Sozialdarwinismus

auf Gesellschaftssysteme grob vereinfacht übertragene Lehre darwinistischer Prinzipien
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Unter Sozialdarwinismus versteht man eine heute wissenschaftlich diskreditierte gesellschaftswissenschaftliche Theorie, welche die von Charles Darwin erkannten Prinzipien der natürlichen Selektion aus der Biologie auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Phänomene überträgt. Ihre Grundthesen waren bereits vor Erscheinen von Darwins bahnbrechenden Arbeiten im Umlauf. Sie erhielten durch ein Missverstehen seines Werks jedoch erstmals eine scheinbar seriöse wissenschaftliche Legitimation. Diesem Missverständnis hat Darwin in den frühen Arbeiten in sofern eine gewisse Basis gegeben, als er entgegen dem Inhalt seiner Arbeit, die eine eher passive Ausbreitung neuer Arten analysiert, sprachlich recht teleologisch formuliert, wenn er vom Kampf ums Dasein spricht.

Einer der frühen Vertreter des Sozialdarwinismus war der britische Philosoph Herbert Spencer. Er ging davon aus, dass menschliche Gesellschaften wie (nach damaligem Glauben) Populationen von Lebewesen einem Entwicklungsprozess unterliegen, in dem Erfolg und Überleben der Stärksten einer Generation - der von ihm geprägte Begriff war "survival of the fittest" - zur permanenten Verbesserung der Gruppe führt. Der Begriff des Stärksten konnte hier sowohl im direkten Sinne als auch metaphorisch z. B. im Sinne kultureller Überlegenheit verstanden sein.

Die Theorie wurde auf ökonomischer Ebene zur Rechtfertigung des uneingeschränkten Kapitalismus herangezogen: Die Klasseneinteilung der Gesellschaften des Industriezeitalters konnte dadurch als notwendiger Bestandteil eines natürlichen Entwicklungsvorganges angesehen werden, staatliche Maßnahmen zur Elendsminderung wurden folglich als künstlicher Eingriff in die natürlich gewachsene Ordnung abgelehnt. Als Grundlage dieser Anschauung diente eine als selbstverständlich angenommene streng kausale Beziehung zwischen wirtschaftlichem Erfolg und als angeboren angenommenen Eigenschaften wie Fleiß, Intelligenz, usw.

Auf gesellschaftlicher Ebene wurde der Sozialdarwinismus zur Rechtfertigung von Imperialismus und Rassismus bis hin zum Genozid herangezogen. Die Begründung ruhte hier auf der als natürlich angesehenen Vormachtstellung einer ethnischen Gruppe über eine andere, die nicht als Folge gesellschaftlicher Umstände, sondern als Folge einer grundsätzlicheren Überlegenheit der mächtigeren Gruppe gedeutet wurde.

Kritik

Heute gilt der Sozialdarwinismus als diskreditiert. In der Biologie selbst hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass evolutionäre Vorgänge nicht von einer Höherentwicklung begleitet werden, ja dass eine objektive Einteilung der Lebensformen in höhere und niedrigere Gruppen unmöglich ist. Genetische Untersuchungen haben die Existenz eines biologisch begründbaren menschlichen Rassenbegriffs , auf dem Rassentheorien und die nationalsozialistische Ideologie vom "Herrenmenschen" beruhten, ad absurdum geführt und die Verhaltensforschung hat gezeigt, dass der Begriff "survival of the fittest" als irreführend zu gelten hat, da nicht Überleben an sich, sondern die Zeugung möglichst vieler überlebens- und fortpflanzungsfähiger Nachkommen Grundlage biologischen Erfolges ist. Dazu zeigt sich, dass sowohl die von Sozialdarwinisten abgelehnte genetische Vielfalt als auch die Existenz altruistischer Verhaltensweisen in der Natur weitverbreitet sind und sich meist positiv auf die evolutionäre Fitness einer Art auswirken.

Schließlich muss schon die unreflektierte Übernahme einer an der Tier- und Pflanzenwelt orientierten Theorie zur Beschreibung menschlicher Beziehungen als ungerechtfertigt gelten. Von philosophischer Seite aus hat sich darüberhinaus grundsätzlicher Widerstand gegen die Gleichsetzung eines biologischen Ist-Zustandes mit einem moralischem Soll-Zustand erhoben. Der im Rahmen des Biologismus manchmal noch anzutreffende Versuch, aus der Natur Werte für die menschliche Gesellschaft abzuleiten, gilt heute als naturalistischer Fehlschluss ("naturalistic fallacy").

Sozialdarwinistisches Gedankengut wird heute mehrheitlich als amoralisch und antisozial angesehen, weil von allen moralischen Kategorien bei der Beurteilung einer Handlung abgesehen und eine Verbesserung sozialer Verhältnisse durch Eingriffe von außen ablehnt wird.

Von Teilen der Gesellschaft wird in der Theorie des Neoliberalismus, die in der zwischenmenschlichen und -staatlichen Konkurrenzsituation einen Schlüssel zu wirtschaftlichem Wachstum sieht, manchmal eine Wiederbelebung des Sozialdarwinismus gesehen. Befürworter des Wirtschaftsliberalismus lehnen diesen Vergleich als polemische Irreführung ab. Auch die Soziobiologie wird in diesen Zusammenhängen diskutiert.