. Deshalb gründet sich unser Wissen über den Mithraismus nur auf die Beschreibungen außenstehender Chronisten und auf die zahlreich erhaltenen Bildwerke der Mithras-Heiligtümer.
Der Mithraismus erfreute sich vor allem unter den Legionären großer Popularität, umfasste jedoch auch sonstige Staatsdiener, Kaufleute und sogar Sklaven. Dagegen waren Frauen strikt ausgeschlossen. Die Organisation des Kults bestand aus sieben Weihestufen oder Initiationsebenen, die der Gläubige bei seinem Aufstieg durchlief.
Die Stiertötungsszene
Das Hauptmotiv auf Mithrasdenkmälern und Wandmalereien in Mithräen, die so genannte Tauroktonie oder Stiertötungsszene, zeigt Mithras beim Töten eines Stieres. Nach der mithräischen Mythologie hat Mithras diesen Stier verfolgt, eingefangen und auf seinen Schultern in eine Höhle getragen, wo er ihn zur Erneuerung der Welt opfert. Aus dem Blut und Samen des Stiers regenerieren sich die Erde und alles Leben.
Mithras wird als Jüngling dargestellt und ist mit einer römischen Tunika und einer phrygischen Mütze bekleidet. Er kniet in der Stiertötungsszene mit einem Bein auf dem Rücken des Stiers. Mit dem anderen Bein stemmt er sich ab, mit der linken Hand reißt er den Kopf des Stieres nach hinten und mit der rechten Hand tötet er das Tier durch einen Dolchstoß in die Schulter. Dabei wendet Mithras sein Gesicht vom Stier ab, ähnlich wie Perseus beim Töten der Medusa. Die Innenseite von Mithras' Mantel ist oft wie ein Sternenhimmel dekoriert.
Außer Mithras und dem Stier sind auf der Tauroktonie eine Reihe anderer Gestalten abgebildet: eine Schlange, ein Hund, ein Rabe, ein Skorpion, sowie manchmal ein Löwe und ein Kelch. Die Deutung dieser Gestalten ist umstritten: während der belgische Mithrasforscher F. Cumont in seinen Publikationen von 1896 und 1899 darin Gestalten aus der altiranischen Mythologie sah, deuteten andere Forscher vor allem in neuer Zeit diese als Sternbilder. Dabei entspricht der Stier dem Sternbild Stier, die Schlange dem Sternbild Wasserschlange, der Hund dem Sternbild Kleiner Hund, der Rabe dem Sternbild Rabe und der Skorpion dem Sternbild Skorpion. Der Löwe entspricht dem Sternbild Löwe und der Kelch entweder dem Sternbild Becher oder Wassermann. Am Nachthimmel zeigen die Plejaden im Sternbild Stier die Stelle an, an der der Dolch von Mithras in die Schulter des Tieres eindringt.
Ebenfalls werden in der Stiertötungsszene fast immer zwei Fackelträger namens Cautes und Cautopates dargestellt, wobei einer die Fackel nach oben und einer die Fackel nach unten hält. Diese symbolisieren die Tagundnachtgleichen: Cautes mit der erhobenen Fackel symbolisiert die Frühlings-Tagundnachtgleiche, Cautopates mit der gesenkten Fackel die Herbst-Tagundnachtgleiche. Die Fackelträger sind wie Mithras gekleidet und haben ihre Beine gekreuzt, was möglicherweise den Schnittpunkt des Himmelsäquators mit der Ekliptik am Frühlings- und Herbstpunkt symbolisiert.
Die gesamte Stiertötungsszene entspricht nach der Deutung des US-amerikanischen Religionshistorikers David Ulansey (siehe Literatur) die mit dem Himmelsäquator verbundene astronomische Konstellation, die vorlag, als sich der Frühlingspunkt im Sternbild Taurus befand.
Möglicher Ursprung
Die Römer glaubten, dass der Mithraskult aus Persien stamme, und diese Annahme teilten auch die meisten Religionshistoriker bis in die 1970er Jahre. Es wurde angenommen, dass die Römer den persischen Kult um Mithra übernahmen und adaptierten. Zweifelsohne ist "Mithras" die hellenisierte Form des Namens "Mithra", und viele Elemente des Mithraskults sind mit der persischen Kultur verbunden. Zum Beispiel gibt es den mithräischen Weihegrad "Perser", und Mithras selbst trägt in der Ikonographie das Gewand eines Persers. Jedoch zeichnet sich der römische Mithraskult durch Merkmale aus, die dem persischen Kult um Mithra völlig fehlen: die Weihestufen, die Geheimhaltung der Glaubenslehre, die Betonung der Astronomie, die höhlenartigen Tempel und die Stiertötungsszene. Das Motiv der Stiertötung existiert zwar in der altpersischen Mythologie (wie auch in vielen anderen antiken Kulturen). Aber es gibt keine Hinweise dafür, dass der iranische Licht- und Bündnisgott Mithra irgend etwas mit einer Stiertötung zu tun hatte.
Laut Plutarch wurde der Mithraskult von Seeräubern aus Kilikien den Römern überliefert. Nach Ulansey gibt es eine Theorie, dass der römische Stiertötungsgott Mithras gar nicht auf dem altiranischen Mithra basiert, sondern vielmehr eine Verbindung zum Gott und Sternbild Perseus hat. Möglicherweise geht die Entstehung des Mithraskults auf den Perseuskult in Tarsos zurück.
Der griechische Astronom Hipparch hatte um 128 v. Chr. die bedeutende Entdeckung gemacht, dass die Fixsternsphäre nicht unverrückbar fest ist, sondern insgesamt eine gewaltige und langsame Bewegung, die Präzession, durchführt. Gemäß heutiger astronomischer Auffassung ist die Präzession eine langsame Taumelbewegung der Erdachse (ein Zyklus dauert 25.920 Jahre). Von den Astronomen damals wurde sie als Bewegung des Himmelsäquators beobachtet, womit eine Verschiebung der beiden Schnittpunkte des Himmelsäquators mit der Ekliptik verbunden war. Durch Hipparchs Entdeckung wurde bekannt, dass sich der Frühlingspunkt, der zu Hipparchs Zeit im Sternbild Widder stand und im 1. Jahrhundert in das Sternbild Fische überging, in der vorhergegangenen Ära im Sternbild Stier befunden haben muss.
- Stierzeitalter: ca. 4000 v. Chr. bis ca. 2000 v. Chr.
- Widderzeitalter: ca. 2000 v. Chr. bis ca. 1. Jahrhundert n. Chr.
- Fischezeitalter: ca. 1. Jahrhundert n. Chr. bis ca. 2000 n. Chr.
- Wassermannzeitalter: ca. 2000 n. Chr. bis ca. 4000 n. Chr.
Es war naheliegend, den Untergang des Stierzeitalters durch die Tötung eines Stieres zu symbolisieren. Bei den Stoikern, die traditionell ein großes Interesse an Astrologie, Astralreligion und astronomischen Zyklen hatten, war es üblich, ein göttliches Wesen als die Quelle aller Naturkräfte anzusehen. Dabei bot sich der Gott Perseus durch seine astronomische Bedeutung besonders an, die Stiertöterfigur darzustellen, da sich sein Sternbild genau oberhalb des Stiers befindet. Da die Präzession (scheinbar) die gesamte Fixsternspäre bewegt, musste der ihr zugrunde liegende Gott mächtiger als die Götter der Sterne und Planeten sein. So ist die Entstehung eines Kultes um diesen "neu entdeckten Gott", der offenbar die größte Macht über den gesamten Kosmos hatte, plausibel.
Da Perseus aufgrund seines Namens mit Persien assoziiert wurde, ist es denkbar, dass er durch den einer persischen Gottheit, Mithra, ersetzt wurde. Zudem herrschte damals in Kleinasien der König Mithridates VI. Eupator, dessen Name "von Mithra gegeben" bedeutet und der seine Abstammung (in mystischer Weise) auf Perseus zurückführte. Auch durch diesen Umstand könnte Perseus mit Mithra assoziiert worden sein.
Mithras als Sonnengott
Viele antike Abbildungen zeigen Mithras gleichrangig mit dem Sonnengott Helios oder als Sieger über den sich ihm unterwerfenden Helios. Mithras bekam möglicherweise den Beinamen Sol invictus, d.h. "unbesiegte Sonne", um auszudrücken, dass er die Rolle des neuen Kosmokrators (Beherrschers des Kosmos) übernommen hatte, die vorher Helios besaß.
Auch der persische Gott Mithra war Jahrhunderte zuvor schon mit der Sonne gleichgesetzt und als Sonnengott verehrt worden.
Der löwenköpfige Gott
In der mithrischen Kunst wird häufig auch eine andere Göttergestalt dargestellt, deren Name und Bedeutung unklar ist. Sie stellt eine nackte, aufrecht stehende Menschenfigur mit Löwenkopf dar, um dessen Leib sich spiralförmig eine Schlange windet. Möglicherweise stellt auch diese Figur eine von Mithras unterworfene Macht dar, ähnlich wie Perseus die Gorgo/Medusa besiegte. Es wird vermutet, dass der löwenköpfige Gott die Ordnung des Kosmos in seiner Gesamtheit symbolisiert.
Bräuche im Mithraismus
Als Sonnengott wurde Mithras am Sonntag angebetet. Die Mithraisten feierten Abendmahlsfeiern (mit Brot und Wasser oder Wein), welche den Leib und das Blut des getöteten Stiers symbolisierten. Einmal im Jahr opferten die Mithras-Angänger symbolisch einen Stier. Die zwei großen mithräischen Jahresfeste feierten die Geburt des Sol Invictus am 25. Dezember (dem Abend der Wintersonnenwende nach dem Julianischen Kalender) und den Tod und die Auferstehung Mithras zur Frühlings-Tagundnachtgleiche.
Die sieben Initiationsstufen oder Weihegrade des Mithraismus sind:
- Corax (Rabe)
- Nymphus (Bräutigam)
- Miles (Soldat)
- Leo (Löwe)
- Perses (Perser)
- Heliodromus (Sonnenläufer)
- Pater (Vater)
Diese Weihegrade wurden auch den sieben Wandelgestirnen Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Sonne und Mond zugeordnet und waren eine Metapher für die Reise der Seele durch die Planetensphären zum Licht, zu den Fixsternen. Die Weihen waren von Zeremonien begleitet wie z.B. Bekränzungen, Handauflegungen, Handschlägen, Weihrauchopfern oder der Bestreichung der Zunge mit Honig. Der Neueintritt in den Mithraskult wurde mit einer Taufe (vermutlich mit Stierblut) vollzogen, später erfolgte die Vollmitgliedschaft und fortgeschrittene Mitglieder erreichten die Priesterweihe.
Mithraismus und Christentum
Es gibt einige interessante Parallelen zwischen dem Mithraismus und dem Christentum, und insbesondere zwischen der Figur des Mithras und Jesus von Nazareth. Beide Religionen entstanden etwa im gleichen Zeitraum und in der gleichen geographischen Region. Der Mithraismus war in der Tat einer der Hauptkonkurrenten des Christentums; beide Religionen kämpften um die Vorherrschaft im Römischen Reich. Nach einem oft zitierten Wort des Historikers Ernest Renan (Marc Aurèle ou la fin du monde antique, Seite 390) wäre die westliche Welt mithras-gläubig geworden, wenn das Christentum durch einen Zufall des Schicksals in seiner Ausbreitung gehemmt worden wäre.
Parallelen zwischen Mithraismus und Christentum:
- Mithras wurde von einem Vatergott ausgeschickt, um als Weltretter das Dunkle und Böse in der Welt zu überwinden.
- Mithras wurde von einer Jungfrau in einer Felshöhle (nach anderer Überlieferung in einem Stall) geboren; bei seiner Geburt waren Hirten und Tiere anwesend.
- Mithras hielt mit 12 seiner Anhänger ein letztes Abendmahl bevor er starb, wurde begraben, und auferstand von den Toten.
- Mithras wurde als "der Weg", "die Wahrheit", "das Licht", "der Sohn Gottes" und "der gute Hirte" bezeichnet, und wurde oft ein Lamm auf seinen Schultern tragend abgebildet.
- Als "Sol invictus" wurde Mithras mit einem Strahlenschein dargestellt (vgl. Heiligenschein).
- die Mithraisten glaubten an Himmel und Hölle, an ein Jüngstes Gericht, eine Auferstehung der Toten und eine Wiederkehr Mithras zur endgültigen Überwindung des Bösen.
- die Mithraisten feierten ein Taufritual zur Aufnahme in die Religionsgemeinschaft.
- die Mithraisten feierten wöchentliche Gottesdienste am Sonntag.
- die Mithraisten feierten ein Abendmahl mit Brot und Wasser oder Wein.
- das Kreuz war ein wichtiges mithräisches Symbol.
- die beiden größten mithräischen Feste feierten die Geburt Mithras am 25. Dezember und den Tod und die Auferstehung Mithras zur Frühlings-Tagundnachtgleiche (vgl. Weihnachten, Ostern).
- Der höchste Priester des Mithrakults wurde "Papa" genannt und trug als Amtszeichen eine rote phrygische Mütze (die "Mitra", der Vorläufer der Bischofsmütze), ein rotes Gewand, einen Ring und einen Hirtenstab, so wie auch die ersten christlichen Päpste.
Angesichts so vieler Parallelen liegt der Verdacht nahe, dass das frühe Christentum einige seiner Lehren und Bräuche aus dem Mithraismus entlehnt hat, um in der griechisch-römischen Kultur besser Fuß fassen zu können. Vertreter des Christentums streiten diesen Verdacht jedoch, mit Ausnahme des Datums des Weihnachtsfestes, ab. Religionshistoriker sehen rückblickend im Mithraismus in jedem Fall nicht nur einen Konkurrenten, sondern auch einen Wegbereiter des Christentums im Römischen Reich.
Es gibt auch deutliche Unterschiede zwischen dem Mithraismus und dem Christentum, u.a.:
- der Mithraismus basiert nicht auf dem Judentum.
- Mithras erlebt keine Passion, sondern tritt als unbesiegter Held auf.
- Zentrales Thema Opferung: Mithras opfert einen Stier, während Jesus "sich selbst" opfert.
- das Christentum ist kein astronomischer/astrologischer Kult.
- das Christentum ist kein Mysterienkult.
- das Christentum nahm auch Frauen in die Gemeinschaft auf.
Anders als das Christentum wurde der Mithraskult im Römischen Reich zunächst nicht verfolgt. Kaiser Aurelian (römischer Kaiser von 270 bis 275) machte den Mithraismus sogar kurzzeitig zur Staatsreligion. Erst 391, als das Christentum durch Kaiser Theodosius I. zur Staatsreligion wurde, wurde die Ausübung anderer Religionen bei Todesstrafe verboten. Als Folge davon ging der Mithraismus offenbar innerhalb kürzester Zeit unter. Viele Mithräen wurden in christliche Kirchen umgewandelt. Zum Beispiel steht der Petersdom in Rom und der Kölner Dom auf den Fundamenten eines Mithräums.
Seit dem 19. Jahrhundert ist immer wieder, insbesondere auch von Ernest Renan, auf auffallende Parallelen zwischen den Mysterien des Mithras und manchen Symbolen und Ritualen der Freimaurerei hingewiesen worden. Im freimaurerischen Schrifttum wird eine direkte historische Verbindung überwiegend abgelehnt.
Laut Meyers Konversationslexikon haben sich Reste mithräischer Bräuche in der armenischen Kirche erhalten. Armenien wurde 301 der erste christliche Staat der Welt, siehe auch Geschichte Armeniens.
Literatur
- David Ulansey: Die Ursprünge des Mithraskults, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1998, ISBN: 3806213100
- Reinhold Merkelbach: Mithras. Ein persisch-römischer Mysterienkult, Wiesbaden 1998
- Manfred Clauss: Mithras: Kult und Mysterien, München 1990
- Maarten J. Vermaseren: Mithras. Geschichte eines Kultes, Stuttgart 1965
- Franz Cumont: Die Mysterien des Mithra, Darmstadt 1963
- Eugen Lennhoff/Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikon, Wien 1932 (Nachdruck 1980)
- Franz Cumont: Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum. Teubner Verlag Leipzig und Berlin. 3. Auflage 1931
- Alfred Jeremias: Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, Leipzig 1913.
- Ernest Renan: Marc Aurèle ou la fin du monde antique, 3. Aufl. Paris 1882
Weblinks
- Mithraismus - Religion der Eingeweihten (Zusammenfassung)
- Weiterführende Links, Bilder und Infos
- "The Cosmic Mysteries of Mithras" von David Ulansey (in Englisch)
- "The Cult of Mithras" (in Englisch)
- "Mithraism - The Legacy of the Roman Empire's Final Pagan State Religion" (in Englisch)
- Website zur Wiederbelebung des Mithraismus (in Englisch)