Emetikum

Erbrechen herbeiführende Substanz
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 25. Juli 2006 um 16:39 Uhr durch 130.60.55.151 (Diskussion) (Literatur). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Ein Emetikum (von griechisch εμετικό [φάρμακο], emetikó [phármako] mit lateinischer Endung, wörtlich „das Brechreizende [Medikament]“, Plural Emetika) oder Vomitivum (aus lateinisch vomitus, „das Erbrechen“, Plural Vomitiva) ist eine Substanz, die reflektorisch oder direkt zentralnervös Erbrechen bewirkt. In kleinen Dosen dienen diese auch als Expektoranzien. Emetika werden auch allgemein als Brechmittel bezeichnet. Zwei Brechmittel sind in der heutigen Medizin gebräuchlich:

Anwendung bei medizinischer Indikation

Giftstoffe und Medikamente, die z. B. unabsichtlich verabreicht oder suizidal eingenommen wurden, können durch ein Emetikum wieder aus dem Magen der Patienten entfernt werden. Diese Maßnahme ist schneller und unproblematischer als eine Magenspülung (Magenentleerung mittels Magensonde). Allerdings darf es nicht nach Aufnahme gewebegängiger oder ätzender Flüssigkeiten angewendet werden, da dann eine zusätzliche Schädigung der Speiseröhre oder Mundhöhle nicht vermieden werden kann. In solchen Fällen ist stets einer Magensonde der Vorzug zu geben.

Anwendung bei strafprozessualen Maßnahmen

Liegt bei Personen der Tatverdacht nahe, dass diese Betäubungsmittel durch Verschlucken im Magen transportieren (so genanntes body stuffing), kann nach wohl herrschender Ansicht gemäß § 81a StPO eine Magenentleerung mittels eines Emetikums herbeigeführt werden, ohne dass dies gegen den Grundsatz, dass niemand sich selbst einer Straftat bezichtigen müsste, verstoße (Nemo-Tenetur-Prinzip). Die Verabreichung des Brechmittels erfolgt im Rahmen der körperlichen Untersuchung durch Ärzte, die eine vorliegende Kontraindikation gegen die Gabe (wie Bewusstseinsstörungen, alkoholisierter Zustand, akute Krankheitszustände, Erkrankungen in der Magen-Darm-Gegend und im Herz-Kreislauf-System) ausschließen müssen. Der Beschuldigte kann das Erbrechen freiwillig auslösen; gegen seine Weigerung wird das Emetikum durch eine Magensonde eingeführt.

Risiken

Todesfälle im Zusammenhang mit Brechmitteleinsätzen sind wiederholt beschrieben worden. Brechmittel können insbesondere beim Mallory-Weiss-Syndrom, bei schweren Magenschädigungen durch Karzinome und bei anderen Vorschädigungen im Speisetrakt gefährlich wirken. Unabhängig von Vorerkrankungen ist bei jedem Erbrechen eine Aspiration (Einatmen des Speisebreis), die Reizung des Nervus Vagus und ein Bolustod möglich. Es handelt sich dabei um eher abstrakte Gefahren, die gerade durch die Anwesenheit von Ärzten bei der Maßnahme verhindert werden sollen. Bei den bisher bekannten Todesfällen war nicht allein das Brechmittel todesursächlich, sondern das induzierte Erbrechen auf Boden bestehender Vorschädigungen führte zu tödlichen Komplikationen.

Rechtliche Bewertung

Juristisch ist die Maßnahme umstritten, da fraglich ist, ob diese das relativ mildeste Mittel bei der Strafverfolgung darstellt (Verhältnismäßigkeit). Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat dies verneint und diese Maßnahmen für unzulässig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat eine gegen die Maßnahme eingelegte Verfassungsbeschwerde 1999 als unzulässig abgelehnt (Beschluß vom 15. September 1999 - Az. 2 BvR 2360/95 -), hält aber die Verletzung der Menschenwürde durchaus für denkbar. Daraus folgt eine strenge Einzelfallprüfung bei Anwendung der Maßnahme.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den Einsatz von Brechmitteln mit Urteil vom 11. Juli 2006 für unzulässig erklärt. In einer 10-zu-7-Entscheidung befand der EGMR im Fall Jalloh v. Germany, dass Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention wegen Verstoßes gegen das Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung verletzt sei. Im selben Fall befand das Gericht in einer 11-zu-6-Entscheidung, dass die Verurteilung des Klägers aufgrund von Beweismitteln, die mit Hilfe des Brechmitteleinsatzes gewonnen wurden, gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK, das Recht auf ein faires Verfahren, verstoße. Gegen das Urteil ist keine Berufung möglich.

Zudem ist bei erzwungenen Brechmitteleinsätzen durchaus die Nähe zur Folter im Sinne der UN-Anti-Folter-Konvention gegeben, da das Legen einer Magensonde bei einem sich wehrenden „Patienten“ nur unter Anwendung erheblicher körperlicher Gewalt mehrerer Polizeibeamter gelingt. Buchstäblich erfüllt ist der Tatbestand der Folter nach den Vereinten Nationen aber (vordergründig) nicht, da es nicht um die Erpressung eines Geständnisses und offiziell auch nicht um „Bestrafung“ handelt (inoffiziell aber durchaus wenigstens um Abschreckung). Jedenfalls verstoßen die Brechmitteleinsätze gegen das Folterverbot aus Artikel 3 EMRK, welches weiter gefasst ist als das in der UN-Anti-Folter-Konvention statuierte Folterverbot, da es auch unmenschliche und erniedrigende Behandlung umfasst (s. o. dazu das EGMR-Urteil Jalloh v. Germany).

ethisch-politische Erwägungen

Weitere Probleme sind:

  • medizinische Eingriffe ohne Zustimmung des zurechnungsfähigen Patienten sind Körperverletzung; ebenso medizinisch nicht notwendige Eingriffe
  • die relative Nutzlosigkeit: selten reicht der reine Drogenanteil des sichergestellten Materials für eine längerfristige Haftstrafe aus
  • eine erfahrungsgemäß nicht greifende Abschreckung (teilweise unterzogen sich die gleichen Drogenverteiler drei oder mehr Male der Prozedur)
  • sowie das ethisch-moralische Spannungsfeld für den Mediziner, der eine nicht ganz komplikationslose invasive Maßnahme an einem Gesunden und kaum Gefährdeten durchführt, ohne, wie sonst in der Medizin üblich, sich darauf berufen zu können, die Komplikationsrate des medizinischen Handelns wegen einer wahrscheinlicheren Gesundheitsverschlechterung des Kranken in Kauf zu nehmen: Die üblicherweise aus dem Magen gewonnenen Drogenpakete sind kleine, hart gepresste und mehrfach eingeschweißte Kokain-Kügelchen oder Crack-Steine, die im Gegensatz zu den größeren, beim „klassischen“ body stuffing (im Enddarm) verwendeten Folientütchen höchst selten undicht werden.
  • der Vorwurf des mindestens strukturellen Rassismus: Erfahrungsgemäß greife die Polizei deutlich häufiger Schwarze oder andere Menschen dunkler Hautfarbe auf, die dann auch überproportional häufig den Brechmitteleinsätzen unterzogen würden.

Eine denkbare Alternative wären spezielle „Drogenklos“, welche die vermuteten Betäubungsmittel nach der natürlichen Magen-Darm-Passage aufnehmen können, wie dies z. B. in der Untersuchungshaftanstalt in Hamburg bereits geschieht. Nachteilig sind hierbei die ggf. lange Wartezeit, die mit der maximal zulässigen Zeit des Polizeigewahrsams kollidieren kann und das Risiko des sofortigen Wiederversteckens nach Ausscheidung.

Im Januar 2005 beendete das Bundesland Bremen den umstrittenen Einsatz von Brechmitteln bei festgenommenen Drogendealern. Darauf einigten sich die Spitzen der Großen Koalition und beendeten damit eine Regierungskrise, die nach dem Tod eines Dealers begonnen hatte. Insofern folgt diese Entscheidung den Obergerichten, als nicht anzunehmen ist, dass eine neutrale Einzelfallprüfung gewährleistet werden kann.

Missbrauch bei Essstörungen

Bei schweren Formen von Bulimie setzen Erkrankte auch Brechmittel ein, um nach einem Essanfall den Magen schnell wieder zu entleeren, ähnlich wie Magersüchtige gelegentlich Abführmittel zum schnellen Abnehmen einnehmen. Beide Medikamentengruppen haben bei wiederholter Anwendung, gerade bei missbräuchlicher, Elektrolytverschiebungen (abnorme Zusammensetzung der Blutsalze) zur Folge und sind damit über mögliche Provokationen von epileptischen Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen potenziell lebensbedrohlich.

Literatur

  • K. Gaede Deutscher Brechmitteleinsatz menschenrechtswidrig: Begründungsgang und Konsequenzen der Grundsatzentscheidung des EGMR im Fall Jalloh, HRRS 2006 S. 241 - 241 [1]
  • D. Bachmann, K. Püschel, B.-R. Sonnen, Zwei Jahre Brechmitteleinsätze in Hamburg, Kriminalistik 2004, S. 678 - 683
  • OLG Frankfurt NJW 1997, S. 1643 - 1649
  • Bundesverfassungsgericht 2 BvR 2360/95, Beschluss vom 29. September 1999 [2]
  • J. Dallmeyer, Verletzt der zwangsweise Brechmitteleinsatz gegen Beschuldigte deren Persönlichkeitsrecht?, StV 1997, S. 606 - 610
  • K. Püschel, F. Schulz, S. Iwersen, A. Schmoldt, Tod nach Verschlucken von Rauschgift, Kriminalistik 1995, S. 355 - 358
  • P. Dervishaj, E. Zünbül, Zwei Tote sind mehr als genug, Forum Recht (FoR) 2005, S. 56 - 59

Siehe auch

Antiemetikum, Laxans