Christian Boltanski (* 6. September 1984 in Paris) ist ein französischer Künstler, der vor allem durch seine Installationen bekannt wurde. In seinem Werk geht es immer wieder um die Verfälschung der Erinnerung und das Fragile unserer Lebensentwürfe.[1]

Er lebt und arbeitet in Malakoff bei Paris und ist der Bruder des Soziologen Luc Boltanski. Christian Boltanski ist mit der Künstlerin Annette Messager verheiratet.
Leben und Werk
Christian Boltanski, geboren kurze Zeit nach dem Ende der deutschen Besatzung im befreiten Paris als Sohn des ukrainisch-jüdischen Chefarztes Étienne Boltanski[2] (1896–1983) und Marie-Élise Ilari-Guérin. Seine Mutter stammte aus Korsika und war eine links eingestellte Katholikin[3].
Boltanski ist geprägt durch die Erinnerung an den Holocaust und setzt sich in seinen Arbeiten, die in den wichtigsten internationalen Kunstsammlungen zu sehen sind, intensiv mit der eigenen Vergangenheit und ihrer Rekonstruktion auseinander. 1967 begann er, Vitrinen mit Objekten wie Zuckerstücken, handgeformten Erdkugeln und Spielzeugwaffen auszustatten, um so eine typisch bürgerliche Kindheit fragmentarisch zu skizzieren. Nachdem er im Jahr 1968 erstmals ausgestellt hatte, versteigerte er 1972 persönliche Gegenstände, erstellte Inventare seines und des Lebens fiktiver Personen und bot diese verschiedenen Museen als Nachlass an. 1974 legte er Vitrinen für die Puppe eines Clowns an, mit dem er in Performances auftrat, und schuf diesem ein anthropologisches Museum.
Parallel zu den Ausstellungen mit persönlichen Gegenständen oder Erinnerungsstücken publiziert Boltanski pseudodokumentarische Rekonstruktionen seines Lebens. Das sind kleine Hefte (oder Beiträge in Kunstzeitschriften), wie etwa aus dem Jahre 1969 Recherche et présentation de tout ce qui reste de mon existence de 1944 à 1950[4] oder 10 Bilder aus der Kindheit von Christian Boltanski, gespielt am 12. Juni 1971. Die Versuche der Rekonstruktion der eigenen Biografie gehen so weit, dass er die Fotoalben von Freunden übernimmt und sie als Fotos seiner eigenen Familie deklariert.[5]
In den folgenden Jahren erlangte die Photographie in seinem Werk zunehmend an Bedeutung. In den 80er-Jahren warf Boltanski die Schatten von mysteriösen Papierfiguren an die Wände von Ausstellungsräumen. 1988 wurde ihm in den USA eine Retrospektive in sechs Museen gewidmet.
Er war Teilnehmer der Documenta 5 in Kassel im Jahr 1972 in der Abteilung Individuelle Mythologien, auf der Documenta 6 (1977) und der Documenta 8 im Jahr 1987 als Künstler vertreten.
In den 1970er Jahren arbeitete Boltanski wiederholt an den sogenannten Inventaren – Installationen, in welchen persönliche Gegenstände aus dem Besitz unbekannter, verstorbener Personen arrangiert und ausgestellt wurden. Die Photographien und Gegenstände findet er überwiegend auf Flohmärkten. In seiner Monographie (Ich ist etwas Anderes) charakterisiert Autor Armin Zweite diese Verfahrensweise als „[…] Klassifikation des Banalen und Nutzlosen, des Gebrauchten und Überflüssigen, des Obsoleten und Sentimentalen, die uns ebenso wie die museale Präsentation die Vermutung aufdrängt, dass alles dies für eine fremde Person Bedeutung hatte und in seiner Gesamtheit ihr physisches, psychisches, kulturelles und soziales Leben bestimmte, und zwar mehr als wir uns das normalerweise eingestehen.“[6]
Angesichts der Frage, in welchem Maße die ausgestellten und abgelebten persönlichen Gegenstände eines Menschen seine Identität widerspiegeln oder bezeugen, zwingen Boltanskis Inventar-Installationen den Betrachter zur Hinterfragung der eigenen Existenz, dem individuellen Charakterkern und dessen (notwendige/unnötige) Bindung an materielle Gegenstände.
Seit den 90er-Jahren beschäftigt sich Boltanski, das Konzept der Rekonstruktion der eigenen Kindheit konsequent weiterentwickelnd, auf allgemeinerer Ebene mit dem Thema Vergangenheit und Vergänglichkeit. Für den Neubau der Berliner Akademie der Künste bereitet er eine ständige Rauminstallation vor. Für das Reichstagsgebäude trug er 1999 die Installation Archiv der Deutschen Abgeordneten bei.[7] Er zählt zu den Künstlern der dezentralen Ausstellung Einstein-Spaces (2005), die vom Potsdamer Einstein-Forum kuratiert wird. Für das weitgehend unterirdisch angelegte Zentrum für Internationale Lichtkunst Unna hat Boltanski 2002 den Totentanz II geschaffen, eine Schattenspiel-Installation mit Kupferfiguren.[8]
Bei der RuhrTriennale 2005 leitete Christian Boltanski zusammen mit Andrea Breth und Jean Kalman das Projekt „Nächte unter Tage“. Im gleichen Jahr belegte er den 10. Platz im Kunstkompass-Ranking. 1994 wurde er mit dem Kunstpreis Aachen, 2006 mit dem Praemium Imperiale („Nobelpreis der Künste“) in der Sparte Skulptur ausgezeichnet.[9]
2008 beginnt Boltanski mit dem Projekt Les archives du coeur. Boltanski beschäftigt sich dabei mit Fragen, die sich jedem stellen – mit der Endlichkeit des Seins und mit den menschlichen Bemühungen gegen das Vergessen/das Vergessen-Werden.
2011 ist der gesamte Französische Pavillon auf der 54. Internationalen Kunstbiennale von Venedig mit einer Rauminstallation von Christian Boltanski gestaltet worden. Kurator ist Jean-Hubert Martin. Die Installation mit dem Namen Chance gliedert sich gemäß der Räumlichkeiten in vier Teile: Raum 1 The Wheel of Fortune; Raum 2 und 4 Last News of Humans und Raum 3 Be New. Außen um den Französischen Pavillon stehen die „Talking Chairs“. Chance funktioniert wie ein großer Einarmiger Bandit. Wenn ein Knopf betätigt wird und drei identische Teile des Teils Be New übereinstimmen, erhält man ein Kunstwerk von Boltanski.[10]
Am 1. November 2018 wurden zwei Installationen von Christian Boltanski in der Völklinger Hütte eröffnet: Die Zwangsarbeiter als Erinnerungsort für die über 12.000 Zwangsarbeiter in der NS-Zeit und Erinnerungen an die Hüttenarbeiter.
Zitate
Befragt zu dem Projekt Les archives du coeur, erläutert Boltanski: Der Herzschlag symbolisiert unsere Unruhe, die Zerbrechlichkeit, er ist gleichzeitig Selbstporträt und Spiegel unserer Endlichkeit. (Christian Boltanski in einem Gespräch mit H.P. Schwerfel)[11]
Ausstellungen (Auswahl)
- 1972: documenta 5
- 1975: Biennale de Paris
- 1986: Biennale in Venedig
- 1987: documenta 8
- 1993: Museum Ludwig Köln
- 1995: Kunsthalle Wien
- 2001: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl
- 2009: Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz
- 2009/2010: Kunstmuseum Wolfsburg, Gemeinschaftsausstellung: Ich zweifellos
- 2010: Grand Palais Paris, Monumenta.
- 2010: Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt am Main, Gemeinschaftsausstellung: MMK 1991-2011. 20 Jahre Gegenwart,
- 2012: Museu Serralves, Porto, "DANCE OF DEATH" (GUIMARÃES 2012)
- 2013: Kunstmuseum Wolfsburg: Christian Boltanski: Bewegt.
- 2019: Centre Georges-Pompidou: Christian Boltanski: Faire son temps.
Auszeichnungen
- 1994: Kunstpreis Aachen
- 1996: Rolandpreis für Kunst im öffentlichen Raum
- 2001: Goslarer Kaiserring
- 2001: Kunstpreis der Nord/LB
Literatur
- Angeli Janhsen: Christian Boltanski, in: Neue Kunst als Katalysator, Reimer Verlag, Berlin 2012, S. 62–66. ISBN 978-3-496-01459-1 Inhalt.
- Angeli Janhsen: Kunst sehen ist sich selbst sehen – Christian Boltanski, Bill Viola, Reimer Verlag, Berlin 2005.
- Peter Lodermeyer, Karlyn De Jongh & Sarah Gold: Personal Structures: Time Space Existence, DuMont Verlag, Cologne, Germany, 2009.
- Günter Metken: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Fiktive Wissenschaften in der heutigen Kunst. DuMont, Köln 1977, ISBN 3-7701-0945-6, S. 21–29.
- Günter Metken: Christian Boltanski. Memento mori und Schattenspiel. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-88270-460-8.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Alex Rühle: Im großen Textgehäuse. In: sueddeutsche.de. 30. Juli 2017, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Alex Rühle: Im großen Textgehäuse. In: sueddeutsche.de. 30. Juli 2017, ISSN 0174-4917 (sueddeutsche.de [abgerufen am 31. Juli 2017]).
- ↑ Munzinger-Archiv GmbH, Ravensburg: Christian Boltanski - Munzinger Biographie. Abgerufen am 31. Juli 2017.
- ↑ Ed. Givaudan, Paris, Mai 1969, Umfang: 9 Seiten. Zitiert nach AQ 13: Photos, Dudweiler 1973, o. S.
- ↑ AQ 13: Photos, Dudweiler 1973, o. S.
- ↑ A. Zweite: Ich ist etwas Anderes. Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts. DuMont Verlag, Köln 2000, ISBN 3-7701-5041-4, S. 36.
- ↑ Andreas Kaernbach: Archiv der Deutschen Abgeordneten, 1999, Metallkästen mit Aufklebern, Kohlefadenlampen. In: bundestag.de. Deutscher Bundestag, abgerufen am 30. September 2019.
- ↑ Christian Boltanski: Totentanz II, 2002, Aus der Reihe Théâtre d’Ombres
- ↑ domus: Christian Boltanski Jean Kalman. Fattore K, Interview von Hans Ulrich Obrist mit Christian Boltanski und Jean Kalman über Krawczyk, Kantor und ihre Visionen, ediert von Loredana Mascheroni, 21. Dezember 2005 (engl.)
- ↑ venise.pavillonfrancais.com ( vom 17. März 2013 im Internet Archive)
- ↑ Zitat, Zugriff 28. August 2012
Personendaten | |
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NAME | Boltanski, Christian |
KURZBESCHREIBUNG | französischer Künstler |
GEBURTSDATUM | 6. September 1944 |
GEBURTSORT | Paris |